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Joachim Bischoff / Wolfram Burkhardt / Uli Cremer / Axel Gerntke / Rolf Gössner

Schwarzbuch Rot-Grün

Von der sozial-ökologischen Erneuerung zur Agenda 2010

144 Seiten | 2005 | EUR 11.80 | sFr 21.40
ISBN 3-89965-137-5 1

Titel nicht lieferbar!

 

 

Kurztext:
In diesem Buch wird Bilanz gezogen – eines gescheiterten Projekts auf den Politikfeldern:

  Innen & Recht

  Außen & Militär

  Wirtschaft & Steuern

  Arbeitsmarkt

  Gesundheit & Soziales

  Renten

 

Noch nicht einmal zwei volle Legislaturperioden hat Rot-Grün an der Spitze der Republik überdauert. Danach waren nicht nur die Stammwähler verprellt, auch die umschwärmte Neue Mitte entzog den "Modernisierern" und "Reformern" ihre Unterstützung. Nach sieben wechselvollen Jahren Schröder/Fischer endet eine Ära.

  Der Einzug der Heuschrecken: 1999 begann die Demontage der Deutschland AG, das enge Geflecht von Unternehmen und Großbanken wurde aufgeknüpft. Euro-Millionären werden durch rot-grüne Steuerreformen 100.000 Euro erlassen – Jahr für Jahr.

  Der Griff in die Taschen: Mit der "Reform" des Sozialstaats erfolgte die große Privatisierungswelle. Das paritätisch finanzierte Umlagesystem wird Schritt für Schritt durch private Vorsorge ersetzt. Die Folgen: siehe Armutsbericht.

  Aus vier Millionen Opfern wurden fünf Millionen Täter: Das ist die Philosophie der Hartz-Gesetze: verschärfte Zumutbarkeit und Sperrfristen, Suspendierung von Kündigungsschutz, auf ein Jahr begrenztes Arbeitslosengeld I, Absenkung des ALG II auf Sozialhilfe, Mini-Job, Ich-AG.

  Die Einzäunung des Rechtsstaats: Überwachung ist Trumpf. Das erfordert allseits verfügbare biometrische Daten und präventives Handeln, so dass Ausländer kaum noch reinkommen.

 

Was bleibt? Die gleichgeschlechtliche Ehe, Windräder und Solardächer, das Dosenpfand – und die Weigerung, an George W. Bushs Feldzug im Irak teilzunehmen. Doch auch diese Freude soll uns genommen werden: durch die weltweite militärische Präsenz der Bundeswehr.

 

