Achtung Weihnachtsalarm!!!

Jedes Jahr schlägt Weihnachten gefühlt schon im Sommer zu. Während Mensch und Natur unter Hitze und ausbleibendem Regen ächzen, werden die Regale bereits mit Zimtsternen und Lebkuchen bestückt. Spätestens ab dem 1. Advent ploppen überall Weihnachtsstände mit dem unverwechselbar penetranten Glühweingeruch auf und mahnen zum rechtzeitigen Geschenkeeinkauf. Rotwangige Menschengruppen mit glasigen Augen und dämlichen Mützen schwanken einem mit übertriebener Glückseligkeit entgegen. Höchste Zeit, sich in der molligen Höhle mit einem dicken Buch zu verkriechen.

Glücklicherweise haben wir davon einige zu bieten. Zum Beispiel einen Klassiker in neuem Gewand: Karl Marx’ »Das Kapital« in einer neuen Textausgabe, bearbeitet und herausgegeben von Thomas Kuczynski. Sie basiert auf dem Vergleich der zweiten deutschen und der französischen Ausgabe und den Ergänzungen aller von Marx und Engels gemachten Angaben. Falls Mensch doch Angst vor Vereinsamung in dieser schwierigen Zeit verspürt, eignet sich der neue Klassiker besonders für Gruppenerfahrungen, nicht zuletzt dank seiner Lesefreundlichkeit.

Aber damit nicht genug: Wie jedes Jahr empfiehlt das Team des VSA: Verlags und der Redaktion Sozialismus Bücher, an denen wir mitgearbeitet haben oder die uns besonders am Herzen liegen. Desweiteren ein zusätzliches Präsent, das wir mit Freuden verschenken würden. Sollten die Tipps überzeugen und die Wahl auf ein Buch fallen, bitte die Lieblingsbuchhandlung vor Ort nicht vergessen. VSA: Bücher können auch bei uns direkt bestellt werden. Bestellungen, die wir bis zum 14. Dezember erhalten, sollten rechtzeitig zum Heiligabend eintreffen.

Wir wünschen allen Freund*innen und Unterstützer*innen eine wundervolle Zeit
und ein buntes Fest!

Richard Detje [Lektorat | Redaktion Sozialismus | WISSENTransfer]

Am 26. November verstarb der italienische Filmregisseur Bernardo Bertolucci. Sein aus meiner Sicht größtes Werk: Novecento – 1900, die soziale und politische Geschichte Italiens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem frühen Aufstieg und Fall des Faschismus. Für Bertolucci ein »filmisches Denkmal des Kommunismus«. Der Film erschien 1976. Ich sah ihn noch im selben Jahr in Göttingen. Wir strömten ins überfüllte Kino und kauerten uns in die Gänge, da kein Platz in den Plüschsesseln mehr frei war – gebannt, fünf Stunden lang: viva il grande. DVD oder Blue Ray gibt es im Fachhandel, einen kurzen italienischen Trailer auf Youtube

Die vielleicht kürzeste Solidardefinition – »Leben einzeln und frei wie ein Baum, und dabei geschwisterlich wie ein Wald« – stammt von dem türkischen Dichter Nazim Hikmet und findet sich in dem Buch von Hartmut Meine: Gewerkschaft, ja bitte! Ein Handbuch für Betriebsräte, Vertrauensleute und Aktive. Ein Handbuch fürwahr! Elf Kapitel zu den Grundlagen der Gewerkschaftsarbeit: vom Arbeitsverhältnis über die Tarifpolitik bis zur Gesellschaftspolitik. Elf weitere Kapitel zur betrieblichen Praxis: von Organizing über Gesundheitsschutz bis zu Handlungsmöglichkeiten bei Entlassungen und Streiks. Mit zahlreichen Abbildungen und Übersichten, Hin- und Querverweisen, erläuternden Einschüben, Gedichten, Liedtexten und Aperçus wie diesem: »Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.«

Katrin Reimann [Lektorat, Vertrieb & Werbung]

Die Weihnachtsvorfreude ist jetzt schon gelungen, denn der in Berlin lebende Künstler Jens Friebe stellte Anfang November sein sechstes Studioalbum vor! Fuck Penetration wird als seine britischste Platte gehandelt und erfrischt mit Intelligenz und Tanzbarkeit die popkulturelle Welt. »Weit über das Zentralanliegen hinaus, das Fuck Penetration kommuniziert, erfreut die ganze Produktion von den ersten paar Noten an mit einer antikoketten Publikumszugewandtheit, die gern auch stimmlich uneitel eiert wie der liebe Gott beim wortgesteuerten Sternemachen«, so Dietmar Dath. Im Januar wird Jens Friebe auf Tour gehen, sodass sich mensch direkt live überzeugen lassen kann. Also reingehört! Erschienen und bestellbar ist das Album beim Label staatsakt.

