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Christian Christen / Tobias Michel / Werner Rätz

Sozialstaat:

Wie die Sicherungssysteme funktionieren und wer von den "Reformen" profitiert
AttacBasisTexte 6

96 Seiten | Text nicht mehr lieferbar | siehe AttacBasisTexte 33 | 2003 | EUR 6.50 | sFr 12.00
ISBN 3-89965-005-0 1

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Nach der "Hartz-Kommission" folgt nun die "Rürup-Kommission", mit der das Gesundheitssystem und die Alterssicherung "saniert" werden sollen. Was soll da unter neoliberalen Vorzeichen abgeräumt bzw. umgestaltet werden?


Das "schöne Leben" ist vorbei, die öffentlichen Kassen sind überfordert, der Sozialstaat am Ende. Wir müssen mit harten Einschnitten rechnen – so tönen tagtäglich die Massenmedien. Schaut man genauer hin, ergibt sich eine ganz andere Diagnose: Von einer massiven Verteuerung des Sozialstaats kann ebensowenig die Rede sein wie davon, dass man mit einer "kapitalgedeckten Rentenversicherung" das Altern der Gesellschaft in den Griff bekommen könne.

Tatsache ist: Die soziale Schieflage ist letztlich Ergebnis politischer Entscheidungen. Immer weniger wird der technische Fortschritt und die steigende Produktivität dazu genutzt, um den sozialen Fortschritt zu erhöhen. Und immer mehr wird ein selbstbestimmtes Leben durch die Risiken, die mit Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit verbunden sind, eingeschränkt. Haben Sozialstaatsverteidiger eine Chance, gegen die durch die Medien bestärkten Vorurteile anzugehen?

Die Themen:
– Krise des Sozialstaates und Globalisierung
– Grundlagen des Sozialstaats
– Von Bismarck und Beveridge
– Über gesellschaftliche Solidarität und individuelle Freiheit
– Kapitaldeckung versus Umlageverfahren
– Herstellung von Generationengerechtigkeit
– Alternativen zum sozialen Kahlschlag

Christian Christen ist Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac; Tobias Michel ist Betriebsrat im Essener Krupp-Krankenhaus und arbeitet in der AG Soziale Sicherungssysteme von Attac; Werner Rätz ist Mitarbeiter der Informationsstelle Lateinamerika (ila) in Bonn und vertritt sie im Koordinierungskreis von Attac.

Rezensionen

Deutschlandfunk: Politische Literatur

Glaubt man den Parteiführungen und der Mehrheit der etablierten Medien, so ist der Abbau sozialer Rechte und Errungenschaften ein Sachzwang. Mit Basta-Mentalität wird da verkündet: Alternativen gibt es nicht; wer das nicht einsieht, ist ein Traditionalist, ein Betonkopf und Besitzstandswahrer zu Lasten... ja zu Lasten von wem oder was eigentlich? Und wo kommen eigentlich die Arbeitsplätze her, die der Aufschwung durch Sozialabbau angeblich verheißt? Sind es genug für alle und sind es tatsächlich Arbeitsplätze mit Perspektive und finanzieller Absicherung oder Jobs, die für ein paar Monate gut sind und nicht einmal so viel abwerfen, dass ein Mensch davon in einer reichen Gesellschaft wie der unseren angemessen leben kann? Mit der Frage, wie die Sicherungssysteme eigentlich im deutschen Sozialstaat funktionieren und wer von den geplanten sogenannten Reformen profitieren wird setzt sich ein Buch von drei Experten auseinander, die alle dem Netzwerk Attac nahe stehen, dass zum Sammelbecken der Kritiker einer Globalisierung nach neoliberalem Muster geworden ist. Das Buch erscheint gerade rechtzeitig zur politischen Debatte über den Abbau der Sozialen Sicherungssysteme. Die drei Autoren, der Wirtschaftswissenschaftler Christian Christen, der Betriebsrat des Essener Krupp-Krankenhauses, Tobias Michel, und Werner Rätz, Mitglied im bundesweiten Koordinierungskreis von Attac, demontieren die ideologischen und ökonomischen Prämissen der Agenda 2010 und der Rürup-Kommission. Zwei Argumente, so stellen die drei Autoren heraus, werden immer wieder von der Bundesregierung, der Wirtschaft und großen Teilen der Medien ins Feld geführt. Argument eins: von außen bräche die Globalisierung über uns herein. Deshalb müsse der Standort Deutschland verteidigt werden. Konkret: Unternehmenssteuern und Sozialabgaben müssten gesenkt und Arbeitskräfte verbilligt werden, damit Unternehmen nicht in Billiglohnländer abwandern. Damit wird in den Augen der Autoren ein falsches Bild gezeichnet, denn: "die Konkurrenz existiert eben nicht zwischen dem Industrieland Deutschland und den armen und ärmsten Ländern der Welt." Vielmehr werden mehr als 80 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen – sie dienen als Maßstab für verlagerte Produktionsstandorte - im Kreis der 29 OECD-Länder getätigt. Mehr als zwei Drittel der Nationen der Welt spielen beim Big Business kaum eine Rolle, obwohl dort die Arbeitskräfte billig und die Steuern in der Regel niedrig sind. Vor allem die Europäische Union, die USA und Japan konkurrieren um Investitionen. Starke Konkurrenz gibt es auch auf dem europäischen Binnenmarkt. Dem freien Handel mit Gütern und Dienstleistungen öffnen Institutionen wie die Welthandelsorganisationen Tür und Tor. Die Arbeitsmärkte sind jedoch nach wie vor national reguliert, auch innerhalb der EU und der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA. Arbeitskräfte können sich also nicht ohne weiteres den Standort aussuchen, wo die besten Löhne bezahlt werden. Das gilt verstärkt für die Migration aus den Ländern der Dritten Welt in die Industriezentren – ein Aspekt, der für die Autoren auch die internationale Dimension der Probleme im Wettbewerb der Standorte verdeutlicht. Tatsache ist: das Bruttoinlandsprodukt in den Industrieländern wächst nach wie vor. "Und in Deutschland entbehren 'Klagen über die hohen Unternehmersteuern und Steuern auf Vermögen und Gewinne jeder seriösen Grundlage'". Statt über diese Steuern finanzieren Bund, Länder und Kommunen ihre Ausgaben mehr und mehr über Lohn- und Konsumsteuern. Argument zwei der Bundesregierung, der Wirtschaft und großer Teile der Medien: die demographische Entwicklung: Wir können uns das Gesundheits- und Rentensystem nicht mehr leisten. Zu wenig junge Bürger müssten zu viele Alte und Kranke finanzieren. Deshalb sollen die Gesundheits- und Altersvorsorge mehr und mehr auf den Einzelnen abgewälzt werden – mit Hilfe und zum Nutzen privater Versicherer. Die soziale Sicherheit, die im breiten Rahmen nur durch die Gesellschaft zu gewährleisten ist, wird aufgelöst und damit die Vorbedingung für ein planbares Leben, kritisieren die Autoren. Doch was ist falsch an den Warnungen vor einer demographischen Krise? Eine zentrale Größe ist der so genannte Rentnerquotient. Früher, so heißt es, hätten zehn Erwerbstätige einen Rentner finanziert, heute sind es nur noch zwei bis drei, in wenigen Jahren sei es nur noch ein Erwerbstätiger auf einen Rentner. Das Faktum an sich stellen die Autoren nicht in Frage, wohl aber die Aussagekraft des sogenannten Rentnerquotienten. Sie sei gleich null, so die Autoren. U.a. berücksichtige diese Rechnung nicht die gestiegene Produktivität. Ein Beispiel: Im 19. Jahrhundert versorgte ein Beschäftigter in der Landwirtschaft eineinhalb andere Menschen, 2001 betrug die Relation 1 zu 88. Ähnliche Größenverschiebungen gibt es nahezu für den gesamten Produktions- und Dienstleistungsbereich. Es ist also immer weniger Arbeit nötig, um dieselbe Produktionsmenge zu erzielen und folglich braucht es immer weniger Erwerbstätige, um Kinder, Kranke und Rentner zu finanzieren. Trotz steigendem Sozialprodukt soll ausgerechnet bei ihnen gespart werden: Über die Riester Reform bei der Rente, über verstärkte Eigenbeteiligung, Bonuszahlungen für nicht in Anspruch genommene Leistungen und private Zusatzversicherungen bei der Gesundheitsversorgung. "Geradezu paradox ist es, den Finanzmarkt, der durch Krisenanfälligkeit, Korruption, Skandale und Bankrotte gekennzeichnet ist, als 'Fels in der Brandung’ gegenüber dem Umlageverfahren darzustellen." Bei der kapitalgedeckten Rente macht sich nämlich im Fall einer Wirtschaftskrise das sog. Kettenbriefsyndrom bemerkbar – die letzten, und das sind in der Regel die Kleinanleger, haben das Nachsehen. Entweder können die privatversicherten Rentner dann wegen niedriger Renten ergänzende Sozialhilfe beantragen – in Großbritannien musste das schon in den 90er Jahren jeder fünfte Rentner. Oder wie in Chile werden die Rentenzahlungen nach dem 75 Lebensjahr eingestellt, weil der individuelle Kapitalstock aufgebraucht ist. Die staatliche Rente in diesen Ländern macht nur noch einen Bruchteil der Altersversorgung aus, in Großbritannien beträgt sie nur noch 15 Prozent des Durchschnittseinkommens. Die Kritik der Attac-Autoren an den Vorschlägen der Agenda 2010 und verwandten Ideen ist vernichtend, auch wenn sie zu den aktuellen Vorlagen noch kein gesondertes Kapitel geschrieben haben. Vor allem im Gesundheits- und Rentensektor stellen sie alle von der Bundesregierung angepriesenen Heilmittel in Frage. Wettbewerb zerstöre den Sozialstaat, so das Credo der Autoren. Und auch dieser stellt in seiner jetzigen Form für sie nicht die ultima ratio dar, sondern ist durchaus verbesserungswürdig – nur in die entgegengesetzte Richtung, als die, in die derzeit die Bundesregierung marschiert. Die Autoren befürworten z.B. eine Neuauflage der 1957 von der Adenauerregierung abgelehnten "Kinder- und Jugendrente". Denn bis heute bleibt die finanzielle Unterstützung der Jungen den Familien überlassen, wobei Frauen die hauptsächliche Last tragen. Diese neue Rente, aber auch das Alterseinkommen in den Industrieländern sollten allerdings nicht auf Kosten ärmerer Länder gesichert werden. Deshalb fordern die Autoren ein Verbot, Renten- und Pensionsgelder auf internationalen Märkten anzulegen. Alle Sozialleistungen sollten vielmehr aus dem jeweiligen Sozialprodukt eines Landes erbracht werden. Und die Finanzierung der Sozialleistungen sollte gerechter verteilt sein, meinen die Autoren. Dafür wollen sie die Sozialbeiträge der Unternehmen einem neuen Prinzip unterwerfen: Beitragsleistungen der Unternehmer dürften sich nicht mehr nach der Anzahl der Beschäftigten richten, sondern müssten sich unabhängig davon an der jeweils erzielten Wertschöpfung orientieren. Das Buch bietet jedenfalls reichlich Diskussionsstoff. Und das ist von den Autoren auch beabsichtigt, die im Namen von Attac die Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Organisationen suchen, mit Gewerkschaften, Kirchen, Sozial- und Fachverbänden. Deutschlandfunk: Politische Literatur, 5.5.2003 • 19:15, Autor: Gerhard Klas, Redaktion: Karin Beindorff

Inhalt:

1. Was ist zu verteidigen?
2. Der Sozialstaat – woher und wohin?
Entwicklungsphasen
Von Bismarck und Beveridge – Leitbilder sozialer Sicherung
Aspekte neoliberaler Sozialstaatskritik
Sozialstaat und Globalisierung – Das Ende naht?
3. Die Demographie lügt nie, oder?
Das Alter einer Gesellschaft
Panikmache gilt nicht!
Produktivitätsentwicklung schlägt demographische Krise
Ist die soziale Sicherung ungerecht?
Die Realität hinter den demographischen Mythen
4. Alterssicherung: Können wir uns Oma und Opa noch leisten?
Was heißt Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren?
Ein altes Problem neu verpackt: die Verteilungsfrage
Rendite statt Rente – Geht das überhaupt?
Die Realität der kapitalgedeckten Alterssicherung – oder: Wer profitiert von ihr?
5. Gesundheitsversorgung: Wie krank ist die Gesellschaft?
Wer gewinnt beim Wettbewerb im Gesundheitssektor?
Woran kranken unsere Krankenversicherungen?
Rationierungen und Rosskuren
Die Realität hinter den Mythen von medizinischer und politischer Fürsorge
6. Was können wir tun?
Literatur
Internetlinks

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