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Hans-Ulrich Deppe / Wolfram Burkhardt (Hrsg.)

Solidarische Gesundheitspolitik

Alternativen zu Privatisierung und Zwei-Klassen-Medizin

200 Seiten | 2002 | EUR 15.50
ISBN 3-87975-847-6 1

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Das Gesundheitswesen in Deutschland ist ohne Zweifel reformbedürftig. Die Frage ist, wohin die Reformen führen sollen: ob in die Richtung einer primär am Markt orientierten Zwei-Klassen-Medizin oder in die einer effizient organisierten und solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches plädieren für eine »Solidarische Gesundheitspolitik«. Sie analysieren die Schwachstellen des bundesdeutschen Gesundheitswesens. Statt populistischer Stichworte wie »Kostenexplosion«, »Missbrauch« und »Überversorgung« liefern sie Argumente für eine vernünftige, finanzierbare und moderne solidarische Gesundheitspolitik.

Leseprobe 1

Vorwort

Dieses Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem sich Weichenstellungen in der Gesundheitspolitik andeuten. Die verschiedenen Bereiche des historisch gewachsenen deutschen Gesundheitssystems sind dem Druck gruppenegoistischer Interessen nachhaltig ausgesetzt. Der Fortschritt der Modernisierungsschübe sowie die Probleme, die in der alltäglichen Praxis dieses Gesundheitssystems entstanden, sind der Nährboden des Transformationsdrucks in den letzten Jahren: Permanente politische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen um die richtigen Reformmaßnahmen waren die logische Folge. Als dann nach den langen Jahren des Konservatismus 1998 eine rot-grüne Bundesregierung gewählt wurde, stiegen auch die Hoffnungen auf eine andere, soziale und gerechte Gesundheitspolitik. Schließlich trat die neue Regierung mit einem hohen politischen Gestaltungsanspruch an, der sich nicht in kurzfristigen Reformen erschöpfen sollte. Die Linke machte den Grad der neoliberalen Durchdringung sozialer Bereiche zur Messlatte dafür, ob mit dem Regierungswechsel auch ein Politikwechsel stattfindet. Bereits nach einer ersten Phase der Reform deutete sich allerdings der schwerwiegende »Sachzwang« des Marktes, der Standortkonkurrenz und des neoliberalen Modells auf den gesellschaftlich äußerst sensiblen Bereich des Gesundheitssystems an. Die Gesundheitspolitik steht vor der Aufgabe, eine zeitgemäße Anpassung des Gesundheitswesens zu organisieren und zu finanzieren, ohne die bewährten sozialen Errungenschaften aufzugeben. Diskutiert man über die Organisation von Gesundheit, geht es immer um das spezifische Verhältnis von Medizin und Gesellschaft. Gesundheit ist ein Menschenrecht, welches ebenso wie die Ziele soziale Gerechtigkeit und Solidarität einen der Kernbestandteile des europäischen Sozialmodells bildet. Unter dem Einfluss der Marktkräfte und ihrer neoliberalen Vermittler in Politik und Wissenschaft drohen diese sozialen Ziele – die Bestandteil einer solidarischen Gesundheitspolitik sein müssen – jedoch von der blinden Macht der Ökonomisierung und der Konkurrenz aufgerieben zu werden. Gerade in den Wahlauseinandersetzungen des Jahres 2002 sollte es darum gehen, statt populistischer Stichworte wie »Kostenexplosion«, »Missbrauch« und »Überversorgung« Argumente für eine vernünftige, finanzierbare und moderne solidarische Gesundheitspolitik und gegen eine primär am Markt orientierte Zwei-Klassen-Medizin zu liefern. Das ist die Intention der Beiträge dieses Bandes. In einem ersten Block setzen sich die Autoren mit den allgemeinen Charakteristika des deutschen Gesundheitswesens und der Gesundheitspolitik auseinander. Hans-Ulrich Deppe benennt das Spannungsverhältnis zwischen Kommerzialisierung und Solidarität und analysiert die grundlegenden Fragen der Orientierung von gegenwärtiger und zukünftiger Gesundheitspolitik. Rolf Rosenbrock untersucht das deutsche Modell der Gesetzlichen Krankenversicherung unter den gegenwärtigen Bedingungen der verschärften Marktkonkurrenz und dem weiterhin geltenden sozialpolitischen Auftrag. Hartmut Reiners analysiert und entzaubert das wissenschaftliche Design der Gesundheitsökonomie. Wolfram Burkhardt liefert einen Überblick über die Gesundheitspolitik der jüngsten Vergangenheit nach dem Ministerinnenwechsel. Norbert Schmacke fordert die Ärzteschaft dazu auf, ihre professionelle Autonomie wiederzugewinnen und sie in ein wirksames Bündnis für Gesundheit einzubringen. Kai Michelsen setzt sich mit den Diskussionen um die Selbstverwaltung kritisch auseinander. In einem zweiten Abschnitt widmen sich die Autoren und Autorinnen ausführlich besonderen Bereichen der Gesundheitspolitik, analysieren die Mechanismen und Funktionen und benennen Gefahren und Alternativen. Thomas Gerlinger, Uwe Lenhardt und Klaus Stegmüller problematisieren die Frage eines gespaltenen Leistungskataloges der Gesetzlichen Krankenkassen. Peter Schönhöfer kritisiert den Verlust einer primär qualitätsorientierten Forschung und benennt die Interessen der Pharmaindustrie. Gine Elsner zeigt auf, wie durch die Anerkennung von Berufskrankheiten Sparmöglichkeiten für die Gesetzliche Krankenversicherung eröffnet werden können. Rainer Müller weist auf die neuen Herausforderungen und Anforderungen für die Arbeits- und Betriebsmedizin hin, die durch die Entwicklung der Erwerbsarbeit entstehen. Michael Simon warnt in seinem Beitrag vor einer Industrialisierung des Krankenhauses. Volker Wanek, Siegfried Heinrich und Alfons Chavet benennen Ansatzpunkte und Möglichkeiten einer neuen Präventions- und Gesundheitsstrategie zur Verringerung der sozialen Ungleichheit von Gesundheitschancen. In einem dritten Block wird der fortgeschrittene Stand der gewerkschaftlichen Positionen zur Umsetzung einer solidarischen Gesundheitspolitik dokumentiert. Gerade von den deutschen Gewerkschaften als den genuinen Solidaritätsorganisationen der Lohnabhängigen wird in hohem Maße erwartet, dass sie ihre Mobilisierungskraft gegen die fortschreitende Dominanz eines globalisierten Marktes und Kapitals auch und gerade in der Gesundheits- und Sozialpolitik schärfen. Für den Deutschen Gewerkschaftsbund analysiert und kritisiert Kerstin Kreuger die Struktur des Gesundheitswesens und schließt mit Hinweisen zu einer konzeptiven Weiterentwicklung jenseits vermeintlicher Marktzwänge. Aus der Sicht der neuen Dienstleistungsgewerkschaft ver.di erläutert Ulla Derwein die Defizite des gegenwärtigen Systems und verweist auf die Möglichkeiten einer solidarischen Finanzierung einer bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung für alle. Horst Schmitthenner und Hans-Jürgen Urban schließlich verdeutlichen die grundsätzlichen politischen Positionen der IG Metall für die deutsche Gesundheitspolitik und benennen praktische Reformalternativen. Die Blickwinkel und die Positionen der Autoren und Autorinnen sind selbstverständlich nicht homogen – vermeintlich einfache Analyseraster und grobe politische Schlagworte wären dem Thema dieses Buches allerdings auch nicht angemessen. Gemeinsam ist allen Beiträgen jedoch, dass sie an dem grundsätzlichen Ziel einer solidarischen Gesundheitspolitik orientiert sind. Hans-Ulrich Deppe, Wolfram Burkhardt im Februar 2002

