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Michel Aglietta/Joachim Bischoff/Paul Boccara/Wolfgang F. Haug/Jörg Huffschmid/Immanuel Wallerstein

Umbau der Märkte

Akkumulation – Finanzkapital – Soziale Kräfte

284 Seiten | 2001 | EUR 20.40 | sFr 36.00
ISBN 3-87975-829-8 1

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Ende der 70er Jahre hatten sich die Innovationspotenziale in den kapitalistischen Hauptländern erschöpft. Die Folgen: Wachstumsschwäche, Arbeitslosigkeit, Verschärfung der Verteilungskonflikte – schließlich: gesellschaftliche Stagnation und politische Blockaden. Die These des Historikers Immanuel Wallersteins lautet: das System der kapitalistischen Weltwirtschaft ist in lange Wellen – Kondratieff-Zyklen – eingebettet. Die ersten 30 Jahre dieses Zyklus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erscheinen aus heutiger Sicht als das »Golden age« des »Jahrhunderts der Katastrophen«.

Die anschließende Niedergangsphase wird – Wallerstein zufolge – auch noch den Beginn des neuen Jahrhunderts prägen.

Dagegen steht die These:
Wir haben den Übergang in eine neue Epoche kapitalistischer Entwicklung bereits durchlaufen. Durch die Digitalisierung der Produktion, das Internet bzw. die Neue Ökonomie konnten die Krisen des fordistischen Akkumulationsprozesses überwunden werden. Sind also die Informations- und Kommunikationstechnologien eine neue Basisinnovation, mit der eine neue lange Welle – ein neuer Kondratieff-Zyklus – begonnen hat?

Dieses Buch enthält die wichtigsten Beiträge einer Diskussion der europäischen Linken über die Einordnung der aktuellen Entwicklungstendenzen in den Metropolen des Kapitals.

Leseprobe 1

Elisabeth Gauthier
Zeitgenössischer Kapitalismus Die in diesem Band veröffentlichten Beiträge waren Diskussionsgrundlage und Ergebnis des ersten Arbeitstreffens des europäischen Seminars »Zeitgenössischer Kapitalismus« (Draveil / Paris, 1.-2. Juni 2001), zu dem Espaces Marx (Frankreich), in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift »Sozialismus«, den Anstoß gegeben hatte. Die in Frankreich, Deutschland, Italien und anderen europäischen Ländern stattfindenden Diskussionsprozesse der politischen Linken über Tendenzen, Widersprüche im Kapitalismus und mögliche Alternativen sollten bei diesem Treffen aufeinander bezogen und erörtert werden. Die etwa 70 Anwesenden aus mehreren europäischen Ländern stimmten darin überein, dieses Seminar zu einer ständigen Einrichtung mit einer jährlichen Konferenz zu machen, deren Vorbereitung für 2002 von Vertretern der Rosa Luxemburg Stiftung (Berlin), Espaces Marx (Paris), »Sozialismus« (Hamburg) und der italienischen »Commission recherche«, in Kooperation mit anderen Arbeitsgruppen und Netzwerken, übernommen wurde. In einer Zeit, in der in vielen Strömungen, Gruppierungen und Parteien der politischen Linken über die Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft debattiert und über politische Alternativen zum »Shareholder Kapitalismus« und seine gesellschaftlichen Auswirkungen nachgedacht wird, geht es auch darum, transnationale Orte einer offenen Auseinandersetzung und Arbeitsstrukturen zu schaffen, die es fortschrittlichen und marxistisch inspirierten Kräften erlauben, Analysen, Erkenntnisse, Alternativvorstellungen zu konfrontieren und emanzipatorische Ansätze gemeinsam weiterzutreiben. Die unterschiedlichen Positionen der TeilnehmerInnen sind damit Voraussetzung einer fruchtbaren Debatte. Das erste Treffen wurde von den Beteiligten positiv aufgenommen. Es konnten einige drängende Themen behandelt werden: die allgemeine Einschätzung der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus, eine Analyse der heutigen Produktionsweise, die Beziehung von Finanzsektor und Gesellschaft, der Stand der Überlegungen zu alternativen Strategien. Einschränkend ist festzuhalten, dass die – überwiegend von Ökonomen – dargelegten Standpunkte sich auf die Entwicklungen in den kapitalistischen Hauptländern konzentrierten. In einer Periode tiefgehender Umwälzungen im Kapitalismus besteht eine der zentralen Schwierigkeiten darin, die unterschiedlichen Entwicklungsfaktoren nicht nur zu identifizieren, sondern auch zueinander in Bezug zu setzen, das Neue herauszuarbeiten und es dabei weder zu über- noch zu unterschätzen. Die Frage der ökonomischen Zyklen provozierte eine Kontroverse über die aktuelle Entwicklungsphase des Kapitalismus, die zentralen Inhalte der vor sich gehenden Umwälzungen, den Grad der Fragilität, die Bestimmung älterer und neuerer Faktoren der Instabilität, die Frage nach den Charakteristika einer Systemkrise und ihre potenzielle »Überwindung« in reaktionären oder fortschrittlichen Varianten. Umfang und Bedeutung der gegenwärtigen Revolution der Produktivkräfte, die darin enthaltenen Potenziale für Domination oder Befreiung, die Natur der sich neu entwickelnden Widersprüche standen zur Debatte. Bezüglich der Alternativen wurde im Grunde die Frage Reform/Revolution angesprochen, die Notwendigkeit neuer transformatorischer Regulationen, einer neuen Verbindung zwischen Sozialem, Ökonomischem und Politischem im Sinne einer Offensive zu Gunsten eines neuen Entwicklungsmodells, der Durchsetzung von neuen Rechten für die Bürger, von neuer politischer Macht nicht nur für die Staaten, sondern darüber hinaus die Gesellschaften. Obwohl die sich im internationalen Maßstab entwickelnde Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung einen neuen Horizont zu eröffnen scheint, muss doch zumindest für den europäischen Raum festgestellt werden, wie sehr sich die Linke – auch auf Grund eines mangelnden Verständnisses des zeitgenössischen Kapitalismus und der Ausweitung seiner Herrschaft auf alle Bereiche der menschlichen Aktivitäten – schwer tut, offensive Positionen zu entwickeln. Für die nächsten Konferenzen kristallisieren sich als Themen heraus: Macht und Eigentum im zeitgenössischen Kapitalismus – neue Konzeptionen der sozialen Aneignung (November 2002), Soziale Klassen, Konfrontationslinien in den heutigen Klassenauseinandersetzungen, Akteure der sozialen Transformation (Sommer 2003).