Leseprobe 1

Uli Cremer
Enttäuschung friedenspolitischer Hoffnungen
Die außenpolitische Bilanz: Ein Angriffskrieg und viele nicht genutzte Chancen Als Maßstab für eine Bilanz der rot-grünen Außenpolitik von 1998 bis 2005 sollen in diesem Beitrag die Koalitionsverträge 1998 und 2002, aber auch die programmatischen Grundlagen der GRÜNEN aus den 1990er Jahren dienen. Denn letztere zielten auf Veränderungen der deutschen Außenpolitik, während die sozialdemokratische Programmatik mehr oder weniger auf Fortsetzung der CDU/CSU/FDP-Außenpolitik hinauslief. Karsten Voigt, einer der führenden SPD-Außenpolitiker der 1990er Jahre, hatte BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN bereits 1994 eine grundlegende Revision ihrer außenpolitischen Vorstellungen nahegelegt. Nur dann hielt er eine Koalition für mach- und verantwortbar. Schließlich hatten die GRÜNEN in ihrem 1994er-Wahlprogramm "die Auflösung der NATO" ins Auge gefasst, aus guten Gründen: "Denn die NATO hat ihren ursprünglichen militärischen Charakter der atomaren und konventionellen Abschreckung einschließlich einer atomaren Ersteinsatz-Option nicht verändert, sondern ihm lediglich noch die Möglichkeit für eine globale Intervention hinzugefügt. Sie ist strukturell ungeeignet, die komplizierten neuen zivilen und politischen Aufgaben einer gesamteuropäischen Friedensordnung in Europa wahrzunehmen." (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN 1994: 55) Voigt forderte von den GRÜNEN, sich "in eindeutiger Weise zu den Grundlagen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik" zu "bekennen". Dazu zählte er:   "eine Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland als Teil der westlichen Demokratien   die Bejahung der aktiven Mitgliedschaft in den westlichen Institutionen NATO, EU und WEU und der transatlantischen Beziehungen   die erklärte Berechenbarkeit und Verlässlichkeit bei der Einhaltung eingegangener Bündnisverpflichtungen   de(n) erklärte(n) Wille(n) zur Stärkung der Europäischen Union und der Festigung der deutsch-französischen Freundschaft   die Bereitschaft zur wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung Zentral- und Osteuropas und zum gesamteuropäischen Einigungsprozess   die Bejahung einer aktiven Beteiligung an der Stärkung einer internationalen Friedens- und Rechtsordnung sowie ein Bekenntnis zu den korrespondierenden völkerrechtlichen Verpflichtungen" (Bruckmann/Voigt 1994: 33f.). Insbesondere forderte Voigt die "Unterstützung von multinationalen militärischen Beiträgen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen bündnispolitischer und völkerrechtlicher Verpflichtungen" ab. Darunter fasste er nicht zuletzt "die Beteiligung der Bundeswehr an UN-mandatierten ›Out-of-area‹-Einsätzen (Blauhelm-Missionen und Einsätze im Rahmen von Kapitel VI und VII der UN-Charta[1])" (Bruckmann/Voigt 1994: 34). Da die GRÜNEN 1998 der weit schwächere Koalitionspartner waren, versteht es sich von selbst, dass unter diesen Vorzeichen im Wesentlichen die SPD den Koalitionsvertrag prägte. Und deren Programmatik sah gegenüber der Vorgängerregierung ein außenpolitisches "Weiter so" vor. Entsprechend hätte man vier Jahre später erwarten können, dass gemäß des stärkeren Wahlergebnisses eine stärkere GRÜNE Handschrift im außenpolitischen Teil des Koalitionsvertrages erkennbar würde. Davon kann jedoch nicht die Rede sein. Wichtige Ursache ist die personelle Besetzung der GRÜNEN für den Posten des Außenministers. Joschka Fischer hatte sich zwar vor Dienstantritt für Außenpolitik interessiert und auch ein Buch zum Thema geschrieben. Gemieden hatte er jedoch stets die einschlägigen GRÜNEN Fachkreise. Den Fachbereich Außenpolitik suchte er das erste und bislang einzige Mal im Oktober 1998 auf, am Vorabend des Parteitages, der den Koalitionsvertrag billigen sollte. Entsprechend stand Fischer nie für das beschlossene außenpolitische Programm der GRÜNEN, sondern verfolgte seine individuellen Vorstellungen, die mit Karsten Voigts Anforderungen deckungsgleich waren. Bereits 1994 basierte er "die wichtigsten Interessen Deutschlands" auf folgenden "Säulen": "erstens auf der nachdrücklichen Absage an jede deutsche Renationalisierung und Sonderwegtradition und dem Festhalten an der inneren und äußeren Westintegration Deutschlands; zweitens auf der Kontinuität des Atlantismus; drittens auf der Vertiefung der europäischen Integration im Westen, gründend auf der engen deutsch-französischen Freundschaft; viertens auf der Erweiterung der europäischen Integration nach Osten..." (Fischer 1994: 221) Die wichtigste Botschaft Fischers war bei seinen Antrittsbesuchen in den verschiedenen NATO-Hauptstädten insofern das Kontinuitätsversprechen. Karsten Voigt, inzwischen Koordinator für deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, würdigte sogleich "die Außenpolitik der rot-grünen Bundesregierung als pragmatisch, unideologisch und interessenorientiert." (FAZ 14.1.99) In Richtung seiner GRÜNEN Klientel kolportierte Fischer den smarten Hintergedanken, dass "die Betonung der Kontinuität die Voraussetzung für neue Spielräume" (Interview im Tagesspiegel vom 5.11.1998) wäre. Schauen wir uns also an, wie diese "Strategie" in den verschiedenen außenpolitischen Themenfeldern funktionierte und inwieweit tatsächlich Spielräume für Alternativen eröffnet und genutzt wurden. Der Jugoslawien-Krieg und die NATO-Politik von Rot-Grün Die wichtigste außenpolitische Weichenstellung nahm die rot-grüne Koalition 1999 mit ihrer Teilnahme am Angriffskrieg gegen Jugoslawien vor. Dieser wurde zeitgleich mit der Bildung der rot-grünen Koalition im Oktober 1998 in die Wege geleitet. Als ein UN-Mandat für den Krieg nicht erreichbar schien, beschloss die NATO am 12. Oktober 1998 ihren Aktivierungsbefehl, der die Grundlage für den Krieg im Frühjahr 1999 bildete. Entgegen späteren Legendenbildungen haben Schröder und Fischer bei ihrem Antrittsbesuch in Washington am 9. Oktober dem Verfahren zugestimmt und damit den Weg in den Krieg freigemacht. Diese Position wurde von der großen Mehrheit des Bundestages später nachvollzogen. Auch wenn die Vorgängerregierung zielstrebig auf den Aktivierungsbefehl hingearbeitet hatte, war gerade durch den Regierungswechsel neuer Spielraum entstanden, der von Rot-Grün nicht genutzt wurde, um in Washington für gute Laune zu sorgen und dortige Bedenken, es könne zu Änderungen in der deutschen Außenpolitik kommen, zu zerstreuen. In den darauffolgenden Monaten profilierte sich die deutsche Regierung als Aktivposten bei der Vorbereitung und Durchführung des Angriffskrieges. Um die zögerliche Öffentlichkeit in den NATO-Ländern auf den Krieg einzustimmen, war das so genannte Massaker von Racak im Januar 1999 von entscheidender Bedeutung. Die albanische UCK hatte seinerzeit Leichen von verschiedenen Kampfschauplätzen in Racak zusammengetragen und präpariert, um so ein serbisches Massaker à la Srebrenica vorzutäuschen. Der damalige Chef der Kosovo-OSZE-Mission, William Walker, übernahm am Ort des Geschehens die PR-Arbeit und beschuldigte die Serben, "für diese unaussprechliche Grausamkeit" (FAZ 18.1.99) verantwortlich zu sein; 46 Kosovo-Albaner, die meisten Zivilisten, seien aus nächster Nähe erschossen worden. Da die Serben vor ihrem Angriff auf das Dorf die OSZE sowie zahlreiche Medien informiert hatten, gab es zahlreiche Zeugen für die Inszenierung. Da die vereinzelten Medienberichte jedoch nur wenig Beachtung fanden (siehe WELT vom 22.1.1999 und Berliner Zeitung vom 13., 18. und 19.3.1999), hing sehr viel von der Untersuchung der Leichen ab. Diese wurde im Auftrag der EU von der Finnin Helen Ranta geleitet. Ihre Arbeit wurde gezielt behindert: "Es gab Druck von verschiedenen Seiten... Grundsätzlich habe ich in der Racak-Zeit meine Instruktionen vom deutschen Außenministerium bekommen." (Interview in Jungle World vom 18.8.1999) Deutschland hatte im ersten Halbjahr 1999 die EU-Ratspräsidentschaft und deswegen eine Schlüsselposition. Am 17. März 1999, wenige Tage vor Beginn des Krieges, veröffentlichte Helen Ranta einen Obduktionsbericht, der tendenziell die Walker-Version stützte. Das