Leseprobe 2

Norbert Schmacke
Welche Bündnisse für Gesundheit haben Zukunft? [1] Die Zeichen stehen (wieder einmal) auf Sturm: ein Bündnis für Gesundheit steht gegen die großen Linien der Gesundheitspolitik und fordert emotional eine humane Patientenversorgung und faire Arbeitsbedingungen vor allem für die Ärzteschaft; es empfiehlt wie ehedem den Verzicht auf Budgets für die Krankenversorgung und die Aufweichung von Steuerungsinstrumenten wie den Fallpauschalen im stationären Bereich. Krankenhäuser, Ärzteschaft, Fachberufe des Gesundheitswesens, Hilfsmittelproduzenten: alle sind sich einig, dass die Zwangsjacke der Ökonomie abgestreift werden muss. Das klingt gut, weil für Gesundheit bekanntlich nichts zu teuer sein darf, hilft aber bei näherer Betrachtung nicht weiter. Das Bündnis bemüht v.a. folgende Argumentationen:   Der medizinische Fortschritt und die Altersentwicklung verursachten Kostensteigerungen, die vom vorgegebenen Budget von rd. 260 Mrd. DM nicht getragen werden könnten. <li<rationalisierungsreserven class="indent" src="http://www.sozialismus.de/../pix/quaderS.jpg" width="5" height="5" border="0">  Die Fortsetzung der jetzigen Politik münde in die offene Zweiklassenmedizin.</div> </li<rationalisierungsreserven>

Finanzierungsgrenzen und Systembarrieren

Richtig ist, dass heute die Grenzen der Finanzierungsbereitschaft für das kurative Gesundheitswesen härter als früher definiert werden: <div class="indent">  Arbeitgeber reklamieren das Einfrieren ihrer Krankenkassenbeiträge.</div><div class="indent">  Versicherte nehmen die Beitragshöhe ihrer Krankenversicherung kritisch wahr und wechseln in ungeahntem Umfang zu Kassen mit den niedrigsten Beiträgen.</div><div class="indent">  Rationalisierungsgewinne in der gesetzlichen Krankenversicherung sind insbesondere nach Auffassung der Krankenkassen nicht annähernd ausgeschöpft, die Fronten verlaufen dabei inzwischen auch durch die Ärzteschaft hindurch (Allgemeinärzte gegen Fachärzte, Niedergelassene gegen Krankenhäuser).</div><div class="indent">  Unstreitig ist schließlich, dass durch die Verschiebebahnhöfe innerhalb der Sozialversicherung und Einbrüche auf der Einnahmeseite der Gesetzlichen Krankenversicherung infolge der langanhaltenden hohen Arbeitslosigkeit strukturelle Finanzierungsprobleme aufgelaufen sind, die einer Lösung harren.</div> Gleichwohl: Reformvorschläge insbesondere zur Überwindung der starren Trennung zwischen ambulanter und stationärer Medizin harren seit Jahrzehnten der Umsetzung und lassen die Aussage, die Zitrone der Rationalisierung sei ausgequetscht, nicht sehr glaubhaft wirken. Das Bündnis für Gesundheit klammert zudem völlig die Tatsache aus, dass das überhaupt nicht geklärte Verhältnis zwischen Ärzten und den anderen Fachberufen eng mit dem Reformstau im Gesundheitswesen zusammenhängt. Die Kritik an der Ärztedominanz bleibt aktueller denn je. Die Ärzteschaft hat vor allem nicht einmal angefangen, über einen systematischeren Einsatz der Pflegeberufe im Versorgungsnetz nachzudenken.