Leseprobe 2

Richard Detje
Die Linke in einer Zeit des Erdrutsches 1. »Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war seit 1973 die Geschichte einer Welt, die ihre Orientierung verloren hat und in Instablität und Krise geschlittert ist.« (Hobsbawm 1995: 503) Der »Erdrutsch« in den ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen, ausgelöst durch die erste große Weltwirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte Mitte der 70er Jahre, wurde den meisten Zeitzeugen erst durch den Zusammenbruch der Welt des »real existierenden Sozialismus« gegenwärtig. Im Zuge dieser zeitversetzten Krisenprozesse wurde offenkundig, dass die »zweite Linke«, die seit dem 19. Jahrhundert die politische Organisierung der Arbeiterbewegung betrieben hatte, »an ihrem Ende angelangt« war. (Hobsbawm 2000: 125) Durch eine partielle Orientierung an den »neuen sozialen Bewegungen« hofften Teile der sozialdemokratischen wie auch kommunistischen Parteien eine Revitalisierung erfahren zu können. »Doch diese dritte Linke spielt politisch keine große Rolle, und ihre zunehmende Attraktivität verdankt sie hauptsächlich der Krise der traditionellen politischen Linken.« (ebd.) Wo schließlich rot-grüne Regierungen das Erbe gescheiterter neoliberaler Regime antraten, bleiben Erneuerungsimpulse weitgehend aus; von den AktivistInnen der Frauen-, Umwelt- und Friedensbewegung haben sich diese Regierungen weitgehend entfremdet. Die britische und deutsche Sozialdemokratie sehen sich zur Zeit als Speerspitze eines neuen Revisionismus (Sassoon 1997: 734). »Neue Zeiten und Alte Linke passen einfach unter keinen Umständen zusammen.« (Giddens 2001: 37) Folgt man den Konzeptionen der sozialdemokratischen Modernisierer, dann bedeuten die »neuen Zeiten«: Ein globaler und flexibler Kapitalismus lässt eine Politik der Steuerung der Kapitalakkumulation ins Leere laufen. Wirtschaftssteuerung ist nur noch mit dem Kapital, nicht gegen das Kapital möglich. Die Eckpunkte einer modernen Wirtschaftspolitik lauten: Optimierung des Wirtschaftsstandorts, Investitionen in das »Humankapital« der Arbeitskraftunternehmer, Förderung der »Wissensökonomie«, Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte. »Neue Zeiten« erfordern zweitens: Soziale Gerechtigkeit als Ziel sozialdemokratischer Politik muss neu definiert werden in dem Sinne, dass ein gewisses Maß an sozialer Ungleichheit unverzichtbar ist, um permanente Innovationen erzeugen zu können. Daraus folgt drittens, dass der Wohlfahrtsstaat grundlegend umgebaut werden muss: Den Schutz vor den sozialen Folgen kapitalistischer Entwicklung müssen die Gesellschaftsmitglieder zunehmend selbst organisieren; der Staat fördert dies, tritt aber nicht mehr als Garant für soziale Sicherheit und Bewahrung des Lebensstandards auf. Die Kritik der »Neuen Sozialdemokratie« fällt nicht schwer. »Instabilität und Krise« halten die Protagonisten des »dritten Weges« bereits für überwunden; in den »Zwillingsrevolutionen von Globalisierung und Wissensökonomie« (ebd: 180) sehen sie den Beginn einer neuen Prosperitätskonstellation. Dass auf beiden Seiten des dritten Weges die sozialen Gräben der kapitalistischen Klassengesellschaften breiter werden, derart, dass sich der Pfad für die Leistungsträger der »neuen Mitte« verengt, wird ignoriert. Daraus erwachsen schließlich autoritäre Versuche der Pazifizierung sozialer Widersprüche (zur Kritik siehe Bischoff/Detje 2001). Von einem Aufbruch in neue Zeiten ist außerhalb der Milieus der Modernisierer wenig zu spüren. Stattdessen nehmen Zukunftsängste und politische Verdrossenheit zu. Warum eigentlich? Wo steckt die »linke Linke«? Warum überzeugt sie nicht die sozialen Schichten, die von den sozialdemokratischen Modernisierern links liegen gelassen werden? Die Strategie von Linkssozialisten und Kommunisten, den Druck auf die Sozialdemokratie zu verstärken, wenn diese die Fahne der sozialen Gerechtigkeit einholt, und stärker zu werden, in dem Maße, wie die Sozialdemokratie auf der Linken Terrain freigibt, geht allem Anschein nach nicht auf. Antworten werden in unterschiedlichen Richtungen gegeben. Einige verweisen auf den Bleimantel der jüngeren Geschichte. Dabei steht das Scheitern des »Realsozialismus« im Vordergrund. Das ist nicht falsch, aber auch nicht hinreichend. Denn die Krise hatte die linke Linke längst vor 1989 erfasst. Andere sehen die Erklärung darin, dass der schöne Schein der kapitalistischen Verhältnisse – new economy, Dienstleistungsgesellschaft, Wissengesellschaft usw. – sich nur langsam auflöse. In dem Maße jedoch, wie »Kapitalismus pur« erzeugt werde, werde sich Grundsatzkritik wieder Gehör verschaffen können. In der Zwischenzeit müsse die linke Linke das Erbe der alten Sozialdemokratie verwalten und sich als Verteidiger des traditionellen Sozialstaats profilieren. Doch Perspektiven in einer Welt, »die ihre Orientierung verloren hat«, erwachsen hieraus nicht. Zum einen, weil die unverzichtbare Überwindung realsozialistischer Traditionen – die immer auf Länder an der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems bezogen waren – selbst noch keine hinlänglichen Antworten gibt auf die Transformation von hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften. Zum anderen und vor allem, weil die Veränderungen im Kapitalismus letztlich nur als Rückentwicklungen wahrgenommen werden, die den Wahrheitsgehalt von Monopol- und Imperialismustheorie neu unter Beweis stellen würden. Hier liegt das Problem. Die Zukunft des Kapitalismus liegt nicht, wie relevante Teile der sozialistischen und kommunistischen Linken annehmen, in der Vergangenheit. Im Grunde hatte die linke Linke weder für die vergangene Formation des Kapitalismus, den Fordismus, eine Strategie der Regulierung – hier überließ sie der Sozialdemokratie das Terrain weitgehend –, noch kann sie die Anforderungen an die Gestaltung einer neuen gesellschaftlichen Betriebsweise, damit des Verhältnisses von Ökonomie, Zivilgesellschaft und Staat, ausweisen. 2. Der Fordismus schrieb den Gewerkschaften eine Schlüsselrolle zu. Das fordistische Akkumulationsregime (d.h. der Zusammenhang von materiellen Produktionsbedingungen und gesellschaftlichem Verbrauch) basierte neben der Internationalisierung der Märkte (durch die Bretton Woods-Institutionen) wesentlich auf der Expansion der Lohnform und der Lohnfonds. Im Prozess der »inneren Landnahme« fließt beides zusammen: die Verallgemeinerung der Lohnarbeit und die Partizipation der Lohnabhängigen am gesellschaftlichen Reichtum. Das spezifische Artikulationsverhältnis mit der Regulationsweise als der Gesamtheit der institutionellen Formen verlief über die Gewerkschaften, und zwar auf mehreren Ebenen: (a) dem Tarifsystem, das einen stabilen Modus für die Nutzungsbedingungen der Arbeitskraft (Rahmentarifpolitik) und die Primärverteilung von Lohnarbeit und Kapital (Entgeltpolitik) schuf, und zwar von vornherein auf gesamtwirtschaftlicher Basis (indem Produktivität, Preisentwicklung und Verteilung immer makroökonomisch und nicht sektoral, schon gar nicht betrieblich verstanden wurden);