war möglich, weil das deutsche Außenministerium angeordnet hatte, "die brisantesten Ergebnisse der Untersuchungsergebnisse zurückzuhalten" (Neue Zürcher Zeitung vom 18.3.1999). Auch bei der Pressekonferenz am 17.3. sollte nichts dem Zufall überlassen werden: "Botschafter Christian Pauls hat mich kurz vor der Pressekonferenz instruiert", gab Helen Ranta zu Protokoll. Erst zwei Jahre später ließ sie folgende Bewertung der Ereignisse folgen: "Ich bin mir bewusst, dass man sagen könnte, die ganze Szene in diesem kleinen Tal sei gestellt gewesen. Ich bin mir dessen bewusst. Denn dies ist tatsächlich eine Möglichkeit. Diesen Schluss legen unsere ersten Untersuchungsergebnisse genauso nah, wie auch unsere späteren forensischen Untersuchungen, die wir im November 1999 direkt vor Ort vorgenommen haben." (ARD-Magazin Monitor, 8.2.2001) Mit der Unterdrückung bzw. Manipulierung der Untersuchungsergebnisse zu Racak lieferte Fischers Außenministerium einen entscheidenden Beitrag, um den Krieg auszulösen. Diesen zweifelhaften Verdienst unterstreicht ein Zitat von William Walker: "Natürlich war die Episode in Racak entscheidend für die Bombardierungen." (Interview in Berliner Zeitung vom 8.4.2000) Häufig wird Fischer zu Gute gehalten, dass er mittels geschickter Diplomatie den Jugoslawien-Krieg beendet habe, indem er Russland ins Boot geholt habe. Zur Einschätzung dieses Arguments ist ein kurzer Blick auf die Vorkriegsgeschichte notwendig. Streit zwischen Russland und der NATO gab es an zwei Punkten: Erstens hatte Russland 1998 die Zustimmung zu einem UN-Mandat für den Krieg gegen Jugoslawien im Sicherheitsrat verweigert und auch den NATO-Eskalationskurs nicht gebilligt. Zweitens hatte Russland zwar bei der dem Krieg vorausgehenden Konferenz im französischen Rambouillet das dort ausgehandelte Abkommen prinzipiell mitgetragen, allerdings mit einer Ausnahme. Die NATO bestand damals darauf, NATO-Truppen im Kosovo zu stationieren, die jedoch Bewegungsfreiheit in ganz Jugoslawien haben sollten! Dieser Aufgabe der Souveränität über das gesamte eigene Territorium hatte die jugoslawische Regierung nicht zustimmen wollen. Und auch Russland lehnte diese Position bei den Verhandlungen ab. So scheiterte die Konferenz an der Unnachgiebigkeit der NATO-Staaten, für die auch Joschka Fischer in Frankreich mit verhandelte, aber nicht "an der Tatsache, dass Milosevic keine politische Lösung wollte" (Fischer 2005: 111). Nach mehreren Kriegswochen skizzierte Fischer am 16.4.1999 in dem nach ihm benannten Fischer-Plan eine neue Verhandlungsposition. Dabei handelte es sich zwar im Wesentlichen um einen Neuaufguss des Rambouillet-Vertrages. Gemäß Fischer-Plan sollten im Kosovo weiterhin NATO-Einheiten zum Einsatz kommen, ergänzt um Truppen anderer Länder, damit also keine neutralen Überwachungskräfte, sondern die Einheiten des Kriegsgegners, also klassische Besatzungstruppen. Auch rückte der Plan keineswegs die UNO als Konfliktvermittlungsinstanz ins Zentrum, sondern beschränkte die Rolle der UNO darauf, Aktivitäten, die die NATO ohnehin vorhatte, mit einer Legitimation zu versehen. Konkret ging es der NATO um ein Kapitel VII Mandat (Friedenserzwingung) für ihren Truppeneinsatz im Kosovo, um nicht von der Zustimmung der beiden lokalen Konfliktparteien abhängig zu sein. Und natürlich sollte der Kriegsgegner den ersten Schritt tun: Nur wenn sich die jugoslawischen Verbände zurückzögen, würde eine 24-stündige Feuerpause ins Auge gefasst. Aber ein wichtiges Zugeständnis gab es doch: Die ursprüngliche NATO-Forderung nach Bewegungsfreiheit ihrer Truppen in ganz Jugoslawien war aufgegeben worden. Das Einsatzgebiet der NATO-Truppen sollte sich nunmehr auf den Kosovo beschränken. Auf dieser Grundlage konnte tatsächlich sechs Wochen später der Krieg beendet werden. Indem die NATO eine im Kern unverschämte Forderung fallen ließ, gelang es, eine gemeinsame Position mit Russland herzustellen und damit auch die Unterstützung der UNO zu gewinnen. Soll man das als große außenpolitische Leistung ansehen? Wirkliche diplomatische Größe hätte darin bestanden, die eigenen Bündnispartner aus der NATO in Rambouillet rechtzeitig von ihrem kompromisslosen Kriegskurs abzubringen und auf realistische Positionen zu verpflichten, um so den Krieg zu vermeiden. Es sei betont, dass Fischer nicht erst ins Spiel kam, nachdem andere das Rambouillet-Desaster angerichtet hatten, sondern er selbst dafür mitverantwortlich zeichnete. Auch im Rückblick hat Fischer keine Zweifel an der Richtigkeit des damaligen Kriegskurses: "... ein Eingreifen in Serbien musste sein. Wir konnten Milosevic nicht länger zuschauen; wir mussten ihm in den Arm fallen." (J. Fischer im Bundestag, 1.7.2005) Nach seiner Lesart war natürlich das angegriffene Land Schuld am Krieg: "De facto war die Politik Milosevics also eine Kriegserklärung an das Europa der Integration gewesen, an NATO und EU." (Fischer 2005: 109) Das Versäumnis der NATO bestand laut Fischer darin, nicht noch früher "interveniert" zu haben. Die 1999er-NATO-Strategie von Washington Da der Krieg gegen Jugoslawien nicht zuletzt stattfand, um die neue NATO-Strategie auszuprobieren, die Ende April 1999 in Washington verabschiedet wurde, ist auch darüber zu reden. In dieser "neuen" NATO-Strategie wurde die Selbstmandatierung institutionalisiert. In Zukunft will das Bündnis nur noch "bemüht sein, ..., sollte eine Krise auftreten, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beizutragen, einschließlich durch die Möglichkeit der Durchführung von ... Krisenreaktionseinsätzen..." Dass "bemüht sein" nicht mit "sich ans Völkerrecht halten" zu verwechseln ist, zeigt der spätere Satz: "In diesem Zusammenhang erinnert das Bündnis an seine ... Beschlüsse in bezug auf Krisenreaktionseinsätze auf dem Balkan." (Das strategische Konzept des Bündnisses, Ziffer 31) Im Klartext: Die NATO erinnert an ihren Beschluss, einen Angriffskrieg gegen Jugoslawien ohne UN-Mandat zu beginnen. Im "Geflecht der ineinandergreifenden Institutionen" rückte sich die NATO endgültig ins Zentrum. In den Worten des stellvertretenden US-Außenministers Talbott: "Gleichzeitig müssen wir darauf achten, die NATO keinem anderen internationalen Gremium unterzuordnen... Das Bündnis muss sich das Recht und die Freiheit vorbehalten, immer dann zu handeln, wenn seine Mitglieder es im Konsens für notwendig halten." (Talbott 4.2.1999) Im rot-grünen Koalitionsvertrag 1998 hatte man als hehre Absicht noch ganz anderes vereinbart: "Die Bundesregierung wird im Rahmen der anstehenden NATO-Reform darauf hinwirken, die Aufgaben der NATO ... an die Normen und Standards von VN und OSZE zu binden." (Koalitionsvertrag 1998: 1548) Falls das geschehen sein sollte, war die Bundesregierung dabei nicht sonderlich erfolgreich. Die Beschlüsse sind ausdrücklich völkerrechtswidrig. Nun ist die Verabschiedung der NATO-Strategie kein unwichtiger Vorgang, denn das Selbstverständnis der NATO spiegelt sich einerseits im NATO-Vertrag von 1949, andererseits eben in Strategie-Dokumenten. Diese werden nicht auf jedem jährlichen NATO-Gipfel geändert, sondern die Möglichkeit, auf die Strategie der NATO Einfluss zu nehmen, eröffnet sich nur alle paar Jahre. 1991 gab sich die NATO in Rom eine neue Strategie, dann dauerte es acht Jahre, bis diese 1999 in Washington durch ein neues Strategie-Dokument ersetzt wurde. Rot-Grün hatte insofern gleich zu Beginn der eigenen Regierungszeit die historische Chance, zumindest einige Aspekte der NATO-Strategie positiv zu beeinflussen. Hier gab es Spielräume, die, gelinde gesagt, nicht genutzt wurden. Den Unwillen, solche zu nutzen, mag folgendes Beispiel verdeutlichen: Fischer begann 1998 seine Amtszeit schwungvoll mit dem Vorstoß, auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten. In der NATO-Strategie von Washington hielt die NATO ein halbes Jahr später genau daran fest: "Nukleare Streitkräfte werden weiterhin eine wesentliche Rolle spielen, indem sie dafür sorgen, dass ein Angreifer im Ungewissen darüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren würden." (Washington Ziffer 62, wortgleich: Rom Ziffer 55). Hatte es Gegenwehr von der deutschen Regierung gegeben? Bereits im Februar 1999 hatte Fischer auf der Münchener Wehrkundetagung den Rückzug angetreten und dafür plädiert, "die Frage der heutigen Rolle und zukünftigen Bedeutung einzelner Aspekte des Nuklearen offen und vorurteilsfrei nach dem Washingtoner Gipfel im Bündnis zu diskutieren." Also dann, wenn die Nuklearstrategie erst einmal wieder auf Jahre festgeschrieben sein würde. Sieht so die Eröffnung und Nutzung von friedenspolitischen Spielräumen aus? Der Afghanistan-Krieg Auch bezüglich der Teilnahme Deutschland am Afghanistan-Krieg plagen Außenminister Fischer bisher keinerlei Zweifel: "Wir mussten Soldaten nach Afghanistan schicken." (J. Fischer im Bundestag, 1.7.2005) Von seinem Minister-Kollegen Struck stammt das Zitat, die Sicherheit Deutschlands werde auch am Hindukusch verteidigt. Prinzipiell zerfällt das von Rot-Grün zu verantwortende Bundeswehr-Engagement in zwei Teile: Erstens wurde und wird der Oktober 2001 begonnene US-Krieg unter dem Label "Enduring Freedom" in Afghanistan mit deutschen Truppen unterstützt; für diesen Einsatz gibt es kein wirkliches UN-Mandat. Zur Legitimation wird das Selbstverteidigungsrecht der USA sowie die Ausrufung des Bündnisfalles durch die NATO angeführt. Der Krieg dauert an, auch wenn über die Kriegsopfer nur noch auf den hinteren Zeitungsseiten berichtet wird. Rot-Grün hat übrigens den entsprechenden Einsatz 2004 für weitere zwölf Monate (bis November 2005) verlängert. Außerdem sind nach der Zerschlagung der Taliban-Regierungsgewalt Bundeswehr-Soldaten in Kabul und Kundus auf Grundlage eines UN-Mandats stationiert worden; dieses basiert auf Kapitel VII der UN-Charta, also handelt es sich um einen friedenserzwingenden Auftrag, einen Kampfeinsatz. Anders als beim Jugoslawien-Krieg hat die rot-grüne Bundesregierung den Afghanistan-Krieg nicht aktiv mit herbeigeführt, sondern hat in Reaktion auf die Terroranschläge vom 11.9.2001 gehandelt. Dabei behauptet die deutsche wie die anderen NATO-Regierungen zuerst einmal, dass Bin Laden und das Al Qaida-Netzwerk für die Terroranschläge vom 11.9. verantwortlich seien. Das mag so sein. Allerdings sind bis heute weder dem UN-Sicherheitsrat noch der Öffentlichkeit wirkliche Beweise für die Verstrickung der mutmaßlichen Terroristen vorgelegt worden. Zwar fragt gerade nach den Terroranschlägen in Madrid und zuletzt in London in Parlamenten und Regierungen niemand mehr nach, andererseits weisen zahlreiche Buchveröffentlichungen auf Widersprüche, Dubioses und Ungeklärtes hin (vgl. z.B. Nafeez 2003). Von der rot-grünen Regierung wäre durchaus zu verlangen, dass sie von der US-Seite Aufklärung verlangt, statt ständig kritiklos die Bundeswehreinsätze zu verlängern. Doch wie steht es mit der Verbindung zwischen dem 11.9. und Afghanistan? Der Krieg gegen das Tabiban-Regime wurde begonnen, weil dieses nicht bereit war, Bin Laden, der sich damals offensichtlich in Afghanistan aufhielt, auszuliefern. Grundlage für die Entscheidung der damaligen afghanischen Regierung war, dass die Taliban Beweise verlangt hatten. Dem kam die US-Regierung selbstverständlich nicht nach und begann den Krieg. Deutschland beteiligt sich also an einem Krieg, der die Rückkehr zu internationalem Faustrecht markiert und allen rechtstaatlichen Prinzipien Hohn spricht – Argumente, die später im Irak-Fall zu einer deutschen "Kriegsdienstverweigerung" führten. Der 3. Golfkrieg (Irak-Krieg) Wie am 2. Golfkrieg 1991 nahm die Bundeswehr auch an dem 3. Golfkrieg 2003 nicht teil. Während die Kohl-Regierung den Krieg 1991 noch mit Milliarden-Beträgen mitfinanziert hatte, unterstützte die rot-grüne Regierung den Angriffskrieg der USA und Britanniens gegen den Irak 2003 mit keinem Cent. Lediglich Überflugrechte wurden gewährt. Auf internationalem Parkett bildete Deutschland gemeinsam mit Frankreich und Russland eine lautstarke Kriegsopposition. Bereits im Bundestagswahlkampf 2002 hatte sich Rot-Grün gegen eine deutsche Kriegsteilnahme festgelegt. Dennoch war die Kriegsgegnerschaft kein Selbstgänger. Am 8.11.02 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die berühmte Resolution 1441. Darin ging es um die mangelhafte Kooperation der irakischen Regierung mit den UN-Waffeninspekteuren und die Anmahnung von Abrüstungsverpflichtungen. Sollte der Irak gegen die Resolution verstoßen, warnt der UN-Sicherheitsrat darin vor "ernsthaften Konsequenzen", beschloss aber "mit der Angelegenheit befasst zu bleiben". Bei Fehlverhalten des Irak hätte also der UN-SR erneut zusammentreten und die Situation bewerten müssen, um gegebenenfalls den von den USA gewünschten Militärschlag zu beschließen. Ein Automatismus für einen Krieg war also nicht vereinbart worden. Trotzdem behauptete die Bush-Regierung genau dies. Nach ihrer "Rechtsauffassung" reichte die UN-Resolution 1441 vom 8.11.02 aus, um einen Krieg gegen den Irak zu legitimieren. Statt diese kreative Interpretation zurückzuweisen, machten Joschka Fischer und sein UN-Botschafter Pleuger sie sich zu eigen. Am 28.12.02 erklärte Fischer im SPIEGEL-Interview, es gäbe "keinen mandatsfreien Zustand" mehr. Pleuger präzisierte am 9.1.03, ein neuer Beschluss sei "wünschenswert, aber nicht notwendig" (dpa-Meldung vom 9.1.2003). In dieser Situation fanden sich erstmalig SPD- und GRÜNE KriegsgegnerInnen zu einer gemeinsamen Initiative zusammen, nämlich in der "Hamburger Erklärung",[2] die die deutsche Regierung auf ein "Nein" im Sicherheitsrat verpflichten wollte. Es war dann keineswegs der Außenminister, sondern der SPD-Bundeskanzler, der Deutschland auf Anti-Kriegs-Kurs zurückholte. In seiner Goslarer Rede am 21.1.2003 legte Schröder die Position fest: "Rechnet nicht damit, dass Deutschland einer den Krieg legitimierenden Resolution zustimmen wird. – Rechnet nicht damit ..." Später war J. Fischer zumindest von den Lügen, die sein US-Kollege Powell im Sicherheitsrat auftischte, nicht "überzeugt". Die US-Regierung verzichtete auf eine Abstimmungsniederlage und begann den Krieg ohne UN-Legitimation. Zwar stellte die rot-grüne Regierung auch nach der heißen Kriegsphase keine Soldaten für die Irak-Besatzung bereit, aber der US-Regierung wurden zunehmend Zugeständnisse gemacht. Im UN-Sicherheitsrat wurden Beschlüsse mitgetragen, die die US-Besatzung stützten; z.B. wurden den Besatzungsmächten Milliardenbeträge aus dem Öl-für-Lebensmittelprogramm der UNO überlassen, die auch für Besatzungskosten ("für ... dem Volk des Iraks zugute kommende Zwecke" [Resolution 1483]) verwendet werden konnten. Irakische Polizisten wurden für den Bürgerkrieg gegen die Aufständischen ausgebildet. Auch finanziell wurde ein Beitrag geleistet, indem dem von den USA eingesetzten neuen Regime Schulden erlassen wurden. Außerdem wurde dieses als Regierung anerkannt. Diese Schritte erfolgten keineswegs zufällig. Sie fußen auf der Analyse des Außenministers: "Unbeschadet der früheren Differenzen um die Kriegsgründe und die eigentlich entscheidende Frage, ob der Krieg als Mittel zur regionalen Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens zulässig war und in seinen Folgen begrenzbar und beherrschbar bleibt, geht es angesichts der neu geschaffenen Fakten im Irak nur noch um die Option Erfolg, nämlich dass die von den USA angeführte Intervention im Irak nicht scheitern darf, sondern dass im Gegenteil eine demokratische Stabilisierung und Bewahrung der territorialen Integrität des Iraks trotz des anhaltenden Terrors gelingen wird. Denn den Preis für ein Scheitern hätte neben der Region auch der gesamte Westen, gleich ob Kriegsbefürworter oder Kriegsgegner, zu entrichten, und erneut träfe dies vor allem auf Europa als direkten regionalen Nachbarn des Krisengebiets zu." (Fischer 2005: 222) In der Konsequenz der so analysierten Interessenlage würde auch die deutsche Teilnahme an der militärischen Besatzung des Irak nicht überraschen. War das Focus-Interview von Ministerkollege Struck im Juni 2005 bereits ein erster Versuchsballon? Im Interview erklärte Struck, es wäre nicht auszuschließen, "dass wir in solchen Einsätzen Soldaten verlieren werden – nicht nur durch Unfälle oder Anschläge, sondern durch eine militärische Auseinandersetzung. Das ist für uns alle, die wir nach dem Krieg geboren wurden, ein ungewohnter Gedanke, aber er ist realistisch." Der Umbau der Bundeswehr zur Angriffsarmee Bereits der Vorgänger der Minister Scharping und Struck, Volker Rühe (CDU), hatte begonnen, die Bundeswehr für Kriegseinsätze außerhalb des NATO-Gebietes umzubauen. Noch in ihrem Bundestagswahlprogramm 1998 warnten die GRÜNEN vor der "Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer internationalen Interventionsarmee durch den Aufbau von Krisenreaktionskräften und Offensivwaffen" und lehnten diesen Kurs ab. Der Kompromiss zwischen SPD und GRÜNEN bestand darin, im Koalitionsvertrag den inhaltlichen Konflikt zu vertagen. Der zuständige Minister sollte eine "Wehrstrukturkommission" einberufen. Vorher sollten "keine Sach- und Haushaltsentscheidungen getroffen" werden, "die die zu untersuchenden Bereiche wesentlich verändern oder neue Fakten schaffen." Die aktive Teilnahme der Bundeswehr an einem Angriffskrieg und die Übernahme einer Besatzungszone im Kosovo taten genau das und wiesen den zukünftigen Bundeswehrreformen den Weg. Da die GRÜNEN die Bundeswehr selbst in Kriege verwickelt hatten, mochten sie sich Reformen zur Befähigung der Bundeswehr, Kriegseinsätze effektiv durchzuführen, nicht länger verwehren. Die bundeswehrkritische Position wurde geräumt. Neben der eigentlichen Wehrstrukturkommission unter Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker entstanden 2000 mehrere Reformdokumente, die darum wetteiferten, wie man die Bundeswehr am effektivsten in eine Angriffsarmee umwandeln könnte. Einigkeit bestand darin, die Zahl der angriffsfähigen Verbände, die erst Krisenreaktionskräfte, später aber nur noch "Einsatzkräfte" hießen, kräftig auszubauen: von 60.000 auf 150.000 Personen. Für traditionelle Verteidigungszwecke benötigte man deutlich weniger Soldaten als zu Zeiten des Kalten Krieges. Also konnte die Gesamtzahl der Truppen getrost gesenkt werden. Uneinig war man sich über eine nachgeordnete Frage, nämlich ob eine Angriffsarmee effektiver mit oder besser ohne Wehrpflicht zu organisieren sei. Die GRÜNEN drängten auf Abschaffung der Wehrpflicht, aber Scharping und die SPD setzten sich erst einmal durch. Eine kriegführungsfähige Armee benötigt die zugehörigen Angriffswaffen. Für die schnelle Truppenverlegung bedarf es einer ausreichenden Anzahl moderner Transportflugzeuge. Einen modernen Krieg gewinnt man nur mit einem funktionierenden Spionagesatellitensystem. Dies waren die zentralen strategischen Defizite aus Sicht der Militärplaner. Da noch weitere kleinere Beschaffungen getätigt werden sollten, wurde der Ruf nach Erhöhung der Investitionsausgaben im Militäretat laut. Angesichts der durch großzügige Steuergeschenke selbst verschuldeten Haushaltsmisere war eine signifikante Erhöhung des Gesamtetats allerdings tabu. Also wurde rigoros umgeschichtet, sodass die wichtigsten Beschaffungsprojekte auf den Weg gebracht werden konnten. Und für Kriegseinsätze wurden zusätzliche Mittel bereitgestellt. Dennoch hatte Scharping immer wieder mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Neue Spielräume eröffnete die Reform seines Nachfolgers: Struck definierte Verteidigung neu. Deutschland werde nicht in der Heimat, sondern am Hindukusch verteidigt. Konzentrieren müsse man sich auf die Hauptaufgaben: 1. Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung (also Kriegseinsätze) und 2. Bündnisverteidigung. Im gegenwärtigen Sicherheitsumfeld seien die für die traditionelle, autonom organisierte Landesverteidigung vorgehaltenen Kräfte reduzierbar. Dadurch könnten Gelder eingespart werden, die wiederum für neue Beschaffungsprojekte einsetzbar wären. Vertrauensbildend und friedensfördernd wäre der umgekehrte Weg. Statt andere Länder durch Aufstellung von Angriffsverbänden in Kooperation mit NATO- bzw. EU-Bündnispartnern zu bedrohen, müssten genau diese Verbände abgerüstet werden. Entsprechende Beschaffungsprojekte wären zu stoppen. Das Ergebnis wäre eine auf Landesverteidigung reduzierte, damit nicht-angriffsfähige bzw. angriffsunfähige Armee. Ein sozialdemokratischer Vorschlag aus den 1980er Jahren, der bei Rot-Grün in den letzten Jahren allerdings keine Konjunktur hatte. Weite Teile der GRÜNEN Parteibasis und auch einige Bundestagsabgeordnete haben sich eine skeptische Haltung gegenüber dem aktuellen Bundeswehrkurs bewahrt, auch die von Rot-Grün beschlossenen Kriegseinsätze waren jedes Mal stark umkämpft. Zuletzt wurde in 2005 gegen das MEADS-Projekt opponiert, bei dem es um die Entwicklung und Beschaffung einer neuen Generation von Raketenabwehrsystemen geht. Da diese mobil sein werden, könnten sie auch bei Kriegseinsätzen in aller Welt zum Einsatz kommen. Zwar trug die GRÜNE Parteielite keine Argumente für die Beschaffung vor, stimmte dieser aber um des lieben Koalitionsfriedens willen zu. Insgesamt hinterlässt die rot-grüne Regierung eine für Kriegseinsätze verwendbare Bundeswehr, auch wenn wichtige Beschaffungsprojekte noch nicht abgeschlossen wurden. Eine CDU-geführte Bundesregierung müsste keine entscheidenden Kurskorrekturen vornehmen, sondern könnte auf "Kontinuität" setzen. Allerdings ließen sich viele Rüstungsprojekte mit erhöhten finanziellen Mitteln sicher noch schneller bewerkstelligen. Die Militarisierung der Europäischen Union Natürlich ist der Aufbau eines militärischen Pfeilers in der EU kein von Rot-Grün 1998 gestartetes Projekt. Den Amsterdamer Vertrag, der die entsprechende Linie vorgab, fand Rot-Grün vor; er trat am 1.5.1999 in Kraft. Rot-Grün nahm sich jedoch im Koalitionsvertrag 1998 vor, sich für "die Verstärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität" einzusetzen. Der Jugoslawien-Krieg wirkte dann als Katalysator. Da Deutschland im ersten Halbjahr 1999 die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, drängte die rot-grüne Regierung an vorderster Front auf den Aufbau eigenständiger militärischer EU-Kapazitäten. Der Kölner EU-Gipfel beschloss im Juni 1999 "insbesondere die Stärkung unserer Fähigkeiten in den Bereichen strategische Aufklärung, strategischer Transport sowie Streitkräfteführung". Auch von der "Stärkung der industriellen und technologischen Verteidigungsbasis" war die Rede. Dazu wollte man "auf eine engere und effizientere Zusammenarbeit der Rüstungsunternehmen hinarbeiten" (Schlussfolgerungen ...). Ein halbes Jahr später folgte der EU-Beschluss, eine eigenständige Angriffstruppe von ca. 240.000 Soldaten aufzustellen, um 60.000 im Einsatz haben zu können. Staatssekretär Kolbow sagte für die rot-grüne Regierung begeistert zu, ein Drittel des Personals zu stellen. Inzwischen sind die Pläne sehr weitgehend umgesetzt worden. Sogar erste kleinere EU-Militäreinsätze im Kongo und auf dem Balkan sind erfolgt. 2003 versuchte die rot-grüne Regierung, neue Impulse für den Ausbau der EU zur Militärmacht zu geben. Auf dem so genannten Pralinengipfel forderten Frankreich, Deutschland, Luxemburg und Belgien die "Schaffung einer Europäischen Agentur für Entwicklung und Beschaffung militärischer Fähigkeiten" und regten an, dass (ähnlich wie beim Euro) die EU interessierten Staaten, die bereit wären, "raschere und weiter reichende Fortschritte bei der Verstärkung ihrer Zusammenarbeit im Verteidigungsbereiche zu erzielen", dazu die institutionellen Möglichkeiten einrichten sollte. Beide Vorschläge fanden sich später in der EU-Verfassung wieder. Dass die rot-grüne Regierung eine treibende Kraft bei der EU-Militarisierung ist, ergibt sich aus den Grundauffassungen wichtiger Akteure. Mit der 2004 vollzogenen Osterweiterung der EU sieht Außenminister Fischer eine "neue strategische Dimension Europas, ... fortan auch den geopolitischen Imperativen der europäischen Sicherheit folgend. Daraus entwickelte sich in fast notwendiger Weise eine neue außen- und sicherheitspolitische Verantwortung der EU, die auch eine eigene Sicherheitsstrategie und eigene militärische Fähigkeiten einschließen muss. Sicherheit durch Integration, eigene geopolitische Interessen, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und militärische Fähigkeiten – aus diesen Elementen setzt sich seitdem die neue strategische Dimension der Union zusammen." (Fischer 2005: 175) Der deutsche Sitz im Sicherheitsrat Bereits die Kohl-Regierung hatte den deutschen Sitz im Sicherheitsrat im Visier. Die Kontinuität in der Außenpolitik spiegelte sich auch hier im Koalitionsvertrag 1998 wider: "Deutschland wird die Möglichkeit nutzen, ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu werden, wenn die Reform des Sicherheitsrates unter dem Gesichtspunkt größerer regionaler Ausgewogenheit abgeschlossen ist und bis dahin der grundsätzlich bevorzugte europäische Sitz im Sicherheitsrat nicht erreicht werden kann." (Koalitionsvertrag 1998: 1549) Im Wahlprogramm 1998 hatten sich die GRÜNEN noch den Vorschlag zu eigen gemacht, "ständige regionale Sitze im Sicherheitsrat einzuführen, die nach dem Rotationsprinzip besetzt werden. Deutschland soll zugunsten dieses Modells auf die Forderung nach einem eigenen ständigen Sitz verzichten." Die Position des Koalitionsvertrages blieb zunächst folgenlos. Erst 2004, in der zweiten Amtszeit von Rot-Grün, eröffnete sich die Chance auf eine UN-Reform. Die Bundesregierung bildete mit den Mitbewerbern Brasilien, Indien und Japan die so genannte G-4 und startete eine professionelle Kampagne für den deutschen Sitz. Die Gründe für den deutschen Sitz sind rein machtpolitischer Natur. Formal führt Außenminister Fischer an:   "Deutschland ist eine der größten Industrienationen der Welt;   es leistet den drittgrößten Finanzbeitrag an die UN;   es ist bei UN-Missionen zweitgrößter Truppensteller;   Deutschland ist das volkswirtschaftlich und bevölkerungsmäßig größte Land der Europäischen Union." (www.bundesregierung.de) Inzwischen stellte sich heraus, dass in der UNO ein weiteres Kriterium relevant ist: das Engagement in der Entwicklungshilfe. 35 Jahre gelang es Deutschland nicht, den Zielwert von 0,7% des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe zu erreichen; 2004 lag man immer noch unter 0,3%! Pünktlich zur Sicherheitsratsbewerbung erfolgte jedoch die Zusage, 2015 sei es soweit, schrittweise werde man den Betrag steigern. Das rein instrumentelle Verhältnis zur Entwicklungshilfe wurde daran deutlich, dass UN-Botschafter Pleuger und nicht die zuständige Ministerin die frohe Kunde mitteilte. Diese Episode fasst die Fortschritte in der Entwicklungspolitik in sieben Jahren Rot-Grün recht gut zusammen. Die – entgegen landläufigen Einschätzungen – durchaus aussichtsreiche Bewerbung hatte jedoch nicht nur positive Folgen (wie bei der Entwicklungspolitik), sondern es waren auch echte Kollateralschäden zu beklagen. Die vielfach propagierte menschenrechtsorientierte Ausrichtung rot-grüner Außenpolitik wurde von Kanzler Schröder gegenüber China aufgegeben: Um die chinesische Zustimmung für den deutschen Sitz zu erreichen, legte sich Schröder für die Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China mächtig ins Zeug. Dass es dabei nicht allein um symbolische Gesten geht, zeigt die Entwicklung der Rüstungsexporte unter Rot-Grün. Zwar hatte man in 2000 restriktive "politische Richtlinien" erlassen, doch drei Jahre später waren die Waffenexporte in nur einem Jahr (!) um über 49% gestiegen! Die durch den neu eingeführten jährlichen Rüstungsexportbericht hergestellte Transparenz entwickelte sich so zum Bumerang. Nicht-militärische Alternativen Trotz der grundsätzlichen Abstützung der Außenpolitik auf militärische Instrumente hatte sich Rot-Grün 1998 immerhin kleine Schritte in Richtung nicht-militärischer Alternativen auf die Fahnen geschrieben. Als Projekte waren die finanzielle Förderung der Friedensforschung, die Ausbildung und der Einsatz von Friedensfachkräften (ziviler Friedensdienst) sowie die Stärkung von Wirtschaftssanktionen durch einen Sanktionshilfefonds notiert. In der Tat flossen (verglichen mit den Investitionen in Waffen, Militär und Kriege) bescheidene Mittel in die erstgenannten Projekte. Der zivile Friedensdienst nahm seine Arbeit auf und wurde seit 1999 mit über 58 Mio. Euro unterstützt. 2000 wurde die Bundesstiftung Friedensforschung ins Leben gerufen und mit einem Stiftungskapital von 25,57 Mio. Euro ausgestattet. Zum Vergleich: Der Bundeswehr stehen allein für ihre Auslandseinsätze pro Jahr weit mehr als 1 Mrd. Euro zur Verfügung. Ein 2004 vom Kabinett verabschiedeter Aktionsplan Zivile Krisenprävention verdeutlicht ein weiteres Problem: Unter dem Etikett "zivil" werden eindeutig militärische Aktivitäten geführt. Im entsprechenden NATO-Kapitel (!) wird als "Aktion" z.B. festgehalten: "Die Bundesregierung wird die Entwicklung neuer Fähigkeiten sowie die Anpassung vorhandener Fähigkeiten und Strukturen befördern, um die NATO auf die neuen Herausforderungen sinnvoll, zielgerichtet und gleichzeitig in Zeiten knapper Mittel effizient auszurichten." (www.auswaertiges-amt.de: 35) An gleicher Stelle wird die "Perspektive eines NATO-Beitritts", also zu einem global operierenden Militärpakt, als Beitrag zur "Krisenprävention" verkauft. Hinsichtlich der Effektivierung von Wirtschaftssanktionen (als Alternative zum Krieg) tat sich dagegen nichts. Die Einrichtung eines internationalen Sanktionshilfefonds, aus dem Staaten, die die Sanktionen einhalten und dadurch wirtschaftlichen Schaden nehmen, entschädigt werden (vgl. Cremer 2000: 185ff.), wurde nicht vorangetrieben. Schließlich würde ein solches Projekt bei seiner Realisierung Milliardensummen erfordern, die man offenbar weiterhin lieber fürs Militär ausgibt. Auf der Habenseite steht gerade einmal die Ausrichtung von Konferenzen zum Thema "intelligente Sanktionen", auf denen Modelle für Waffenembargos und Reise- und Flugverbote für Einzelpersonen ausgearbeitet wurden. In sieben Jahren Rot-Grün ist nicht gerade Priorität auf die Entwicklung nicht-militärischer Alternativen gelegt worden. Immerhin sind einige Ansätze entstanden. Da die Spielräume aber zweifelsfrei größer waren, sind auch in diesem Bereich friedenspolitische Hoffnungen enttäuscht worden. Das Gesamt-Resümee sieht leider so aus, dass unter Rot-Grün auf zentralen Gebieten Weichenstellungen und Entscheidungen erfolgten, die friedenspolitische Spielräume in fast allen Fällen nicht nur ungenutzt ließen, sondern teilweise drastisch beschränkten. Waren es sieben friedenspolitisch verlorene Jahre? Dass Rot-Grün und nicht etwa eine CDU-geführte Regierung für den ersten Angriffskrieg der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich zeichnete, muss als absoluter politischer und moralischer Tiefpunkt gelten. Er kann auch nicht durch die Opposition gegen den Irakkrieg aufgewogen werden. Diese beweist nur, dass es auch an anderen Punkten anders gegangen wäre. Literatur
Ahmed, Nafeez M. (2003): Geheimsache 09/11, München
Bruckmann, Wolfgang/Karsten D. Voigt (1994): Verantwortbar und regierungsfähig? Eine kritische Betrachtung der außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Bonn
BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN (1994): Nur mit uns – Programm zur Bundestagswahl 1994
Cremer, Uli (2000): Sanktionshilfefonds – der effektive Weg zu Wirtschaftssanktionen, in: Cremer, Uli/Dieter Lutz (Hrsg.): Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung, Hamburg, S. 185ff.
Fischer, Joschka (1994): Risiko Deutschland, Köln
Fischer, Joschka (1998), Interview im Tagesspiegel, 5.11.
Fischer, Joschka (2005): Die Rückkehr der Geschichte, Köln
Koalitionsvertrag (1998), abgedruckt in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12
Resolution 1483 des UN-Sicherheitsrats vom 22. Mai 2003, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, S. 1022
Schlussfolgerungen des Vorsitzes Europäischer Rat in Köln 3./4.6.99; Quelle: AA-Homepage http://www.auswaertiges-amt.de
Talbott, Strobe (1999): "Das neue Europa und die neue NATO", Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, 4.2.
www.auswaertiges-amt.de: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/aussenpolitik/friedenspolitik/ziv_km/aktionsplan.pdf
www.bundesregierung.de: http://www.bundesregierung.de/artikel-,413.718482/Staendiger-Sitz-fuer-Deutschla.htm

[1] Das Kapitel VII regelt u.a. Kampfeinsätze zur Friedenserzwingung, die ohne Zustimmung der Konfliktparteien zum Einsatz kommen können.
[2] Die von Niels Annen (damaliger Juso-Bundesvorsitzender) und U. Cremer verfasste Erklärung wurde u.a. von über 50 Bundestagsabgeordneten unterstützt. Bundeskanzler Schröder beobachtete die Initiative mit Wohlwollen und nahm die Unterschriften entgegen. Text in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2003, S. 382, oder: http://www.gruene-jugend.de/6822.html

Inhalt:

Joachim Bischoff
Das Projekt Rot-Grün – eine Bilanz
Franz Walter
Freudlose Zeiten
Ein Rückblick auf rot-grüne Alternativlosigkeiten
Joachim Rock
Zuviel zuwenig
Zur Armutspolitik der rot-grünen Bundesregierung
Rolf Gössner
Sieben magere Jahre für die Bürgerrechte
Rot-Grün hat sich um den Ausbau des Kontrollstaates "verdient" gemacht
Axel Gerntke
Von der aktiven zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik
Die rot-grüne Bundesregierung hat ihre Chancen nicht genutzt
Johannes Steffen
Zurück zur Fürsorge-Rente
Rot-grüne Rentenpolitik
Wolfram Burkhardt
Kostendämpfung als Kontinuität
Rot-grüne Gesundheitspolitik unter den Imperativen des Wirtschaftsstandorts
Uli Cremer
Enttäuschung friedenspolitischer Hoffnungen (Leseprobe)
Die außenpolitische Bilanz: Ein Angriffskrieg und viele nicht genutzte Chancen

Autorenreferenz

Joachim Bischoff, Dr., Ökonom, Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus, Hamburg, Autor von Büchern zu den Themen Kritik der politischen Ökonomie, Kapitalismustheorie, Krisenanalyse und Klassenverhältnisse. Wolfram Burkhardt, Dr. phil., Dipl. pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für medizinische Soziologie im Universitätsklinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Uli Cremer, Mitglied der GRÜNEN, war 1999 Initiator der GRÜNEN Anti-Kriegs-Initiative und bis Februar 1999 Sprecher des Fachbereichs Außenpolitik bei BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN. Axel Gerntke, Gewerkschaftssekretär im Funktionsbereich Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen des IG Metall Vorstands. Rolf Gössner, Dr., Rechtsanwalt, Publizist und Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundes und der Länder. Bis 2001 parlamentarischer Berater der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Niedersächsischen Landtag. Seit 2003 Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte". Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky"und des "Grundrechte-Reports". Mitglied in der Jury zur Vergabe des "BigBrotherAwards". Autor zahlreicher Bücher zu Bürger- und Menschenrechtsthemen. Joachim Rock, Dipl.-Verwaltungswirt (VFH) und Dipl.-Politologe und promoviert an der Universität Kassel. Johannes Steffen, Dr., Referent für Sozialpolitik in der Arbeitnehmerkammer Bremen, langjähriger Experte für die Entwicklung der bundesdeutschen Rentenverfassung. Franz Walter, