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Freerk Huisken

z.B. Erfurt

Was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungswesen so alles anrichtet

128 Seiten | 2002 | EUR 8.00 | sFr 14.70
ISBN 3-87975-878-6 1

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Die zentralen Thesen sind weiterentwickelt in: Freerk Huisken, Über die Unregierbarkeit des Schulvolks. Rütli-Schulen, Erfurt usw.


Freerk Huisken analysiert den Erfurter Amoklauf als ein – aus dem Ruder gelaufenes – Produkt schulischer Lernerfolge und deckt die zynischen Seiten der durch ihn ausgelösten, scheinbar tiefgreifenden Kritik am deutschen Schulsystem auf.

Nach dem Amoklauf von Erfurt, diesem "beispiellosen Verbrechen", halten sich merkwürdigerweise das Lamento über die "Sinnlosigkeit" und "Unfassbarkeit" der Tat und die Debatte über Gründe, die einen Robert S. zu seinem Massaker veranlasst haben können, die Waage.

Offenbar versteht ein jeder sofort: Robert S. war verbittert darüber, als vom Abitur ausgeschlossen und als Schulversager bezeichnet worden zu sein. Es fehlt in diesem Zusammenhang auch nicht an offenherzigen Auskünften über die Schule selbst. Aber dass man auf das Scheitern an der schulischen Anforderung so reagiert, das muss nicht sein. In den USA mag so etwas an der Tagesordnung sein, aber nicht in unseren zivilisierten Breiten. Bei uns wird der Mensch doch nicht mit der Erlaubnis, zur Pumpgun zu greifen, sondern mit "Frustrationstoleranz" ausgerüstet. Und an der wird es Robert S. wohl gefehlt haben.

Was auf den ersten Blick den Eindruck einer gänzlich ungewöhnlichen, weil das zentrale Prinzip des Bildungswesens, nämlich ihren Sortierungsauftrag treffenden Schulkritik vermittelte, erweist sich also als das glatte Gegenteil. An pädagogischer Selbstkritik bleibt der Befund: Wir haben es nicht geschafft, dass dieser Mensch sich mit dem Urteil, das wir über ihn gefällt haben, abfindet, und zwar ohne die (Schul-)Ordnung zu stören oder gar den Rächer zu spielen. So hat Robert S. die erlernten Techniken der geistigen Anpassung gegen seine Lehrer gewandt, anstatt mit ihnen – wie es sich gehört – die Lehrerschaft und die Schule zu entschuldigen.

Der Autor:
Freerk Huisken ist Hochschullehrer an der Uni Bremen und dort in der Lehrerbildung tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Kritik des Bildungswesens und der Erziehungswissenschaften, "Jugendgewalt" und Rechtsextremismus. Bei VSA erschien von ihm zuletzt: Brandstifter als Feuerwehr: Die Rechtsextremismus-Kampagne. Nichts als Nationalismus 2 (2001).

Rezensionen

Gelehriger Schüler Robert S.
Ein Jahr nach dem Schulmassaker in Erfurt: Ein Hochschullehrer sucht nach Erklärungen

Die Rede des Bundespräsidenten nach dem Schulmassaker in Erfurt, in der Johannes Rau "scheinbar nahe liegende Erklärungen" tabuisierte und "wir verstehen diese Tat nicht" verkündete, kann man als Erklärungsverbot deuten. Dies tut Freerk Huisken, als Hochschullehrer in Bremen in der Lehrerbildung tätig und in der innermarxistischen Debatte der "Gegenstandpunkte"-Gruppe (...) zurechenbar. Huisken deutet den Erfurter Amoklauf vom 26. April 2002 nicht als systemwidriges Ereignis, sondern als aus dem Ruder gelaufenes Produkt schulischer Lernerfolge. Huiskens Pointe: Der Attentäter Robert Steinhäuser radikalisierte, was im Schulsystem "die Damen und Herren Kindersortierer" vermitteln. Obwohl die Tat als "unerklärlich" dargestellt wurde, habe sogleich eine Debatte darüber begonnen, wie Schüler auf Niederlagen im schulischen Leistungsvergleich reagieren. Trotz beschworener Ratlosigkeit seien die Medien voll mit einfühlsamen Erklärungen gewesen. Offenbar habe man doch die Verbitterung darüber verstanden, vom Abitur ausgeschlossen und als Schulversager bezeichnet worden zu sein. Aber Aussortierten sei eben nicht erlaubt, zur Pumpgun zu greifen. Es werde von ihnen verlangt, sich mit "Frustrationstoleranz" auszurüsten. Allenfalls Schülerselbstmorde würden als "bedauerliche Kollateralschäden einer Schule" akzeptiert. So bleibe als pädagogische Selbstkritik: Wir haben es nicht geschafft, dass dieser Mensch sich mit dem Urteil, das wir über ihn gefällt haben, abfindet. Die Zerknirschung, im geistigen Anpassungstraining versagt zu haben, sei unangebracht, meint Huisken, der die Schule gegen ihre Selbstkritik in Schutz nimmt: Indem der Schüler Robert das Verdikt der Schule über ihn in ein psychologisches Urteil über den Wert seiner Person übersetzt hat, erweise er sich als gelehriger Schüler des bürgerlichen Erziehungssystems. Huisken kritisiert Lehrer, die lieber Selbstverteidigungskurse im Polizeisportverein belegen als Rechenschaft über ihre Institution zu geben. Eine andere Ablenkung vom Kern des Problems sei die Aufregung über Actionfilme und Computerspiele, denn "jede friedliche Soap-opera im Vorabendprogramm" sei "gewaltträchtiger": Deren "nicht gleich gewalttätigen Angeber und Anhänger des Selbstbewusstseinskults" trügen "den Robert S. in sich". Die Kritik an dem System der allzu frühen Selektion im Schulsystem ist nicht neu. Bereits Anfang der 70er Jahre befasste sich eine Untersuchung Karlheinz Ingenkamps unter dem Titel "Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung" mit dem Thema. Anfang der 80er Jahre erschienen die Kritiken Hellmut Beckers und Hartmut von Hentigs am Notensystem. Zu Beginn der 90er Jahre erlebte mit der DDR-Zensurengläubigkeit der Selektionsmechanismus allerdings eine Renaissance. Thüringen wurde gar zum einzigen Bundesland, in dem ein Schulverweis vor dem Abitur bedeutet, über gar keinen Schulabschluss zu verfügen. Huisken erinnert daran, dass zur Zeit des Erfurter Anschlags in Weimar ein Prozess gegen eine Schülerin stattfand, die ihr Gymnasium, das sie durch die Abiturprüfung fallen ließ, abfackeln wollte. Mittlerweile wurde das Gutenberg-Gymnasium umgebaut – subventioniert vom Bund mit rund 10 Millionen Euro. Die materiellen Spuren der Tat werden bald verschwunden sein. Wenn aber ein Jahr nach den schrecklichen Ereignissen vom 26. April 2002 erneut die "Jugendgewalt" statt der in Irak stattfindenden Lektion in "Erwachsenengewalt" im Zentrum des Interesses steht, so wird, kritisiert Huisken, der "herauspräparierte Normalitätsbezug des Anormalen verdeckt". Diese Verdrängung sah Huisken schon in der Trauerrede der Schülerin Constanze K., die nach dem Bundespräsidenten eine "peinliche Lobrede" auf die Schule gehalten habe, so dass Huisken, Bildungsforscher seit Anfang der 70er Jahre, fragt: "Wer hat eigentlich das gestörtere Bild von Schule im Kopf, der böse Robert S. oder die brave Constanze K.?" Ein Vortrag Freerk Huiskens über das Thema kann im Internet unter www.kritische-studenten.de/print/Vortragfh0502.htm nachgelesen werden. Günter Platzdasch im Neuen Deutschland vom 26.4.2003

Leseprobe 1

Einleitung

Es gibt Sachverhalte, die werden durch die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion mit falschen Erklärungen, mit Mutmaßungen, Ideologien und moralischen Ergüssen dermaßen zugeschüttet, dass ihr Kern erst mühsam freigelegt werden muss, bevor überhaupt mit einer gescheiten Erklärung begonnen werden kann. Beim Thema »Jugendgewalt« handelt es sich um einen solchen Sachverhalt. In der Regel wird er durch die öffentliche Debatte so vollständig verrätselt, dass er kaum noch zu erkennen ist. Ohne den Sachverhalt selber genauer unter die Lupe genommen zu haben, werden erst einmal die üblichen Verdächtigungen aufgefahren: Die Gewaltvideos und Computerspiele werden problematisiert, eine gestörte Persönlichkeit diagnostiziert, das Aggressionspotenzial im Menschen angeführt usw. Und so verhielt es sich auch in diesem Fall, dem Amoklauf eines Schülers im April 2002 in einem Erfurter Gymnasium, dem mehr Menschen zum Opfer gefallen sind als bisher bei vergleichbaren Anschlägen auf Schulen im In- und zivilisierten Ausland. Es begann wie immer: Ein Klima tiefster Betroffenheit wurde sofort hergestellt, die Tat zum singulären, unerklärlichen, unfassbaren Mysterium verfabelt, allenthalben die Verrohung in den Medien beklagt – natürlich in den Medien selbst und von ihren Protagonisten – und in der Psyche des Täters herumgestochert, getragen von dem einhelligen Befund, der müsse jeden Realitätsbezug verloren haben, folglich eine gestörte Persönlichkeit gewesen sein. Dennoch ist an der Diskussion über Erfurt etwas Neues zu bemerken. Je länger sie nun schon andauert, desto deutlicher schält sich heraus, dass das Schulwesen selbst, also nicht nur das Gymnasium in Erfurt, die dortige Schulleitung oder die thüringische Schulpolitik, sondern ganz allgemein das Schulwesen ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt. Die dezent aufgeworfene Frage, ob vielleicht im deutschen Schulsystem irgend etwas falsch läuft und Anlass zu diesen Taten gegeben hat, führte zu bemerkenswerten Antworten. Plötzlich wurde von allen Seiten der Leistungsdruck, der an unseren Schulen herrscht, zum Thema gemacht. Irgendwie wird inzwischen mehr behauptet als nachgewiesen, dass der Fall des Robert S. etwas mit schulischem Auslesedruck zu tun haben könnte. Nun, allzu schwer war dieser Schluss wirklich nicht, wo jedermann von dem Druck weiß, der in Schulen und besonders an den Nahtstellen des dreigliedrigen Systems herrscht, wo zudem in jeder Zeitung stand, dass dieser Schüler von der Schule verwiesen bzw. vom Abitur ausgeschlossen worden war, man folglich seine Tat nicht gänzlich fehldeutet, wenn man sie als Racheakt einordnet. Nicht dass man damit im Schulsystem die Ursache für das Massaker hätte ermitteln wollen; nicht dass irgend jemand, der in der Republik in Sachen Bildung etwas zu sagen und zu entscheiden hat, nun das Leistungsprinzip oder die Dreigliedrigkeit abschaffen wollte. Aber über es nachdenken sollte man schon einmal. Und man tat und tut es. Dass sich beide Abteilungen des »Nachdenkens« über den Fall von Erfurt auf den ersten Blick widersprechen, hat in der öffentlichen Beratschlagung über die Tat wenig Irritationen ausgelöst. Den Anschlag zu einem »singulären« Ereignis zu erklären, gleichzeitig aber die Frage aufzuwerfen, ob sie etwas mit dem deutschen Schulsystem zu tun hat, ist für pluralistisch geschultes Debattenpersonal ohnehin kein Problem. Aber vielleicht löst sich der Widerspruch ja auch auf den zweiten Blick auf. Wenigstens haben sich die Rednerinnen und Redner der nationalen Trauerfeierlichkeiten – an ihrer Spitze der Bundespräsident – Mühe gegeben, die Schulkritik ebenso aufs rechte Gleis zu führen, wie dieselbe mit den Befunden über den ausgerasteten Schüler zu vermitteln. Und an welche Debattenlinie die regierungsamtlichen Maßnahmen »nach Erfurt« angedockt haben, kann auch nicht überraschen: Für die Politik ist so ein Anschlag erst einmal nur Gewalt, von deren Ausübung bzw. Nachahmung die Jugend abgehalten werden muss. Damit ist aufgezeigt, wie die Untersuchung im Folgenden zu verlaufen hat. Natürlich kommt man nicht umhin, sich beiden Debattenlinien genauer zuzuwenden. Denn aus ihrer Überprüfung folgt erst, was es am Fall Robert S. noch zu klären gilt. Dessen Anschlag war allerdings durch die Inszenierung von Betroffenheit längst zum Politikum avanciert, das sich einerseits national-moralischer Betreuung erfreute, das andererseits zum Beleg für die Handlungsfähigkeit der amtierenden Regierung aufstieg: Die Trauerfeier und die »schnellen Reaktionen« von Rot-Grün müssen also gleichfalls gewürdigt werden. Nur eine Frage bleibt im Rahmen meiner Untersuchung unbeantwortet: Was denn nun der Schule zu empfehlen ist und welche Maßnahmen die Politik ergreifen muss, damit sich »so etwas« nicht wiederholt. Warum ich darauf die Antwort schuldig bleibe, das allerdings wird geklärt werden.

Inhalt:

Vorbemerkung
Einleitung
Kapitel 1
Die üblichen Verdächtigungen

Die Tat – ein »unfassbares« Mysterium
  Auffällig unauffällig
  Lehrerprobleme
Gewaltimitation
  Determinationstheorie
  Anregung und Anstiftung soll man nicht verwechseln
  Gewalt ist kein Zweck
  Sortierte Gewaltächtung
  Gewalt in der Tagesschau bildet
Gestörtes Wirklichkeitsbild
  Krankhaft übersteigertes Geltungsbedürfnis
  Scheinwelten...
  ... und gestörter Wirklichkeitsbezug
Kapitel 2
"Liegt es an der Schule?"

Ein unüblicher Verdacht und seine passende Entsorgung
Schulkritik
"Konkurrenz aushalten"
Erziehung zur "Frustrationstoleranz"
Kapitel 3
Beleidigtes Selbstbewusstsein und gekränkte Ehre

Schulopfer Robert S.
 Persönlich genommen
Vom Versagen zum Versager
Selbstbewusstseinskult und Anerkennungswahn
  Einbildungen über die Ursachen von Erfolg und Misserfolg
  Selbstwertbilanz
  Recht und Ehre
  Mangel an Selbstbewusstsein?
Kasten: Wilhelm H. über Robert S.: Neuer Wein in alten Schläuchen!
Kapitel 4
Der Staat zeigt Flagge: Sofortmaßnahmen gegen unbefugte Jugendgewalt

Staatsschutz...
... als Jugendschutz
Kasten: Triumph der Meinungsfreiheit
Kapitel 5
Nationale Trauerarbeit

Erfurt als Schulthema
Erfurter Trauerfeier
  Der Bundespräsident: "Wir brauchen Netzwerke aus Mitmenschlichkeit"
  Die Schülerin: Die Schule ist ein Netzwerk aus Mitmenschlichkeit
Debatte
Gewaltvideos und Computerspiele
Gewalt-Debatte
Verständnis für Robert S.?
Hier und Heute
Warum gerade Robert S.?
Warum hat sich Robert S. umgebracht?
Rund um den Selbstbewusstseinskult
Schule
Was tun? Was tun!
Anhang
Schulpsychologische Ratschläge
Ein Brief an das Kollegium
Rede von Bundespräsident Johannes Rau zum Gedenken an die Opfer des Mordanschlages vor dem Dom zu Erfurt

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