Der 1877 eröffnete Hamburger Friedhof Ohlsdorf gilt als der größte Parkfriedhof der Welt und ist mit seinen 389 Hektar zugleich Hamburgs größte Grünfläche. Einen Mangel an Bestattungsfläche wollte man damit von vornherein ausschließen. Kulturdenkmal und Erholungsraum einerseits, ein Ort der Trauer und der kollektiven Erinnerung andererseits. DenkMal Friedhof Ohlsdorf, herausgegeben von Hans Matthaei und der Willi-Bredel-Gesellschaft – Geschichtswerkstatt e.V., stellt 33 ausgewählte Stätten der Erinnerung und Mahnung vor. Ausgestattet mit diesem historisch-politischen Friedhofsführer lassen sich Denkmäler, Skulpturen und Grabanlagen im Spiegel der Hamburger Geschichte zu jeder Jahreszeit gut informiert und gezielt erkunden.

Björn Radke [Redaktion Sozialismus]

Man muss kein Nostalgiker sein, wenn man zugibt, dass selbst heute die Beatles-Alben »Revolver«, »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club«, »Magical Mystery Tour«, »The White Album« und »Abbey Road« gerne gehört werden. Allerdings sind diese Songs nie im Original live gespielt worden. Selbstverständlich haben sich viele Musiker*innen darangemacht, Beatles-Songs zu live covern. Zuerst ist natürlich »Sir« Paul McCartney zu nennen, der viele Songs aber auf seine Art zelebriert. Die niederländische Formation The Analogues hat sich der Herausforderung gestellt, die genannten Alben originalgetreu mit den entsprechenden Instrumenten live zu performen, und damit die Mär von der Unaufführbarkeit dieser Werke rund 50 Jahre später widerlegt: Man kann die Alben der späten Beatles live aufführen, und zwar mit beeindruckender Perfektion, ohne museal zu sein. Nach Magical Mystery Tour und Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band brachte die Formation im Sommer 2018 The White Album zur Aufführung. Jetzt wurde diese Aufzeichnung auf CD und LP veröffentlicht, zu beziehen zu akzeptablen Preisen zwischen 15 und 19 Euro hier. Einen Eindruck vermittelt ein knappes Video auf Youtube.

Im Mai 2019 finden Europawahlen statt, bei denen ein weiteres Erstarken von rechtspopulistischen und rechtsradikalen Bewegungen und Parteien zu befürchten ist. Das ist für die aktuelle Reformdebatte in der EU eine schwere Hypothek. Neben der Analyse des Rechtspopulismus in Italien, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Deutschland entwickeln Klaus Busch, Joachim Bischoff und Hajo Funke in ihrem Band Rechtspopulistische Zerstörung Europas? ein Konzept, wie der europäische Integrationsprozess stabilisiert werden könnte: Es geht »wesentlich weiter als die moderaten Reformvorschläge, die 2017 von der Europäischen Kommission initiiert worden sind. Sollte auch dieses moderate Mindest-Stabilisierungskonzept nicht durchsetzbar sein, blieben Eurozone und EU auf der schiefen Ebene. Zu den Europawahlen 2019 würde sich die EU den Bürger*innen weiterhin in einem desolaten Zustand präsentieren. Sie wird einige Potemkinsche Dörfer, etwa in Gestalt der Säule sozialer Rechte in der EU, vorweisen können, aber in den großen Fragen weiterhin nackt wie der Kaiser ohne Kleider dastehen.« Ein Buch, dem man nur wünschen kann, dass seine Vorschläge Eingang in die Positionierung der SPD, der GRÜNEN und der Linkspartei finden.