Vergessene Grundlagen der Gesundheitspolitik

Bevor man zur Tagespolitik übergehen kann, sollten einige gesundheitswissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse und Dilemmata ins Gedächtnis gerufen werden: <div class="indent">  Lebenserwartung und Lebensqualität hängen nicht allein von der kurativen Medizin ab. Wenn über gesellschaftliche Ressourcen für die Gesundheit der Bevölkerung gesprochen wird, ist es nicht zulässig, ohne handfeste Begründungen weitere Investitionen in das Gesundheitswesen zu fordern, vor allem ohne Fragen der Prävention und der Gesundheitsförderung sowie das Thema Bildung und soziale Sicherheit mit ins Blickfeld zu nehmen. Der Nachweis des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Ausgaben für das Gesundheitswesen und gesundheitlicher Verfassung der Bevölkerung gelingt nicht so ohne weiteres. Das spielt in der gesundheitspolitischen Debatte in aller Regel aber keine Rolle.</div><div class="indent">  Der Fortschritt in der medizinischen Versorgung bleibt finanzierbar, wenn Fortschritt nicht verwechselt wird mit der sofortigen Umsetzung aller Heilsversprechungen gerade publizierter wissenschaftlicher Veröffentlichungen, und wenn tatsächlicher Fortschritt nicht additiv finanziert wird, sondern parallel überholte Diagnose- und Behandlungsverfahren konsequent aus dem Leistungsgeschehen entfernt werden. Gegen evidenzbasierte Medizin und Health Technology Assessment wird dabei inzwischen zum Teil moralisch argumentiert nach dem Motto: Der einzelne Kranke verschwindet hinter unmenschlichen Bewertungsverfahren einer naturwissenschaftlich-reduktionistischen Sichtweise. Dass es um das Thema der von niemandem wegzudiskutierenden Kosten-Nutzen-Bilanz und um die Sicherheit der angebotenen medizinischen Verfahren geht, gerät rasch aus dem Blickfeld.</div><div class="indent">  Das deutsche Gesundheitswesen ist noch stärker als vergleichbare Systeme reicher Länder nicht nur arzt-, sondern facharztzentriert und leidet an versorgungsfeindlichen und teuren Bruchstellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Die erbrachten Leistungen sind nur in schüchternen Ansätzen bezogen auf harte Ergebnisindikatoren qualitätsgesichert. Datenschutzregelungen verhindern bis dato, dass die Krankenkassen ihre Sachwalterfunktion für die Versicherten an diesem Punkt ausüben können und dass bitter notwendige Routinen von Versorgungsforschung entwickelt werden können.</div><div class="indent">  Die früher »ärztliche Hilfsberufe« genannten Gesundheitsfachberufe können ihre Kompetenzen nicht wirklich gleichberechtigt einbringen, sie sind ökonomisch weithin vom Definitionsmonopol der Ärzte abhängig. Dass die Pflegeberufe sich schrittweise emanzipieren, wird dabei nicht verkannt.</div><div class="indent">  Das deutsche Modell der gesetzlichen Krankenversicherung (Parität Arbeitgeber-Arbeitnehmer sowie Parität Ärzte-Krankenkassen) gilt weltweit als ausgesprochen interessant; die Kritik an seinen tatsächlichen Schwächen sollte insoweit eine konzertierte - und sicher überhaupt nicht streitlose - Aktion aller Akteursgruppen sein und nicht als »Bündnis für Gesundheit« gegen Politik und Krankenkassen inszeniert werden. Die Ärztefunktionäre gehen gern darüber hinweg, dass sie an der Festlegung der ambulanten ärztlichen Leistungen im Rahmen der Selbstverwaltung maßgeblich mitwirken, dass der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen ohne Wahrnehmung der wirtschaftlichen Verantwortung hohl und nichtig, und dass im stationären Bereich bislang ärztliche Autonomie in hohem Umfang garantiert ist.</div>

Die Krise der Ärzteprofession

Die soziologische Literatur zur Entstehung der Ärzteschaft als Profession seit Freidson wird von den Medizinern in der Regel ignoriert. So übersehen sie zumeist, dass das von Politik und Gesellschaft übertragene Maß an Eigenverantwortung und Bestimmung über die ökonomischen Ressourcen im Gesundheitswesen nur solange unangetastet bleibt, wie die mit dieser übertragenen Verantwortung einhergehenden Erwartungen der Gesellschaft auch eingelöst werden. Hierbei geht es im Wesentlichen um zwei Dinge: Um die Frage, ob die Medizin plausible Antworten auf die dominierenden Erkrankungen einer Epoche anbieten kann, und um die Frage, ob die Ärzteschaft ihren Anteil an der Ressourcensteuerung wahrnimmt und damit als verlässlicher Sachwalter gilt. Vier Entwicklungen hat die Ärzteschaft in allen entwickelten Gesundheitssystemen des Globus in den letzten Jahrzehnten zu gering veranschlagt: 1. Mit dem Vordringen der chronischen Erkrankungen verbrauchte sich der Vertrauensvorschuss an die Heilkunst der Ärzteschaft; die modernen Konzepte zum Leben mit Krankheit entwickelten demgegenüber die psychosozialen Berufe. 2. Die Bevölkerung beschlich zunehmend Zweifel, ob die fachpolitische Argumentation der Ärzteschaft wirklich dem Gemeinwohl und nicht primär der Steigerung des eigenen Einkommens diente. 3. Die Ärzteschaft entwickelte viel zu spät Konzepte eines gestuften Systems integrierter Versorgung; in Deutschland konzentrierten die niedergelassenen Ärzte sich auf den Binnenkonflikt zwischen Allgemein- und Fachärzten und vernachlässigten dabei die Allgemeinmedizin sträflich; derweil konnte die Krankenhausmedizin ein Eigenleben entwickeln, das erst im Rahmen der Finanzierungsdebatte, neuerlich auch im Rahmen der Qualitätsdebatte, thematisiert wird. 4. Die Mehrheit der Ärzte nahm weder bezüglich der Struktur der Einzelpraxis noch bezüglich der Bruchstellen in der Versorgung zur Kenntnis, dass ihr das ökonomische Wissen zur Steuerung des Systems trotz der enormen Expansion der Leistungen völlig verloren ging. Die moralische Attitüde, dass die Ärzteschaft sich nunmehr nicht in die gesundheitsökonomische Debatte einlassen dürfe, um die Humanität zu retten, wird deshalb das Defizit an Vertrauen in die Ärzteprofession nicht dauerhaft wiederherstellen können. Das Verhältnis zu den übrigen Fachberufen des Gesundheitswesens ist alles andere als geklärt, Strategien zur Krankheitsbewältigung werden weiter als Randphänomene der Medizinerausbildung und Facharztweiterbildung behandelt. Qualitätsmanagement und Vernetzungsaufgaben werden klein geschrieben. Die Ärzte sind als Profession in einer schweren Krise, die zu erheblichen Teilen selbstverschuldet ist und gut »behandelbar« wäre. Dafür wäre es freilich erforderlich, dass die Ärzteschaft sich endgültig von ihren Alllzuständigkeitsphantasien verabschiedet.