(b) der Entwicklung spezifischer Formen industrieller Demokratie, die in Westdeutschland mit dem Betriebsverfassungsgesetz und der Unternehmensmitbestimmung eine stark verrechtlichte Struktur erhalten hat;
(c) dem Ausbau des Sozialstaates als institutionalisiertem System der Sekundärverteilung, damit der Stützung der gesellschaftlichen Nachfrage und der Stabilisierung eines breiten sozialen Blocks der aktiven und passiven Teile der lohnabhängigen Klassen (Rentner, Jugendliche, Arbeitslose) sowie der expandierenden lohnabhängigen Mittelklassen. Damit waren schließlich (d) die materiell-sozialen Bedingungen für den »Eintritt der Massen in die Politik« (Ingrao) geschaffen: für den Ausbau der Zivilgesellschaft ebenso wie für die Ausweitung der Staatsfunktion (seiner »linken Hand«, Bourdieu; des »integralen Staates« i.S. Gramscis). Die Regulation des fordistischen Kapitalismus ist somit in einem Zusammenspiel von gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Initiativen vorgenommen worden. Das gilt für den Flächentarifvertrag und die Regulierung der tayloristischen Arbeitsorganisation ebenso wie für das »Normalarbeitsverhältnis« und das daran gebundene Sozialsystem. Die Ausgestaltung des Fordismus war selbstredend keine planmäßige Entwicklung, sondern vollzog sich als eine »passive Revolution«, bei der allerdings erfolgreiche gewerkschaftliche Kämpfe immer wieder den Zündsatz für gesellschaftliche Reformen bildeten. Das propagandistische Bild von der »Lohnmaschine« verkennt, dass den Gewerkschaften im Fordismus eine Schlüssel- oder Scharnierfunktion zukam, die von vornherein ein politisches Mandat einschließt. 3. In der Krise des Fordismus verändert sich das Akkumulationsregime angebots- wie nachfrageseitig. Die Massenproduktion entwickelt sich weiter zu einer Produktion flexibler Spezialisierung, die Absatz auf differenzierten Käufermärkten finden muss, wobei der entscheidende Punkt ist: Die Vermittlung erfolgt nicht mehr über erweiterte Lohnfonds. Die Gewerkschaften verlieren ihre regulative Schlüsselrolle. (a) Mitte der 70er Jahre erreicht die Lohnquote ihren Höhepunkt; seitdem erleben wir eine auf Permanenz gestellte Umverteilung zugunsten der Real- und Geldkapitaleinkommen, so dass bereits vor der Milleniumswende die verteilungspolitischen Erfolge des fordistischen Golden Age wieder einkassiert sind. Exportorientierte Modernisierung oder Standortpolitik heißen die Leitlinien zur Vitalisierung der Akkumulation, nicht mehr Massenkaufkraft und Binnennachfrage.
(b) Das »Epochenprojekt« der Demokratisierung der Wirtschaft verschwindet von der Tagesordnung. Auch wenn es bereits mehr und mehr auf korporative Aushandlungssysteme »kleingearbeitet« worden war, blieb doch bis in den Spätfordismus das politische Projekt zumindest dem Anspruch nach erhalten. Davon kann heutzutage keine Rede mehr sein: als moderne Form der Mitbestimmung wird Wettbewerbspartnerschaft propagiert; an die Stelle der Demokratisierung als Instrument zur Veränderung (wie weitreichend auch immer) der kapitalistischen Produktionsweise tritt eine neue »Friedensformel... um die Ausrichtung des Beschäftigungssystems auf die Imperative gemeinschaftlicher Wettbewerbserfolge..., während die vorherigen industriellen Beziehungen unabhängig von wirtschaftlichen Schwankungen auf die stabile Stellung der Arbeiter und Gewerkschaften zielten.« (Streeck).
(c) Der Staat löst sich nicht in den Markt auf. »Kapitalismus pur« kann es nicht geben, auch wenn der Neoliberalismus dieser Fiktion immer wieder Nahrung gab. Adäquater ist das Modell eines »aktivierenden Staates«, der die Rahmenbedingungen für die Verwertbarkeit der Ware Arbeitskraft schafft: Qualifikation, Flexibilität, Mobilität. Was die Verfechter des »dritten Weges« unter sozialer Gerechtigkeit verstehen und als »positive Wohlfahrt« beschreiben, hat mit dem traditionellen Wohlfahrtsstaat kaum noch etwas gemein, halten sie diesen doch für »prinzipiell undemokratisch« (Giddens). Damit stehen Gewerkschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor einer neuen Situation: Für eine Politik der erneuerten Regulierung der kapitalistischen Akkumulation und der Zurückdrängung von Ausbeutung und Entfremdung der Lohnarbeit haben sie keinen »natürlichen« Vertreter im politischen System. Das politische Mandat muss als eigenständiges Projekt autonomer Gewerkschaftspolitik entwickelt und selbständig vertreten werden. Das politische Mandat muss in doppelter Hinsicht neu begründet werden: zum einen, weil die Gewerkschaften aus der regulatorischen Schlüsselrolle, die ihnen im Fordismus zukam, verdrängt sind; zum zweiten, weil die Politik der Neuen Sozialdemokratie dem gewerkschaftlichen Reformprojekt der Zivilisierung des Kapitalismus zuwiderläuft. Solange auf der Ebene des Lohns kein neuer Regulationsmodus erkennbar ist (das schließt Reallohn-/Soziallohn, Qualifikation, Arbeitszeit und -intensität sowie die Gestaltung der Arbeitsbedingungen ein), solange kann es keine neue gesellschaftliche Betriebsweise geben. 4. Ausgangspunkt der gewerkschaftlichen und politischen Linken kann nicht nur sein, dass sie an der Notwendigkeit der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsformation als Bedingung für die Emanzipation der Lohnabhängigen festhalten. Im Gegensatz sowohl zum sozialdemokratischen wie neokonservativen Politikansatz hat die linke Linke davon auszugehen, dass die Überwindung der Krise der fordistischen Epoche des Kapitalismus nicht im Selbstlauf der ökonomischen Entwicklung erfolgt. Die Durchsetzung eines neuen Akkumulationsregimes »als Modus einer verwertungskonformen Verbindung gesellschaftlicher Produktionssektoren und Klassenstrukturen« (Hirsch 2001: 42) erfordert eine entsprechende politische Vermittlung, indem die sozialen Klassen auf die ökonomische Basis zurückwirken. Eine neue Formation gewinnt dann eine »gewisse Stabilität, wenn sich eine politisch-institutionelle Regulationsweise herausbildet, die es gestattet, die darin liegenden spezifischen Widersprüche mit den kapitalistischen Grundstrukturen vereinbar zu halten.« (ebd.) Der weitere Verlauf des Umbruchsprozesses in den kapitalistischen Metropolen ist Resultat sozialer Auseinandersetzungen – des Ringens um Hegemonie – und nicht kontingent, wie Sozialdemokraten und Neokonservative in einem kruden ökonomistischen Missverständnis mit ihrer Redeweise von der Alternativlosigkeit der vermeintlich sachzwanglogisch verlaufenden Entwicklung meinen. 