Marion Fisch [Lektorat | Herstellung | Redaktion Sozialismus]

Zum weihnachtlichen Abschluss des 68er-Jubiläumsjahres lässt sich noch gut ein Buch über diese Bewegung verschenken. Der entscheidend von ihr geprägte VSA: Verlag hat dazu natürlich mehr zu bieten, als auf einen Gabentisch passt. Empfohlen sei hier der von Knut Nevermann herausgegebenene Band Die 68er. Er verfolgt nicht den Anspruch, eine auch nur halbwegs repräsentative Ereignisgeschichte jener Jahre zu liefern, vielmehr verdeutlicht er Zusammenhänge zur damaligen »weltweiten Aufbruchsstimmung, die alle Lebensbereiche berührte«. Die Autorinnen und Autoren, die dazu beitragen, verkörpern zudem glaubwürdig die Vorstellung, dass »68« nicht als Schreckgespenst, sondern als »Anstachelung« für »Visionen einer freien, nicht autoritären, sozial gerechten und friedlichen Gesellschaft« bis heute zu wirken vermag. Interessant erschien mir in diesem Buch nicht zuletzt Rudi Schmidts Text »Wandel durch Öffentlichkeit und Wandel der Öffentlichkeit«, der meine zweite Geschenkempfehlung angeregt hat:

Warum in (medialen) Umbruchzeiten nicht ein Probeabonnement für eine Tageszeitung verschenken und damit konkret kritischen Journalismus unterstützen? Noch ist eine breite Auswahl vorhanden und soll hier nicht zu sehr eingeengt werden. Obwohl: Ich habe durchaus ein Faible für »die« tageszeitung, die – im Übrigen eine Spätblüte der 68er und wie diese nicht täglich zu Freudenstürmen Anlass gebend – den Klimawandel bereits lange vor dem Hitzesommer 2018 entdeckt hat, und in der gerade in letzter Zeit von jüngeren Journalist*innen lesenswerte Reportagen erscheinen. Aber z.B. das neue deutschland hat ebenfalls neue Leser*innen verdient: Dort hat der – auch in der taz veröffentlichende – Georg Seeßlen unter dem Titel Rechts, zwo, drei die Folgen einer »Wanderung der Konsumenten vom linearen zum wolkig-selektiven Empfang von Bildern, Erzählungen und Begriffen« jüngst eindrücklich vorgestellt. Ein weiteres Argument, auch an den Festtagen nicht auf der Wolke zu entschweben!

Bernhard Müller [Lektorat | Buchhaltung | Redaktion Sozialismus]


Der große Jazz-Pianist Keith Jarrett litt Mitte der 1990er Jahre unter chronischer Erschöpfung. Doch dann kämpfte er sich zurück aus der Krankheit – mit einem Ausnahmekonzert, das nun zum ersten Mal zu hören ist. La Fenice wurde am 19. Juli 2006 im gleichnamigen Theater in Venedig, einem der heiligen Konzertsäle der klassischen Musik, aufgenommen. Das Album gehört zu den reifsten, komplettesten, mithin nachhaltigsten Aufnahmen seiner umfangreichen Diskografie. Sein Auftritt in Venedig Ende September dieses Jahres war lange angekündigt, er sollte als erster Jazzmusiker beim 62. Internationalen Festival zeitgenössischer Musik der Biennale den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk entgegennehmen. Kurzfristig musste Keith Jarrett die Verleihung und das Konzert absagen. Er bedankt sich stattdessen mit seinem neuen Album La Fenice, einem Schatz aus seinem Archiv, das am Ort der Ehrung aufgenommen wurde.

Am 11. Juli 2018 wurden die Urteile im NSU-Prozess verkündet. Dass dessen Abschluss kein Ende der Aufklärungsarbeit sein darf, zeigen eindringlich die Plädoyers von Nebenkläger*innen – Angehörige und Anwält*innen –, die in dem Band Kein Schlusswort dokumentiert sind. Sie entwerfen eine eindrucksvolle Gegenerzählung zum staatlichen Narrativ über den NSU-Komplex und zeigen den Werdegang des »National-Sozialistischen Untergrunds«, seine enge Verflechtung mit rechtsextremistischen Gruppen, das Agieren von rechtsextremen V-Männern des Verfassungsschutzes und deren V-Mann-Führern auf. Es geht um die Rolle des Verfassungsschutzes bei der Verhinderung der Ermittlungen, die einseitigen Ermittlungen des Bundeskriminalamts und die Rolle des Generalbundesanwalts, der den Interessen des Verfassungsschutzes Vorrang vor einer effektiven Strafverfolgung und Aufklärung gegeben hat. Antonia von der Behrens’ Beitrag »Das Netzwerk des NSU, staatliches Mitverschulden und verhinderte Aufklärung« liest sich wie ein Kriminalroman – in dem viele Täter noch frei herumlaufen. Es darf nach dem Ende des Prozesses keinen Schlussstrich geben! Andernfalls bleibt der Verfassungsschutz ein unkalkulierbares und unkontrollierbares Sicherheitsrisiko.