Ökonomisierung und Humanität

Es wirkt im Zweifelsfall auf den ersten Blick immer engagiert, den unstreitig vorhandenen Ökonomisierungstendenzen in den entwickelten Gesundheitssystemen entgegenzutreten. Die massive Polemik gegen das Globalbudget, wie es die rot-grüne Regierung anfänglich vorsah, übersah vollständig, dass die Summe sektoraler Budgets unter der vorherigen Regierung ökonomisch betrachtet keinen wesentlich komfortableren Tatbestand darstellte. Die Ärzteschaft vergisst permanent anzugeben, wie ihr gesundheitsökonomisches Alternativmodell aussieht, mit dem sie im heutigen gesellschaftlichen Umfeld Akzeptanz finden will, und sie übersieht in weiten Teilen, dass die Forderung »Value for Money« wirklich nicht unanständig ist, sondern ein Gebot des redlichen Umgangs mit den letztlich immer begrenzten Ressourcen. Und was die Humanität in der Nahbetrachtung anbelangt, so lässt sich feststellen, dass von Kanada bis England, von der Schweiz bis Norwegen, von den USA bis nach Deutschland quer über die Systeme folgende Defizite thematisiert werden: <div class="indent">  Patientenrechte und Patientenvertretungen werden über Bürgerrechtsbewegungen auf die Tagesordnung gesetzt, die Ärzteschaft justiert viel zu langsam nach.</div><div class="indent">  Die Qualität der Arzt-Patient-Kommunikation steht zur Diskussion. Der Eindruck schiefliegender Kommunikation wird schlaglichtartig durch Untersuchungen bestätigt, nach denen der Arzt im Durchschnitt seinen Patienten beim Vorbringen der Beschwerden nach 18 Sekunden unterbricht.</div><div class="indent">  Selbsthilfe- und Laienpotenziale werden mit schwer verständlicher Zeitverzögerung in ihrer grundlegenden Funktion der Unterstützung des Therapieprozesses realisiert.</div><div class="indent">  Die Ängste vieler Menschen vor unnötiger Leidensverlängerung und vor einem unwürdigen Sterben in anonymer Umgebung finden nur zögerlich Antworten aus dem professionellen System. Hospizbewegung und Krankenhausdominanz stehen in einem merkwürdigen Missverhältnis zueinander.</div><div class="indent">  Mängel in der Schmerztherapie stehen seit Jahrzehnten auf der Agenda der Aus-, Fort- und Weiterbildung.</div><div class="indent">  Prävention und Gesundheitsförderung führen ein Schattendasein oder erleiden immer wieder eine Umfärbung durch medizinische Übermacht. Die chronische Verwechslung von Früherkennung und Prävention ist hierfür das bekannteste Beispiel.</div><div class="indent">  In dem allgemeinen Klagen über Defizite in der medizinischen Forschung geht unter, dass versorgungsrelevante Studien, welche den Verlauf von Patientenschicksalen in den Mittelpunkt stellen, die absolute Rarität darstellen und von den Universitäten als uninteressant bis fachfremd erlebt werden.</div>

Innovationsblockaden der ambulanten Versorgung

Große Teile der Ärzteschaft formulieren selber die Notwendigkeit, den Arbeits- und Vergütungsmodus in der Arztpraxis wie die Arbeitsverhältnisse in den Kliniken so zu ändern, dass unsinnige Leitungsanreize (im Englischen: perverse incentives) entfallen und die Arzt-Patient-Beziehung wieder einen vernünftigen Stellenwert erhalten kann. Es ist überfällig, diese Aspekte in die Budgetdebatte zu integrieren, damit eben nicht in der Öffentlichkeit der Eindruck bestehen bleibt, es ginge der Ärzteschaft allein um ihre Pfründe. Die aufkommende Diskussion um Qualitätssicherung böte in einer konzertierten Aktion von Krankenkassen und Gesundheitsfachberufen eine hervorragende Möglichkeit, derartige Kurskorrekturen flächendeckend einzuleiten. Dabei sollte die Ärzteschaft aufhören, Qualitätssicherung als eine Art Luxusanreicherung der Regelversorgung misszuverstehen. Als die WHO in den 80er Jahren begann, Gesundheitsziele für Europa zu definieren, wurde dies in Deutschland wacker ignoriert. Heute zeigt sich, dass Zeit versäumt wurde, sich frühzeitig in diesen internationalen Lernprozess einzuklinken. Das deutsche Gesundheitswesen wird weiter von Partikularinteressen dominiert, wobei auch auf der unmittelbaren Fachebene die Macht der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und der Industrie erheblich ist. Diese sind - nach allen internationalen Erfahrungen - in der Regel nicht daran interessiert und nicht in der Lage, integrierte Versorgungskonzepte zu planen. Demgegenüber befinden sich Forschung und Entwicklung der Allgemeinmedizin und Ansätze von kompetenter Steuerung von Patientenkarrieren in einem inakzeptablen Entwicklungsstadium. Medizinische Fakultäten und Chefärzte zeigen ein ausgesprochen gebremstes Interesse, den Facharzt für Allgemeinmedizin ernsthaft zu fördern. Dies ist eine Form der Rationierung von medizinischen Leistungen, die nicht thematisiert wird. Mit dem Schlachtruf »Opas Praxis ist tot« hatten es die Facharztgruppen und Fachgesellschaften seit den 60er Jahren geschafft, den Allgemeinmediziner - und damit die Kunst der verlässlichen Begleitung und Basisversorgung von Kranken - fast lächerlich zu machen. Den Hausarzt erneut zu einem nicht nur bei Patienten beliebten, sondern auch innerhalb der Ärzteprofession wertgeschätzten Facharzt zu entwickeln, bleibt eine der großen Herausforderungen der Zukunft. Jenseits der heutigen Verteilungskämpfe innerhalb der Ärzteschaft und auch jenseits der Grabenkämpfe zwischen Kassen und Ärzteschaft muss erkannt werden, dass die von kleinen Gewerbetreibenden beherrschte ökonomische Grundstruktur der vertragsärztlichen Versorgung (»Cottage Industry«) nicht haltbar ist und dass die Frage gelöst werden muss, wie ökonomisch und medizinisch leistungsfähigere Strukturen gesteuert werden: ausschließlich nach Gewinnmaximen oder gesellschaftlich kontrolliert im Interessenausgleich zwischen Kostenträgern und Leistungsanbietern. Innerhalb der Vertragsärzte haben sich längst Gruppen aufgemacht, das Monopol der kassenärztlichen Vereinigungen zu beseitigen und auf eigene Managementkompetenzen in der Vertragsgestaltung zu setzen. Die heutige Rechtslage macht es diesen Gruppen aber extrem schwer. Die verbliebenen Polikliniken der ehemaligen DDR gewinnen an Interesse, ihre voreilige, primär ideologisch begründete Abwicklung ist aber nicht kurzfristig rückgängig zu machen. Noch ist ungewiss, welche der vielen Managed-Care-Ansätze sich in Deutschland behaupten werden. Sicher ist nur, dass die bisherige Politik der Kassenärztlichen Vereinigungen ihr Repertoire weitgehend ausgereizt hat und dass weitere Heilversuche am Vergütungsmodell nur palliative Effekte haben werden. Dies gilt auch für die Intention der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Mindesteinkommen für niedergelassene Ärzte über vermeintlich gerechte Zeitvergütungen auf die Tagesordnung zu setzen: Ohne Integration von medizinischer und ökonomischer Verantwortung sind zukunftsweisende Vergütungsmodelle nicht vorstelllbar. Es ist an der Zeit, über grundlegend neue Organisations- und Vergütungsstrukturen nachzudenken, die das erforderliche Maß an Transparenz bieten, unsinnige Leistungsanreize zur Mengenausweitung systematisch ausschließen und stattdessen Anreize zum wirtschaftlichen Umgang mit den Ressourcen bei Bemühung um Qualitätssteigerung in den Vordergrund stellen. Hier könnte der vielgelobte Wettbewerb wirklich heilsam sein. Wie von der WHO seit Jahrzehnten gefordert, muss dies verbunden werden mit einem schrittweisen Prozess der Substitution von Leistungen aus dem stationären in den ambulanten Bereich und mit der Stärkung von Prävention und der Förderung von Selbsthilfepotenzialen. Die Qualitätsdebatte muss entmythologisiert wie entbürokratisiert und auf relevante Handlungsansätze und Indikatoren für die Versorgungslandschaft konzentriert werden. Die Sektorenabschottung ist dabei ein Hindernis der Extraklasse. Wenn damit zu rechnen ist (und dieses »Kampfargument« der Ärzteschaft verdient permanente Aufmerksamkeit), dass der medizinische Fortschritt immer auch mit erheblichen Kostensteigerungen verbunden sein kann, dann kann nicht weiter geduldet werden, dass die »Escape-Taste« der Leistungsanbieter dazu genutzt wird, sinnvolle ökonomische Begrenzungen und Sparpotenziale zu konterkarieren. Die Beispiele hierfür sind endlos: Ausweitung der Indikationen für ambulante Operationen nach Schaffung von Abrechnungsziffern für ambulantes Operieren und Drehtürmedizin mit eingebauter Wiedereinweisung in dasselbe Krankenhaus. Nur hinter verschlossenen Türen reden Ärzte offen darüber, dass sie die ökonomischen Hebel in der vertragsärztlichen Versorgung wie der Krankenhausmedizin selber für anachronistisch und sinnwidrig halten.