5. Aglietta sieht im Shareholder-Kapitalismus bereits eine neue Formation: das Regime der Vermögensbesitzer. Hier wird im Gegensatz dazu die These vertreten, dass die relative Verselbständigung der Geldkapitalakkumulation eine Entwicklungsetappe darstellt, die die Krise des Fordismus verlängert und Auswege daraus verschließt. In mehrfacher Hinsicht: Die Expansion der Finanzmärkte ist eine Folge der Überakkumulation von Kapital, das mit dem Erschöpfen der fordistischen inneren Landnahme keine hinreichend profitablen Anlagesphären mehr findet, während die hohe Nachfrage nach Geldkapital (u.a. als Folge der Staatsverschuldung) die Renditen steigen lässt. Daraus resultiert eine fortschreitende Deformation der Verteilungsverhältnisse zulasten des Realkapitals und der Lohnarbeit, da die Ansprüche des Geldkapitals in erster Linie bedient werden wollen, was den Zwang zur Intensivierung der Ausbeutung der Lohnarbeit verstärkt, da die erwartete Profitrate an den Renditen auf den Finanzmärkten ausgerichtet wird. Die Folgen sind weitreichend:   der Massennachfrage wird Kaufkraft entzogen, die Umverteilung zugunsten der Kapitaleinkommen ist auf Permanenz gestellt, der gesellschaftliche Reproduktionsprozess ist verteilungspolitisch fragil;   die Massenarbeitslosigkeit bleibt auf hohem Niveau und der Druck zur Verbilligung der Lohnarbeit polarisiert die sozialen Verhältnisse durch Ausweitung der working poor;   die Intensivierung der Ausbeutung raubt innovativen Systemen der Arbeitsorganisation den zur Herausbildung der Produktivkraft erforderlichen längeren Atem; das Innovationspotenzial wird verringert;   weltweit nimmt die Krisenbetroffenheit zu, während die Steuerungsfähigkeit der Staaten und internationalen Organisationen (IMF, Weltbank, Zentralbanken, G7 etc.) durch die Deregulierung der Kapitalmärkte herabgesetzt ist. Für die Regime des so genannten »rheinischen Kapitalismus« ist es sehr zweifelhaft, ob der massive Fall der Lohnquote in den vergangenen zwei Jahrzehnten – der wiederum Motor der exportgetriebenen Modernisierungsstrategien war – durch Einkommen, die auf den Finanzmärkten erzielt werden, auch nur annähernd kompensiert werden kann. Vermögensberichte weisen aus: Die Hälfte der privaten Haushalte ist gänzlich ohne Vermögen. Insofern droht sich die Erfahrung der endzwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu wiederholen, dass »eine Anhäufung von Vermögen ... bei einem Vorwiegen von Bedingungen des laissez-faire einem angemessenen Niveau der Beschäftigung und einer dem technischen Stand der Erzeugung entsprechenden Lebenshaltung im Wege stehen kann.« (Keynes 1983: 183) Für die Entwicklung der gesellschaftlichen Betriebsweise heißt das: Ohne Überwindung dieser Widersprüche ist die Herausbildung einer nachfordistischen Formation blockiert. Nicht, weil eine neue Formation krisenfrei und stabil zu sein habe – derartiges wird es im Kapitalismus nicht geben –, sondern weil eine neue Formation realwirtschaftlich fundiert sein muss. 6. Die Protagonisten der modernisierten Sozialdemokratie sehen den Strukturwandel in den kapitalistischen Metropolen als Resultat einer technologischen Basisentwicklung – aus den I+K-Technologien entsteht zwangsläufig die Wissens- oder Informationsgesellschaft –, was zu der Hoffnung verleitet, an der Schwelle einer neuen langen Welle prosperierender ökonomisch-sozialer Entwicklung zu stehen. Derartige Erwartungen sind illusionär. Für das Gros der produktionsorientierten oder unternehmensbezogenen Dienstleistungen gilt, dass ihre Expansion kaum den Beschäftigungsabbau klassischer Industriearbeit kompensiert, da es sich hier meist um hochproduktive Sektoren handelt. Demgegenüber ist die Entwicklung der konsumorientierten Dienste durch die Begrenzung der Masseneinkommen bzw. die Politik der Senkung der Staatsquote gehemmt, also auch nur ein sehr bedingt vorantreibendes Element des Strukturwandels. Strukturwandel muss in einen Prozess innerer Landnahme münden, muss in neue Wachstumsfelder vorstoßen, wenn kein Null- oder gar Negativsummen-Spiel dabei herauskommen soll. Zwischen der Landnahme und dem Beschäftigungssystem besteht ein enger Zusammenhang, allerdings nicht nur in der banalen Hinsicht, dass Wachstum Arbeitsplätze »schafft«, sondern auch dahingehend, dass ein überkommenes Erwerbssystem die Beschäftigungsentwicklung blockieren kann. Es spricht einiges dafür, dass dies beim patriarchalischen Arbeitsverhältnis der Fall ist, entspricht diesem doch eine selbst zu Beginn des 21. Jh. weitreichende Privatisierung der generativen, individuellen, familiären Reproduktion. »So widersinnig es auf den ersten Blick aussieht, wahrscheinlich ist die Erhöhung der Frauenerwerbsquote eine zentrale Bedingung für die Verringerung der Arbeitslosigkeit.« (Baethge 2000: 155) Dann nämlich, wenn infolge zunehmender Erwerbstätigkeit der Frauen die Nachfrage nach haushaltsbezogenen Diensten, nach Angeboten im Bildungssektor, nach Pflegediensten, nach gastronomischen Angeboten usw. steigt. Die Feminisierung der Arbeit muss nicht auf die umfassendere Kapitalisierung der individuellen Reproduktion hinauslaufen. Vielmehr ist näher zu begründen, dass gemeinnützige, genossenschaftliche Organisationsformen der spezifischen Qualität der nachgefragten Dienste sehr viel besser entsprechen – die Feminisierung der Arbeit also mit dem Ausbau eines so genannten Dritten Sektors einhergehen sollte. Die Feminisierung der Arbeit kann aber nur dann befördert werden, wenn sie nicht in den gegenwärtigen Mainstream der Subventionierung von Niedriglohnbeschäftigung eingebettet wird. Der Niedriglohn-Pfad zementiert auf Kosten der Mehrfachbelastung der Frauen die geschlechtliche Arbeitsteilung und schafft gerade nicht die kaufkräftige Nachfrage nach sozialen, kulturellen und reproduktiven Dienstleistungen. Notwendig sind qualifizierte Arbeitsplätze. Damit ist ein ganzes Bündel von Reformen des Regulationsmodells angesprochen, dessen Elemente für die Zukunftsdebatte hier nur angedeutet werden können:   Erneuerung des Normalarbeitsverhältnisses,   Förderung eines Non-Profit-Sektors gemeinsam mit dem Ausbau der öffentlichen Infrastruktur in den Bereichen Erziehung, Bildung und Weiterbildung, Gesundheit, Pflege,   Neuverteilung der gesellschaftlichen Arbeitszeit,   Erweiterung des Angebots an qualifizierten Dienstleistungen auch in hergebrachten Bereichen wie Kreditinstitute und Versicherungen, statt die Arbeit qualifikatorisch auf low levels herunterzufahren und Dienste möglichst zu technisieren, was sich heute schon vielfach als Sackgassenstrategie erweist. 7. Seine hohe Produktivität erzielte der Fordismus durch die weitgehende Separierung von planenden, dispositiven Arbeiten und der in die einzelnen Arbeitsvorrichtungen parzellierten ausführenden Arbeit auf dem shop floor. Dies geschah in einer streng hierarchisch gegliederten Unternehmung, die von der Bearbeitung der Rohstoffe bis zum Versand der Endprodukte alle Produktionsstufen umfasste. Mit der Differenzierung der Bedürfnisse und dem Zwang zur Produktion kleinerer Losgrößen verlor dieses System seine Überlegenheit. Das hierarchisch aufgebaute Unternehmen wird dezentralisiert; nehmen anderen Formen entwickeln sich Netzwerkstrukturen, dabei »übernehmen große, beherrschende ›fokale‹ Unternehmen steuernde Funktionen. Viele der anderen in das Netzwerk eingebundenen Unternehmen geraten dabei in eine abhängige Position mit eingeschränkter Autonomie.« (Moldaschl / Sauer 2000: 211) Das bringt nicht nur eine enorme Optimierung des Kapitaleinsatzes (z.B. das Verschwinden der für den Fordismus typischen großen Lagerhaltung und hohen Fixkapitalbindung), sondern neue Steuerungsmodelle, die man als »Kontrolle durch Autonomie« beschreiben kann und die das Ziel haben, Oberhead- oder Herrschaftskosten einzusparen und das Erfahrungswissen der Produzenten zu mobilisieren: »An die Stelle personaler Herrschaft tritt zunehmend die objektivierte Herrschaftsform des Sachzwangs, des Marktes, der Konkurrenz, der Kapitalrendite. Objektivierung oder Abstraktifizierung von Herrschaft verbleiben nicht auf der Ebene der Ideologie oder der Legitimation, sondern werden real.« (ebd: 212) Die Restrukturierung der Unternehmen durch Internalisierung des Marktes hat selbst noch über die Auflösung des fordistisch-tayloristischen Arbeitsverhältnisses hinausweisende Konsequenzen: außer der Marktsteuerung, die sich in Selbststeuerung der Beschäftigtengruppen übersetzt, gibt es – zugespitzt auf den Idealfall – keine verbindlichen Regelungen. Wo hergebrachte Lohn/Leistungsstandards mit objektivierten Mess- und Kontrollverfahren abgeschafft werden, greifen die bisherigen tarifvertragliche Vereinbarungen nicht mehr. Hilfreich wäre die Nutzbarmachung einer Erfahrung aus der Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung: in Bereichen qualifizierter Arbeit gelingt sie nur dann, wenn die Beschäftigten wirkungsvolle Mitbestimmungsrechte hinsichtlich der Organisation ihrer Arbeit, damit des Arbeitsvolumens bzw. des Personalschlüssels erhalten. Ähnlich verhält es sich bei der »Herrschaft durch Autonomie«: selbstgesteuerte Ausbeutung der Ware Arbeitskraft unter Marktdruck – »macht wie ihr es wollt, aber seid profitabel« – muss von den Beschäftigten selbst zurückgewiesen werden durch mehr Rechte bei der Arbeitsorganisation. Diese Rechte sind dann durchsetzungsmächtig, wenn es sich um qualifizierte Arbeit – nicht um leicht ersetzbare Jedermannsarbeit – handelt. Demokratisierung und qualifikatorische Aufwertung der Arbeit sind demnach die Schlüsselbegriffe. »Ein wichtiges Mittel, die hegemonialen Produktivitätsdefinitionen von Innen zu beeinflussen, könnten garantierte Beteiligungsrechte sein, die den Beschäftigten im Unterschied zu lediglich gewährter Partizipation Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen sichern und die zugleich strikte Weisungsverhältnisse z.B. durch eine Begründungspflicht für Anordnungen auflockert.« (Dörre 2000: 209) 8. Die gewerkschaftliche und politische Linke muss ihre europaskeptische Haltung überwinden. Das fällt nicht leicht. Frühe Erwartungen, die Zustimmung zum Deregulierungsprojekt »EU-Binnenmarkt« würde durch den Aufbau eines »sozialen Europa« honoriert werden, wurden enttäuscht. In Europa vollzieht sich ein »negativer Integrationsprozess«, bei dem im wesentlichen die Märkte die erforderlichen nationalen Anpassungsmaßnahmen bestimmen, eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik (die Forderung nach einer »Wirtschaftsregierung« seitens der französischen Linksregierung) und eine Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments aber abgelehnt wird. Unter diesen Bedingungen ist es unerlässlich, »die Grundlinien der bisherigen Europapolitik der Gewerkschaften neu zu überdenken und zu diskutieren. Der zentrale Widerspruch dieser Politik liegt darin, dass die bescheidenen Erfolge auf dem Felde der Sozialpolitik und der sozialen Kohäsion sowie der Anerkennung der Gewerkschaften im politischen System der EU die Hegemonie neoliberaler Projekte sowie den dominierenden Politikmodus der ›negativen Integration‹ und der ›Regime-Konkurrenz‹ nicht modifizieren. Ihre Anerkennung als politischer Akteur hat vielmehr die Anerkennung der ›Sachzwänge‹ des globalen Wettbewerbs und – genauer – der Verbesserung der Wettbewerbsposition des europäischen Kapitalismus im globalen Wettbewerb zur Voraussetzung. Wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt, in einer breiten Koalition politischer und sozialer Kräfte diese hegemoniale Struktur (die ihnen nur eine subalterne Rolle zugesteht) sowie den dominanten Politikmodus selbst in den Mittelpunkt einer Debatte über die Repolitisierung des europäischen Projektes zu stellen und dieses zu reformieren, dann sitzen sie in einer ›Anerkennungsfalle‹, die letztlich ihre strategische Autonomie und Handlungsfähigkeit auszehrt.« (Deppe 2001a: 52). Repolitisierung der europäischen Frage heißt aktive Einmischung in soziale Konflikte: gegen Betriebsstillegungen und Entlassungen, gegen das gegenseitige Ausspielen von Belegschaften in der Standortkonkurrenz; für soziale Mindeststandards in Europa, die der fortschreitenden Prekarisierung der Arbeit und der Ausbreitung von Armut einen Riegel vorschieben, für eine aktive Beschäftigungspolitik, die mit dem Primat der Sparpolitik bricht, und für eine substanzielle Erweiterung der Entscheidungs- und Machtbefugnisse des Europäischen Parlaments gegenüber Kommission und Ministerrat. Ein solches »soziales Europa« wäre auf dem besten Weg, eine soziale und nachhaltige Neuordnung der Weltwirtschaft in die Wege zu leiten. 9. Für jede soziale und politische Bewegung, die die Überwindung der Heteronomie der Arbeit zum Ziel hat, besteht die zentrale Herausforderung der Gegenwart darin, dass die Lohnarbeit in zunehmendem Maße fragmentiert und gespalten wird. Auf der einen Seite kommt es zu einer Kumulation sozialer Risiken und Notlagen im wachsenden Feld der prekären, zunehmend ungeschützten, niedrig entlohnten Arbeit, während gleichzeitig auf der anderen Seite neue Typen von qualifizierter, durchaus selbstgesteuerter Arbeit entstehen, die in hohem Maße flexibilisiert und intensiviert ist. »Zukunft« hat eine Organisation, die über Stützpfeiler auf beiden Seiten verfügt, also zum Brückenschlag in der Lage ist, statt sich auf der einen Seite zu verbarrikadieren. Mehr noch (und hier »trägt« das statische Bild von der Brücke nicht mehr): Die Herausforderung besteht darin, sich in beiden »Lagern« zu verankern, indem man sie verändert, d.h. indem man sich den Tendenzen der sozialen Spaltung, Fragmentierung und Ausgrenzung entgegenstellt. Organisationspolitik heißt nicht Anpassung an den Strukturwandel, sondern Veränderung der Entwicklungsdynamik hochentwickelter kapitalistischer Gesellschaften. Doch wo kann man dafür ansetzen, genauer: wer kann für eine solche Politik gewonnen werden? Geht man dieser Frage nach, zeigt sich schnell, dass die gewerkschaftliche und politische Linke in einer strategischen Sackgasse steckt. Die Nöte der anwachsenden, mehr oder weniger prekär beschäftigten Randbelegschaften sind immens, ihre Widerstandsmöglichkeiten aber sind begrenzt. Die Konkurrenz untereinander, ihre Fragmentierung und ihre geringen Drohpotenziale führen eher zu Marginalisierung denn zur Ausprägung von Gegenmacht. Dies gilt in zugespitztem Maße für die Masse der ausgegrenzten Arbeitslosen. Die Erwartung, eine »neue Proletarität« würde sich als Machtfaktor formieren, entspricht nicht den sozialen Verhältnissen. Aus diesen sozialen Gruppen haben die großen Massengewerkschaften auch nie ihre aktiven Kerne rekrutiert. Das tragende Fundament der Gewerkschaften war der Facharbeiter in seinen verschiedenen Formen – aus dieser Produktionsintelligenz rekrutierten die Gewerkschaften ihre »organischen Intellektuellen« (Deppe 2001b). Doch schon im Fordismus gelang es ihnen nicht mehr, die qualifizierte Arbeit insgesamt zu organisieren. Die strikte Trennung von ausführender (direkter) und disponierender (indirekter) Arbeit markierte meist auch die Grenze gewerkschaftlicher Organisationserfolge. Dieses Defizit wird im Zuge der Intellektualisierung der Arbeit zu einer Herausforderung ganz neuer Qualität. Denn die Gräben der tayloristischen Trennung von – verkürzt – Hand- und Kopfarbeit werden z.T. eingeebnet, z.T. auf ganz anderen Feldern und mit anderen Technologien neu gezogen – das klassische Rekrutierungsfeld der »Arbeiterintelligenz« gibt es immer weniger. Gleichzeitig nimmt der Umfang qualifizierter Arbeit zu. Die Rekrutierung der qualifizierten Lohnarbeiter wird damit mehr als je zuvor in der Geschichte des Kapitalismus zu einem Schlüsselproblem der Organisierung von Widerstands-, Gegen- und Gestaltungsmacht. Die Überwindung der Defensive wird maßgeblich davon abhängen, ob die Linke die neuen, sehr buntscheckigen Kategorien der »Wissensarbeiter« – die gleichsam der soziale Ausdruck der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte sind – für ihre Zukunftsperspektiven überzeugen kann. Nur unter dieser Voraussetzung kann Solidarität nicht nur (folgenlos) beschworen, sondern tatsächlich mit neuem Leben gefüllt werden. 10. Eine erneuerte Linke jenseits einer modernisierten Sozialdemokratie muss die sozialen und ökonomischen Bedingungen für die Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Betriebsweise zum Thema der sozialen Auseinandersetzungen um die »Zukunft der Arbeit« machen. Die daraus folgenden politischen Schwerpunkte sind erstens die Auseinandersetzung um eine Neuregelung der Arbeitszeit. Es geht um neue Schranken gegen die Maßlosigkeit des Kapitals in der Vernutzung der Ware Arbeitskraft (»Arbeit ohne Ende«) und um garantierte Partizipationsrechte der Beschäftigten in allen Fragen der Arbeitsorganisation, damit der Qualifikationsprofile und Personalbemessung – letztlich also um einen neuen Ansatz der Gestaltung des Systems der Lohnarbeit. Zweitens geht es in den Verteilungsauseinandersetzungen nicht nur darum, den Prozess der Ausweitung von Armut umzukehren, Lohndumping zu unterbinden und den Anteil der Lohneinkommen am gesellschaftlichen Reichtum nach zwei Jahrzehnten massiver Umverteilung zu steigern. Es geht auch darum, die finanzielle Austrocknung und Verschlankung des Staates zu stoppen, damit gesellschaftliche Aufgaben im Erziehungs- und Bildungssysten, in der Kultur, in der ökologischen Zukunftsvorsorge, in der Infrastruktur usw. auch gesellschaftlich erledigt werden können und damit der Teufelskreis von öffentlicher Armut, Privatisierung und Verschlechterung der Lebensbedingungen durchbrochen wird. Schließlich geht es um ein neues Verständnis von Politik. Gramscis Befund, dass die Politik im Fordismus von der Fabrik ausgeht und nur weniger politischer und ideologischer Vermittlungsglieder bedarf, trifft für das 21. Jahrhundert nicht mehr zu. Damit ist nicht nur das gesteigerte Gewicht der ideologischen Apparate – vor allem der visuellen Medien – angesprochen. Es geht um Grenzüberschreitungen: um die Erweiterung des politischen Mandats der Gewerkschaften, um ein neues Verständnis von Parteiarbeit, die zunehmend auf Ersatzfunktionen für massenmedial ausgerichtete Wahlkampfmaschinerien verstümmelt wird, und um neue Formen zivilgesellschaftlichen Engagements, damit neue, gleichberechtigte Bündnisse und Netzwerkstrukturen von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien. Wenn Formationswechsel gerade nicht einer linearen Entwicklungslogik folgen, sondern Ergebnisse von sozialen Kämpfen sind, muss sich die Linke konzeptionell und organisatorisch als eine Kraft erweisen, die Orientierung bietet in einer Welt, die ihre Orientierung verloren hat. Literatur
Baethge, Martin (2000): Der unendlich lange Abschied vom Industrialismus und die Zukunft der Dienstleistungsbeschäftigung, in: WSI-Mitteilungen 3, Düsseldorf.
Bischoff, Joachim/Detje, Richard (2001): Der dritte Weg und seine Kritiker, in: Wagner, Hilde, Hrsg.: Interventionen wider den Zeitgeist. Für eine emanzipatorische Gewerkschaftspolitik im 21. Jahrhundert, Hamburg.
Deppe, Frank (2001a): Gewerkschaften und europäische Integration, in: Bierbaum, Heinz u.a., Soziales Europa, Hamburg.
Deppe, Frank (2001b): Gewerkschaften und Intellektuelle, in: Wagner, Hilde, Hrsg., Interventionen wider den Zeitgeist, Hamburg.
Dörre, Klaus (2000): Arbeit, Partizipation und Solidarität im Aktionärskapitalismus, in: Widerspruch 39, Zürich.
Giddens, Anthony (2001): Die Frage der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a.M.
Hirsch, Joachim (2001): Weshalb Periodisierung?, in: Candeias, Mario/Deppe, Frank: Ein neuer Kapitalismus?, Hamburg.
Hobsbawm, Eric (1995): Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien.
Hobsbawm, Eric (2000): Das Gesicht des 21. Jahrhunderts. Ein Gespräch mit Antonio Polito, München/Wien.
Keynes, John Maynard (1983): Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin.
Moldaschl, Manfred/Sauer, Dieter (2000): Internationalisierung des Marktes – Zur neuen Dialektik von Kooperation und Herrschaft, in: Minssen, Heiner, Hrsg., Begrenzte Entgrenzungen, Berlin.
Sassoon, Donald (1997): One Hundred Years Of Socialism. The west european left in the 20th century, London.

Inhalt:

Elisabeth Gauthier
Zeitgenössischer Kapitalismus
Michel Aglietta
Die finanzielle Globalisierung
Suzanne de Brunhoff
Der Begriff des Finanzregimes
Eine marxistische Interpretation der Finanzkrisen
Jörg Huffschmid
Verteilungsfrage, Finanzmärkte und Gegenreform
Michael R. Krätke
Finanzmärkte im gegenwärtigen Kapitalismus
Riccardo Bellofiore
Der Kapitalismus der Rentenfonds
Joachim Bischoff
Ein neues Akkumulationsregime?
Bob Jessop
Nach dem Fordismus
Das Zusammenspiel von Struktur und Strategie
Immanuel Wallerstein
Die Marginalisierung der Dritten Welt und die Krise der Weltwirtschaft
Gérard Duménil / Dominique Lévy
Das Wesen und die Widersprüche des Neoliberalismus
Michel Husson
Surfen auf der langen Welle
Jean Magniadas
Globalisierung, transnationale Firmen und kapitalistische Ausbeutung
Wolfgang Fritz Haug
Thesen zu einer Kritik der Neuen Ökonomie
Herbert Schui
Industrialisierung, effektive Nachfrage und Globalisierung
Einige Bemerkungen zur Zukunft des Kapitalismus
Paul Boccara
Vorschläge zur Überwindung der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus
Richard Detje
Die Linke in einer Zeit des Erdrutsches
Textnachweise und Übersetzer

Autorenreferenz

Michel Aglietta, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Paris X-Nanterre, Frankreich Riccardo Bellofiore, Ökonom, Universität Bergamo, Italien Joachim Bischoff, Ökonom, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus, Hamburg Paul Boccara, Ökonom, Universität Picardie, Direktor der Zeitschrift »Issues« Suzanne de Brunhoff, Ökonomin, Mitarbeiterin am » Centre national de recherches scientifique« (CNRS), Paris Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift »Sozialismus«, Hamburg Gérard Duménil, »Centre nationale de la recherche scientifique« (CNRS), Paris Elisabeth Gauthier, Direktorin von Espaces Marx, Paris Wolfgang Fritz Haug, Professor für Philosophie am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin, Herausgeber der Zeitschrift »Das Argument« Jörg Huffschmid, Professor für politische Ökonomie und Wirtschaftspolitik an der Universität Bremen Michel Husson, Forschungsinstitut IRES, Frankreich Bob Jessop, Professor für Soziologie an der Universität Lancaster, England Michael Krätke, Professor für Politische Wissenschaften und Ökonomie an der Universität Amsterdam, Niederlande Dominique Lévy, »Centre national de la recherche scientifique« (CNRS), Paris Jean Magniadas, Institut de Recherches Economiques et Sociales de la CGT (L’ISERES), Frankreich Herbert Schui, Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg Immanuel Wallerstein, Historiker, Centre Fernand Braudel an der Universität Binghamton, USA

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