Julia Koppke [Lektorat, Vertrieb & Werbung]

Das »Kapital« lesen? – müsste mensch vielleicht, aber … zu dick, zu dröge, zu kompliziert… Einsteigerinnen und Einsteiger, die trotzdem die Grundbegriffe der Marxschen Kapitalismuskritik verstehen möchten, könnten allerdings auf einen Comic zurückgreifen – und das seit diesem Jahr sogar in Farbe! Jari Banas hat seine Version in dieser Jubiläumsausgabe zum Marx’ 200. Geburtstag handkoloriert. Sein Kunststück besteht darin, dass er die komplexen Marxschen Gedanken nicht simplifiziert und entstellt. Er verpackt sie stattdessen in Bilder, die diesen wie angegossen passen.

Ein anderer unterhaltsam und zeitgemäß dargebotener Klassiker und ein tolles Geschenk nicht nur für Kinder (oder Enkelkinder) und nicht nur für diejenigen, die die Percy-Jackson-Reihe kennen, ist das Buch Percy Jackson erzählt: Griechische Göttersagen von Rick Riordan. Percy führt die Lesenden von den Titanen bis zur Götterrebellion; witzig und locker wird allen zwölf olympischen Gottheiten plus zwei Bonusgottheiten jeweils ein Kapitel gewidmet, so z.B. Dionysos erobert die Welt mit einem Erfrischungsgetränk oder Persephone heiratet ihren Stalker. »Also los geht’s. […] Setzt eure Schutzbrillen auf und zieht einen Regenmantel an. Es wird Blut fließen!«

Tim Solcher [hilft regelmäßig überall]

Wie in Charles Dickens’ »Weihnachtsgeschichte« den alten Griesgram Ebenezer Scrooge, so scheint es, überkommt kurz vor Weihnachten im Jahre 2018 die SPD ein guter Geist, um der vereinsamt dem politischen Tod ins Auge blickenden ehemaligen Volkspartei Reue zukommen zu lassen und einen Neuanfang zu ermöglichen. »Weg mit Hartz IV und Sanktionsregime! Lasst uns die Agenda 2010 gründlich reformieren!«, schallt es immer lauter aus dem Willy-Brandt-Haus. Einmal mehr sollen die Chöre des segensreichen Sozialstaates erklingen, mit dessen Mitteln die erniedrigten, geknechteten, verlassenen und verächtlich gemachten Wesen mit den kapitalistischen Verhältnissen versöhnt werden sollen. Wer Renate Dillmanns und Arian Schiffer-Nasseries im besten Sinne desillusionierende Ausführungen in ihrem Buch Der soziale Staat – zu seiner historischen Entwicklung, seinen konkreten Maßnahmen und seinen ökonomischen Grundlagen – liest, erspart sich ganz sicher die Enttäuschung darüber, dass auch die nächste Sozialstaatsreform nichts an der Brutalität ändern wird, mit der Menschen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, im alltäglichen Leben konfrontiert sind.

Konservative in allen Teilen der Erde entdecken ihre »Wurzeln« wieder. Der aggressiv und mit zunehmendem Erfolg die Deliberalisierung vorantreibende Rechtspopulismus scheint bei vielen konservativen Parteien das Bedürfnis zu wecken, den reaktionären Umbau der westlichen Gesellschaften zumindest zu begleiten, wenn nicht gar federführend zu exekutieren. Wie weitreichend Rechtspopulismus und Konservatismus inzwischen verschwistert sind, führen einem die in autoritärer Eintracht regierenden Spießgesellen Kurz und Strache in Österreich tagtäglich vor Augen. Für den US-amerikanischen Politikwissenschaftler Corey Robin ist das keine neue, geschweige denn überraschende Entwicklung: »Alles, was den Rechtspopulismus ausmacht, gehört zum grundlegenden Ideenbestand der Konservativen seit der Französischen Revolution«, so Robin im 2018 erschienenen Werk Der Reaktionäre Geist. In diesem zeichnet er eine Linie reaktionär-konservativen Denkens von Hobbes, Burke und Nietzsche über Hayek und Ayn Rand bis hin zu Donald Trump, dem bisherigen Höhepunkt der unheilvollen Symbiose.

Joachim Bischoff [Lektorat | Redaktion Sozialismus]

Seit Brexit und Trump laufen politische Gegenwartsanalysen darauf hinaus, sich am Rätsel des Rechtspopulismus abzuarbeiten. Hajo Funke und Christiane Mudra zeigen in ihrem Band Gäriger Haufen, dass die Bundestagswahl 2017 eine Zäsur war. Die rechtsradikal geführte AfD ist mit knapp sechs Millionen Wähler*innenstimmen in den Bundestag eingezogen – trotz oder wegen der Tatsache, dass der rechtsradikale Flügel um Gauland und Höcke definitiv in Partei und Fraktion die Oberhand hat. Das Agieren der AfD im Verbund mit Pegida, Hooligans und Neonazis in Chemnitz hat eine neue Stufe der organisierten extremen Rechten sichtbar gemacht. Der aktuelle Rechtstrend ist nicht so sehr das Resultat ideologischer Überzeugungen (außer für Minderheiten), sondern das Resultat einer immensen Wut, die sich seit längerem aufgestaut hat. Sie speist sich aus Abstiegs- und Zukunftsängsten. Erreicht der rechte Protest die staatlichen Institutionen und kann sich hier festsetzen, wird die Einhegung durch Kräfte aus der Zivilgesellschaft schwierig.

Diese Analyse erweitert Wilhelm Heitmeyer in seinem neuen Buch Autoritäre Versuchungen. Der Autor warnt seit 2001 davor, dass die Globalisierung mit politischen und sozialen Kontrollverlusten einhergeht, die zum Aufstieg des autoritären Kapitalismus, zu Demokratieentleerung und einem Erstarken des Rechtspopulismus führen. Nach der großen Finanzkrise nahm bei den Bestverdienenden die Zustimmung zur Rechten signifikant zu – also viele Jahre vor der »Flüchtlingskrise«. Was längst angerichtet war, brachten die Entwicklungen der Jahre 2015 und 2016 dann zum Kochen: »Dadurch hat sich die emotionale Wucht noch verstärkt, weil zu den ohnehin drängenden Problemen die Unzufriedenheit über ihre fehlende politische Bearbeitung kam... Beide, frustrierte Bürger und politische Akteure, bewegten sich auf der Aggressions- und Eskalationsspirale zunehmend nach oben.« Auch Philip Manow stellt in seiner Studie Die Politische Ökonomie des Populismus den auf den Populismus gemünzten Kulturdiagnosen eine ökonomische Erklärung entgegen. Er argumentiert, dass die AfD gerade in prosperierenden Regionen und bei Menschen mit guter Beschäftigung Zuspruch findet. Hier geht es also um Statuserhalt statt um soziale Deprivation. Allerdings spielt die Erfahrung früherer Arbeitslosigkeit im erweiterten Lebensumfeld eine statistisch messbare Rolle.

Bernhard Sander [Redaktion Sozialismus]

In einem längeren Gespräch hat der Marxist Perry Anderson mit dem Mediävisten Suleiman Mourad uns einen präzisen, prägnanten und differenzierten Überblick über die Geschichte des Koran, seine Varianten und Auslegungen verschafft. Das Frage- und Antwortspiel in Das Mosaik des Islam ordnet den Text des Koran in die Umbrüche des Mittelmeerraums und die intellektuellen Diskurse der Entstehungs- und Rezeptionszeiten ein. Reizwörter wie Scharia und Dschihad sind offensichtlich komplexere Zusammenhänge, als das manche/r Feuilleton-Autor*in zulassen mag. Ein Schriftzeichen und ein Häkchen standen am Beginn der Trennung von Sunniten und Schiiten, Herrscher-Interessen prägten die Auslegung, die philologischen Grundhaltungen der Schulen den Umgang mit Widersprüchen. Es entsteht dabei ein facettenreiches Bild des Islam, das sich von manchen polarisierenden Verzerrungen und Plattitüden seiner Kritiker*innen in den tonangebenden Medien des Bildungsbürgertums wohltuend abhebt.  Die jüdisch-christlichen Verwandtschaften werden ebenso beleuchtet wie die innerislamischen Konflikte um die Deutungshoheit über die Texte. Die Komplexität der islamischen Welt wird durch die historische Betrachtung etwas einfacher, auch wenn die Fülle der Details den Laien verblüfft. Wir finden deshalb ein auch jenseits des Buches hilfreiches Glossar. Nach der Lektüre ist klar: Es gibt nicht den Islam und die Forderung des Kulturbürgertums nach Modernisierung bzw. Aufklärung erscheint von oben herab und der Eigendynamik dieser Religion unangemessen.

Manchmal muss es eben ein Sachbuch sein, um dem Wohnen als einem Menschenrecht Gehör zu verschaffen. Nicht nur in den Ballungsgebieten wird der bezahlbare Wohnraum knapp, vor allem für die weniger Begüterten. Kommunen konkurrieren um junge gut verdienende Mieter, immer mehr Wohnungen fallen aus der Sozialbindung. Von der Erbengemeinschaft bis zum börsennotierten Spekulationsunternehmen gieren alle nach einen Stück des angeblich nicht vermehrbaren Gutes. Und die Mieten steigen. Damit wird der Immobilienmarkt attraktiv für Anlage suchendes Kapital. Wie ticken die Finanzinvestoren, die dahinter stecken? Wer kennt sich mit der Preisbildung dieses Marktes als Mieter aus? Welche Trends prägen das Umfeld einer Wohnungsbaugesellschaft in öffentlicher Hand ihrer Geschäftsführer und Kontrollorgane? Was sollte eine Stadtverordnete im Stadtentwicklungsausschuss wissen? Der Vorstand des Mietervereins und der Mieterinitiative sollten diese Anlagesphäre kennen. Der Wirtschaftsprofessor und Memo-Autor Heinz J. Bontrup verschafft in Wohnst du noch ...? den nötigen Durchblick und skizziert Alternativen. Es ist dies ein praktischer Beitrag zum Verständnis der »verzauberten, verkehrten und auf den Kopf gestellten Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben«. (Marx)

Christoph Lieber [Redaktion Sozialismus]

Der zweite Band des »Kapital« von Karl Marx steht bis heute im Schatten des 2017 »gefeierten« ersten Bandes, seine Lektüre wird gemeinhin mit den Mühen der Ebene verglichen, auf der es lediglich um abstrakte Kapitalkreisläufe und Reproduktionsschemata ginge. Diese Fehlinterpretation kann nun David Harvey mit seinem Buch Marx’ 2. Band des »Kapital« lesen korrigieren. Seine Kenntnisse als Humangeograph, Raum- und Urbanisierungsforscher prädestinieren ihn zur Verlebendigung der Kreislaufformen und Reproduktionszusammenhänge des Kapitals. Denn die Einheit von Produktion und Zirkulation sowie der Umschlag und »moralische Verschleiß« des fixen Kapitals besitzen die Tendenz zur Beschleunigung, revolutionieren Transport- und Kommunikationswege und bewirken damit permanent eine »Vernichtung des Raums durch die Zeit« (Marx). Harvey gibt dem ein konkretes Gesicht und lebendige Geschichte: Markt und Unternehmen, Lagerhaltung und Konsum, Inwertsetzung toter Artefakte und finanzmarktkapitalistische Mobilisierung des bislang Immobilen, also Finanzialisierung von Grund und Boden, die schöpferische Zerstörung in unseren Städten und auf der »grünen Wiese«. Und der Autor bezieht Teile des dritten Kapitalbandes wie das Kaufmannskapital, Kredit- und Bankensystem in seine Kommentierung ein und ermöglicht damit ein vertieftes Verständnis.

Mit Harveys politökonomischer Alphabetisierung sind Leser*innen bestens präpariert, die Auseinandersetzungen um 100 Jahre Bauhaus im Jahr 2019 zu verfolgen. Ein Bezugspunkt hinter den Deutungskontroversen des Mythos Bauhaus liegt in der krisenhaften Kapitalakkumulation der Zwischenkriegszeit, der Lösung drängender Wohnungsfragen und damit städtebaulicher Herausforderungen. Hier erwies sich Walter Gropius keineswegs als der »Ford des Wohnungsbaus«, als der er sich öffentlichkeitswirksam inszenierte. Mit dem von Thomas Flierl und Philipp Oswalt herausgegebenen Band Hannes Meyer und das Bauhaus. Im Streit der Deutungen liegt jetzt ein Meilenstein in der jüngeren Forschung zur Geschichte des Bauhauses vor. Darin werden über die Ausleuchtung des Reichtums an konzeptionellen Ideen von Hannes Meyer (1889-1954) auch die verschwiegenen Bauhaus-Krisen der Dessauer Jahre, die Kündigungen von Breuer, Bayer und Moholy-Nagy sowie der Weggang von Gropius und damit die Direktorenzeit von Hannes Meyer (1927-1930) nachgezeichnet – ein Bauhauskrimi. Gegen den gängigen Vorwurf kommunistischer Politisierung als Kündigungsgrund gegen Meyer wird materialreich und quellen(kritisch)gestützt gezeigt, dass Meyer die zivilisatorischen Widerspruchskonstellationen seiner Zeit reflektierte: »Unsere Wohnung wird mobiler denn je: Massenmiethaus, Sleeping-car, Wohnjacht und Transatlantique untergraben den Lokalbegriff der ›Heimat‹ … Wir werden Weltbürger.« Der Band leuchtet zudem die Stationen von Meyer auf seinen Migrationswegen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, zwischen Genossenschafts- und Arbeiterbewegung, Reform und Revolution, Sozialismus und Kommunismus, Internationalismus und Stalinismus aus. Und er thematisiert die internationale Bauhausrezeption: vom tschechischen Funktionalismus über die Anerkennung und Ablehnung in der Sowjetunion, den Neuanfang in der DDR und die Wiederentdeckung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm.

Klaus Schneider [Lektorat | Buchhaltung | Redaktion Sozialismus]

Das Verschenken von Kalendern an Weihnachten birgt die eine oder andere Gefahr. Der Vorwurf eines Verlegenheitsgeschenks am Ende des Jahres ist schnell parat, ebenso ist es wahrscheinlich, nicht der einzige zu sein, der auf diese Option zurückgreift. Deshalb bedarf es bei der Wahl eines sicheren, überlegten Griffes – eingedenk der persönlichen Vorlieben des Beschenkten. Springt dann der richtige Kalender für die richtige Person heraus, ist ein toller Jahresbegleiter gefunden, der im besten Falle täglich den Beschenkten an den Schenker erinnert. Barbara Yelins Jahreskalender »Über Unterwegs« ist so ein ganz besonderes Kleinod. Jeden Monat erzählt die Autorenzeichnerin, die spätestens seit ihrem großen Comic »Irmina« im Jahr 2014 zu den wichtigsten Stimmen in der deutschen Comicszene gehört, persönliche Reisegeschichten – mit dem aus ihren Comics bekannten erzählerischen Tiefgang, der cleveren Liaison aus Bild und Sprache und der unheimlichen Sogwirkung des wunderschönen zeichnerischen Strichs. Wie wichtig ihre Stimme übrigens auch im politischen Kontext ist, zeigt ihr Comic über die Flüchtlingskrise, die sie mithilfe dieses tollen Mediums präzise auf den Punkt bringt.

Der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler Parag Khanna bezeichnete 2016 den »Wettbewerb um Konnektivität« als »das Wettrüsten des 21. Jahrhunderts«. Wie sehr China darum bemüht ist, sich dieser »Machtressource« für das eigene Großmachtstreben zu bedienen, zeigt Uwe Hoering eindrucksvoll in seinem neuen Buch Der Lange Marsch 2.0. Chinas Neue Seidenstraßen als Entwicklungsmodell. So schön romantisierend das mit den »Seidenstraßen« auch klingen mag: Es geht nicht nur um den internationalen Austausch von Waren, dieses von China mit vorausschauender Akribie und Tatendrang vorangetriebene Infrastrukturprojekt nimmt geopolitische Züge an, die vielen nicht klar sind. Es ist atemberaubend, in welchen Größendimensionen die chinesische Machtelite denkt: von Zentralasien über Südostasien bis hin nach Duisburg sollen die transeurasische Landroute und damit die Zipfel der Konnektivität reichen. Mit allen negativen Begleiterscheinungen, die der Autor nicht verschweigt. Ein informatives und vor allem kurzweilig zu lesendes Buch.

Gerd Siebecke [Lektorat | Herstellung | Redaktion Sozialismus]

Auf meinen Lieblingskoch ist Verlass: Rechtzeitig zu den Geschenktipps (und zu seinem 70. Geburtstag Ende Januar 2019) gibt es was Neues. Vincent Klink hat jetzt seine »Küchenkladde« zwischen zwei Buchdeckel gepackt: Angerichtet, herzhaft und scharf! Seit einem dutzend Jahren führt der Meister aus Württemberg – die kritische und couragierte Wochenzeitung Kontext bezeichnete ihn unlängst als den »wohl politischsten Sternekoch« (das spannende Interview, das Stefan Siller mit ihm führte, kann auch als Video angeschaut werden) – ein Tage- und Rezeptebuch, in dem er politisiert und philosophiert, diskutiert und interveniert. Darin legt er sich schon mal mit der Lebensmittelindustrie an (Nestlé nennt er eine Verbrecherbande), nimmt Stuttgart 21 aufs Korn, berichtet über die Arbeit der Küchenbrigade Wielandshöhe in Stuttgart, stellt jahreszeitliche Einkäufe und Rezepte vor und schreckt auch nicht davor zurück, potenziellen Besucher*innen seines Restaurants Enthaltsamkeit zuzumuten: »Wir haben bei uns im Betrieb jetzt keine Tomate mehr und zwar bis Juni nicht. Tomatenfreie Zeit! Weil ich nicht das kaufe, was die armen Teufel, die unter ihren Müllsackzelten in Südspanien leben müssen, ernten.«

Vermutlich würde Vincent Klink dem Untertitel des Buches eines anderen Württembergers zustimmen: »Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen«. Bernd Riexinger, geboren in Leonberg, lange Jahre Gewerkschaftssekretär in Stuttgart, heute einer der beiden Bundesvorsitzenden der Partei DIE LINKE und Hobbykoch, hat sein langjähriges gewerkschaftliches und politisches Erfahrungswissen in einem Buch mit dem Titel Neue Klassenpolitik zusammengefasst. In acht Kapiteln umreißt er, wie aus einer Neudefinition von Solidarität eine Politik im 21. Jahrhundert für die »Vielen« entwickelt werden kann, die über die Schaffung von humanen Arbeitsbeziehungen »das Ganze in den Blick nehmen« muss. Auch Riexinger hat ein spanisches Beispiel vor Augen – seine Nachbarin Violetta, die allerdings inzwischen im »Musterländle« lebt: »Ich bewundere ihre Energie. Bei jeder neuen Arbeitsstelle ist sie glücklich und glaubt, jetzt fängt das normale Leben mit guter Arbeit an, und doch wird sie von einer prekären Stelle zur nächsten geschoben.« Solchen Zuständen – Müllsackzelte in Südspanien und prekäre Beschäftigung mit dauerhaftem Hartz-IV-Bezug hierzulande – Einhalt zu gebieten, ist bei allem unterschiedlichen Herangehen das gemeinsame Anliegen zweier Württemberger.

Und da von unwürdigen Zuständen die Rede ist, darf ein letzter Geschenktipp erlaubt sein: Tobias Müller ist seit 2008 Menschen gefolgt, die ihre Heimat verlassen haben und aus verschiedensten Gründen in Europa ein neues Leben begründen wollten. Von der Nordsee bis nach Lampedusa, von Calais bis nach Tovarnik in Kroatien stieß er auf erbärmliche Verhältnisse, Erniedrigung und Gewalt, sowie auf erstaunlichen Überlebenswillen. Hier draußen an der Grenze existieren repressive Elendsverwaltung auf europäischen Migrationsrouten, ebenso wie Menschen, die sich dagegen zur Wehr setzen. Ihre Geschichten – inklusive anschaulicher Fotos – kennenzulernen, lässt andere berechtigte Sorgen etwas in den Hintergrund treten.

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