Die Infragestellung des Leistungskatalogs

Wenn heute viele Ärzte darüber klagen, dass sie zuviel Zeit mit der Bürokratie verbringen, dann sollten sie auch den Mut haben, die Abschaffung der wirklichen Ursachen, die ganz wesentlich in der Intransparenz des Leistungsgeschehens für Patienten und Krankenkassen zu sehen sind, auf die Tagesordnung zu setzen. Als Profession hat die Ärzteschaft sicher keine guten Zukunftsaussichten, wenn sie stattdessen fortfährt, über die Ausweitung der Privatmedizin nachzudenken und ihr Heil in den individuellen Gesundheitsleistungen zu suchen. Die Bevölkerung hat wohl erst ansatzweise verstanden, worum es dabei geht: Immer mehr GKV-Leistungen sollen unter dem Motto »keine Basisleistungen« aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen entlassen und privat abrechnungsfähig werden. Die diabolische Dialektik des Verfahrens: Diese IGEL-Leistungen sind »eigentlich unnötig«, werden aber als »Omelette Surprise« von den Ärzten angeboten, weil die »bösen Krankenkassen« diese Teile der Versorgung angeblich mangels ökonomischer Potenz und nicht wegen fehlender Wirksamkeitsnachweise nicht mehr tragen wollen. Und den Patienten wird - allen Schwüren zum Trotz - täglich erzählt, die Kassen zahlten das Notwendige schon lange nicht mehr und der Weg über die IGEL-Leistungen sei unverzichtbar, wenn man »richtig« behandelt werden wolle. Diese Politik ist nicht nur einfach zu durchschauen, sie ist vor allem deshalb abzulehnen, weil den Versicherten damit wider besseres Wissen die Botschaft zugespielt wird, wer ärmer ist, müsse wohl jetzt doch wieder wegen unzureichender Leistungen der GKV eher sterben. Anders herum: Wenn Leistungen nicht wichtig, nicht wirksam oder bei fraglicher Wirksamkeit nicht wirtschaftlich sind, dann darf die Ärzteprofession nicht ein doppeltes Spiel spielen und mit der Angst der Patienten jonglieren. Längerfristig wird die Ärzteschaft mit dieser Politik unglaubwürdig und entspricht dem Vorurteil, sie sei ja doch nur eine gewöhnliche Berufsgruppe, der es um die Zweit- oder Drittwohnung auf den Balearen ginge. Die besonnenen Ärztefunktionäre und viele Vertrags- wie Krankenhausärzte sehen dieses Dilemma; es ist im wohlverstandenen Interesse der GKV zu hoffen, dass sie konsequenter als bisher das doppelte Spiel mit den ärztlichen Leistungen bekämpfen. Und dies ist ein weiterer wichtiger Grund, evidenzbasierte Medizin im kommenden Jahrzehnt für Patienten verständlich aufzubereiten und auch auf diesem Weg der Honorarkür der IGEL-Spezialisten entgegenzutreten.

Neoliberalismus als Scheinlösung

Es wäre ganz unvernünftig, die dramatischen Veränderungen seit den ersten zarten Bemühungen der Bismarck-Ära um ein solidarisch finanziertes Krankenversorgungssystem zu verkennen. Genauso unvernünftig aber wäre es, die in die Zukunft gerichtete Absicherung von Krankheitsrisiken jedem Einzelnen überlassen zu wollen und dies als Ausdruck von »Freiheit« zu verstehen. Niemand kann im voraus ein für seine eigene Zukunft stabiles Risikoprofil erstellen. Und wenn man es könnte? Wer will im Ernst die Argumente schlagen, die dem Solidarprinzip zugrunde liegen: dass Junge für Alte, Gesunde für Kranke, Ledige für Kinderreiche, Reichere für Ärmere die Last von Krankheit tragen. Man kann trefflich darüber streiten, ob die momentane Lastenverteilung den in der Gesellschaft verteilten Chancen noch angemessen entspricht. Hier muss man u.a. an die kuriose Wortschöpfung von der »Friedensgrenze« erinnern, wonach willkürlich eine Grenze zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung festgelegt und damit die wohlhabenderen Gesellschaftsschichten vom Solidarprinzip »befreit« werden. Wenn aber heute von Neoliberalen dafür geworben wird, die GKV zu einer Basisversorgung für Bedürftige umzudefinieren, dann wird der Kerngedanke unserer gesetzlichen Krankenversicherung bewusst geopfert, weil man aus ordnungspolitischen Überlegungen heraus die privaten Märkte im Gesundheitswesen vergrößern will. Dass ein solcher Weg nicht nur unsozial ist und den gesellschaftlichen Frieden fahrlässig aufs Spiel setzt, sondern in der Reinkultur in den USA unstreitig deutlich höhere Gesamt- und Verwaltungskosten erzeugt hat, beirrt die Befürworter der Privatisierung des Gesundheitswesens nicht. Sie sind es, die nicht respektieren wollen, dass der Gesundheitsmarkt eben kein »gewöhnlicher« Markt ist - und dieser Markt sollte eine neoliberalen Ordnungsvorstelllungen gehorchende Verwandlung tunlichst vermeiden, weil sie nur um den Preis des Spielens mit der Angst der Menschen vor Krankheit und vor Benachteiligung bei notwendiger Behandlung zu haben wäre. Es wäre auch unvernünftig, die Augen davor zu verschließen, dass die viele Jahrzehnte bewährte Finanzierungsbasis ins Wanken zu geraten droht, wenn die Massenerwerbslosigkeit nicht deutlich zurückgeht und/oder neue Einnahmequellen erschlossen werden. Der Begriff der Maschinensteuer wurde im Kontext der Rationalisierungswellen in der Industrie vor Jahren erfunden. Derartige Ansätze sind heute offenbar »unmodern«. Stattdessen verlangen die Arbeitgeber nicht nur ein Einfrieren ihrer Beitragssatzanteile, sondern fordern auch eine gesetzliche Begrenzung auf sechs Beitragssatzpunkte. Bei dieser Diskussion scheint heute fast vergessen zu sein, dass all die Bereiche aus Handel, Banken und Industrie, die massive Rationalisierungsgewinne qua Entlassungen eingefahren haben, sehr wohl auf ein gut funktionierendes Gesundheitswesen angewiesen sind, da das »Human Capital« in Deutschland immer wichtiger für sie wird. Die im ökonomischen Konzentrationsprozess entstandenen Schieflagen zwischen Versicherungsrisiken für kleine Gewerbetreibende und große Unternehmen müssen und könnten dabei beseitigt werden, ohne dass die Lohnnebenkosten für die großen Kapitalgesellschaften ein ernsthaftes Problem werden. Die Bismarcksche Lösung der Krankenversicherung stellte letztlich auch einen derartigen gesellschaftlichen Kompromiss dar, den Unternehmer seinerzeit auch nicht mit Begeisterung mitgetragen, von dem sie aber unglaublich profitiert haben. Die Leistungssteigerungen der GKV in der Nachkriegszeit konnten finanziert werden, ohne dass es zu einer wirklich so zu nennenden Kostenexplosion gekommen wäre: der Anteil der Kosten am Bruttosozialprodukt bleibt erstaunlich stabil - dies ist nicht zuletzt ein Resultat der oben genannten Interessenausgleiche zwischen Kapital und Arbeit sowie zwischen Ärzten und Krankenkassen. Wettbewerb könnte einsetzen um die besten Versorgungsmodelle, die mit diesen wahrlich nicht geringen Ressourcen ökonomisch verantwortlich umgehen und tatsächlich »Value for Money« produzieren. Auch die Ärzteschaft ist mit dem deutschen System alles in allem sehr gut gefahren. Heute rächt sich, dass lange Zeit Mengenausweitung mit Leistungssteigerung verwechselt worden ist und dass wir in Deutschland praktisch keine nationale, an klaren Gesundheitszielen orientierte Gesundheitspolitik haben, die zudem noch auf empirischen Befunden einer Versorgungsforschung aufbauen könnte. Die schier ungebremste Ausweitung der Angebote hat viel zu lange blind gemacht für die Defizite in der Steuerung der Leistungen. Wenn auf Ärzte- wie Kassenseite gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, die wechselseitige Verantwortung in der Selbstverwaltung auch in Zeiten sichtlich begrenzter Ressourcen wahrzunehmen, müssten weder das Niveau der medizinischen Versorgung noch die soziale Sicherheit der Fachberufe des Gesundheitswesens Schaden nehmen. Für einen radikalen Systemwechsel jedenfalls fehlt jede Notwendigkeit und jede internationale Evidenz.

Die Wiedergewinnung von professioneller Autonomie

Sylvia und Richard Cruess von der McGill Universität in Montreal weisen seit langem darauf hin, dass die Ärzteschaft offenbar vergessen habe, was eine Profession ausmache. Die ärztliche Profession und ihre Organisationen, so die Autoren, werden aus gutem Grund weltweit danach gefragt, ob sie ihren Ansprüchen und ihrem Auftrag noch gerecht werden. Dies geschehe in allen westlichen Demokratien, unabhängig davon, wie deren Gesundheitssysteme organisiert sind, eher staatlich, eher marktlich oder über soziale Versicherungssysteme. Viele Menschen mutmaßen, dass die Ärzte primär ihren Status und ihr Einkommen im Auge haben, nicht aber das Versorgungssystem. Die Ärzteschaft sieht sich auf dem Boden gewachsenen gesellschaftlichen Misstrauens zunehmend Steuerungsmechanismen aus der Welt der Ökonomie und der Managementtheorien ausgesetzt; sie bleibt aber einstweilen dabei, dies als willkürliche Gängelung anzuprangern. Cruess und Cruess nennen u.a. folgende Voraussetzungen dafür, dass die Ärzteschaft öffentliches Vertrauen und professionelle Autonomie zurückgewinnen kann: <div class="indent">  das Wohlergehen des Patienten und der Gesellschaft über die eigenen Interessen an Status und Einkommen stellen;</div><div class="indent">  die eigenen fachlichen Entscheidungen in der Gesamtschau von biomedizinischen, psychosozialen und epidemiologischen Erkenntnissen begründen;</div><div class="indent">  die gesellschaftlichen Fragen des Zugangs zu den Leistungen des Gesundheitswesens, der Verteilung der Ressourcen und von Kosten-Nutzen-Analysen bearbeiten;</div><div class="indent">  die Beteiligung von Laien an allen wichtigen Entscheidungsprozessen im Gesundheitswesen fördern;</div><div class="indent">  die fachliche Kompetenz während der gesamten beruflichen Laufbahn sicherstellen;</div><div class="indent">  die veränderten Anforderungen durch das gewachsene Kostenbewusstsein wie den Wandel im Krankheitenspektrum aktiv aufgreifen.</div> Es stellt sich deshalb die Frage, wo die »Fronten« im heutigen Streit um die Zukunft des Gesundheitswesens verlaufen. Ein »Bündnis für Gesundheit«, das seine Feindbilder im Staat und den Krankenkassen zu erkennen glaubt, läuft Gefahr, schon morgen an harten Interessenkonflikten zwischen Vertragsärzten und Krankenhäusern auf der einen Seite wie zwischen Ärzten und den anderen Fachberufen auf der anderen Seite zu zerbrechen. Wer keine Antworten auf die Fragen findet, wie integrierte Formen der Versorgung für die größer werdenden Gruppen chronisch Kranker entwickelt werden, wie Patientenperspektive und Patientenrechte morgen besser als heute berücksichtigt werden und wie kostenintensive Leistungen mit fehlendem oder geringem therapeutischen Nutzen aus der Versorgung herausgenommen werden, der wird übermorgen hilflos zusehen, wenn kapitalintensive Akteure den Krankenhaus- und Praxisbereich so aufrollen, dass die ärztliche Autonomie wirklich in Frage gestellt wird. Krankenkassen und Ärzteschaft sollten gemeinsam mit den Pflegeberufen und psychosozialen Berufen versuchen, das Gesundheitswesen der Zukunft neu zu planen und zu organisieren. Niemand wird der Ärzteschaft, die heute so angefasst reagiert, ihren hohen Stellenwert im Rahmen moderner Versorgungsmodelle abspenstig machen wollen. Die Zeiten der Gilden aber sind auch im Gesundheitswesen endgültig vorbei. Die gemeinsame Selbstverwaltung hat noch ausreichend Zeit, die GKV für das 21. Jahrhundert zu einem international vorbildlichen Modell auszubauen. Die Ärzteschaft täte gut daran, hierfür neue Bündnisse zu schließen. Dabei sollte sie beachten, die »übrigen« Gesundheitsfachberufe nicht nur auf dem Podium von Kampfveranstaltungen zu bemühen. Ein multiprofessionell und interdisziplinär organisiertes Versorgungssystem lässt auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts weiter auf sich warten.

Literatur

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Freidson, E., Profession of Medicine: A Study of the Sociology of Applied Knowledge. University of Chicago Press 1998 (Nachdruck)
Freidson, E., Professionalism Reborn: Theory, Prophecy, and Policy. University of Chicago Press 1994
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Schmacke, N., Ärzte oder Wunderheiler? Die Macht der Medizin und der Mythos des Heilens. Westdeutscher Verlag, Opladen. 1997
Schmacke, N., Stimmen die Schwerpunkte in der Gesundheitsversorgung? Indizieren und Begrenzen von Leistungen als Qualitätsmerkmal. Arbeit und Sozialpolitik Heft 5/6 2000: 16-34
Ubel, P.A., Pricing Life. Why it's time for health care rationing. Cambridge: MIT Press 1999 [1] Die Ausführungen entsprechen den persönlichen Auffassungen des Autors.

Leseprobe 3



Inhalt:

Vorwort
Hans-Ulrich Deppe
Kommerzialisierung oder Solidarität?
Zur grundlegenden Orientierung von Gesundheitspolitik
Rolf Rosenbrock
Kann die soziale Krankenversicherung in der Marktgesellschaft überleben?
Hartmut Reiners
Ökonomische Dogmen und Gesundheitspolitik
Anmerkungen zur Gesundheitsökonomie
Wolfram Burkhardt
Politisches Kampffeld Gesundheitspolitik 2000 - 2002
Der Ministerinnenwechsel im Bundesgesundheitsministerium und die Folgen
Norbert Schmacke
Welche Bündnisse für Gesundheit haben Zukunft?
Thomas Gerlinger / Uwe Lenhardt / Klaus Stegmüller
Kontroversen um den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung
Kai Michelsen
Blockade- oder Stabilisierungsfaktor?
Die Selbstverwaltung in der Kritik
Peter Schönhöfer
Missbrauch, Betrug und Verschwendung
Der Wildwuchs im Gesundheitswesen spottet jeder Kontrolle
Gine Elsner
Anerkennung von Krankheiten als Berufskrankheiten
Sparmöglichkeiten für die Gesetzliche Krankenversicherung
Rainer Müller
Entwicklung der Erwerbsarbeit
Eine Herausforderung für die Arbeits- bzw. Betriebsmedizin
Michael Simon
Das neue DRG-Fallpauschalensystem für Krankenhäuser
Kritische Anmerkungen zum Konzept einer »Steuerung über den Preis«
Volker Wanek / Siegfried Heinrich / Alfons Chavet
Gesundheitspolitik zur Verringerung der »sozial bedingten Ungleichheit von Gesundheitschancen«
Ansatzpunkte und Notwendigkeiten im Feld der Prävention
Kerstin Kreuger
Gesundheitsreform 2003 – Gesundheit für alle!
Ulla Derwein
Unser Gesundheitssystem – Solidarisch finanziert
Alternativen von ver.di
Horst Schmitthenner / Hans-Jürgen Urban
Für mehr Qualität und Solidarität im Gesundheitssystem
Positionen der IG Metall zur Gesundheitsreform

Autorenreferenz

Wolfram Burkhardt, Dr. phil., Dipl. pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für medizinische Soziologie im Universitätsklinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Alfons Chavet, Leiter der Abteilung »Leistungen und Versicherungen« beim IKK-Bundesverband in Bergisch Gladbach. Hans-Ulrich Deppe, Prof. Dr. med., Sozialmediziner, Professor für medizinische Soziologie und Direktor des Instituts für medizinische Soziologie im Universitätsklinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ulla Derwein, Mitglied des Bundesvorstands der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), Leiterin des Fachbereiches Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen. Gine Elsner, Prof. Dr. med., Ärztin für Arbeitsmedizin, Professorin für Arbeitsmedizin und Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin im Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Thomas Gerlinger, Dr. phil., Dr. rer. med., wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Siegfried Heinrich, Dipl. sc. pol., arbeitet im Referat Gesundheitsförderung beim IKK-Bundesverband in Bergisch Gladbach. Kerstin Kreuger, Dipl. Soz. wiss., Referatsleiterin Gesundheitspolitik beim DGB Bundesvorstand in Berlin. Uwe Lenhardt, Dr. rer. med., wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Kai Michelsen, Dr. rer. med., Dipl. pol., Politikwissenschaftler, Marburg. Rainer Müller, Dipl. Soz., Prof. Dr. med., Arzt für Arbeitsmedizin, Professor für Arbeits-/ Sozialmedizin, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Sozialpolitik, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik, Arbeits- und Sozialmedizin des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen. Hartmut Reiners, Leiter des Referates Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg in Potsdam. Rolf Rosenbrock, Prof. Dr., Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Leiter der AG Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Mitglied des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVRKAiG). Norbert Schmacke, Prof. Dr. med., Internist, Sozialmediziner, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Leiter des Stabsbereichs Medizin beim AOK-Bundesvorstand, Hochschullehrer am Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. Horst Schmitthenner, Dipl. Soz., Maschinenschlosser, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall in Frankfurt. Peter Schönhöfer, Prof. Dr. med., ehemaliger Leiter der Abteilung Arzneimittelsicherheit im Bundesgesundheitsamt, Senatsdirektor beim Senator für Gesundheit in Bremen und Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie am Zentralkrankenhaus St.-Jürgen-Strasse in Bremen. Mitherausgeber des »arznei-telegramm« und Mitarbeiter der medizinischen Expertengruppe von Transparency International Deutschland. Michael Simon, Prof. Dr. phil., Professor für Gesundheitswesen an der Evangelischen Fachhochschule Hannover. Klaus Stegmüller, Prof. Dr. rer. med., Dipl. pol., Hochschullehrer am Fachbereich Pflege und Gesundheit der Fachhochschule Fulda. Hans-Jürgen Urban, Dipl. pol., Leiter der Abteilung Sozialpolitik beim Vorstand der IG Metall in Frankfurt. Volker Wanek, Dr. phil., Diplomsoziologe, Referat Gesundheitsförderung beim IKK-Bundesverband in Bergisch Gladbach.

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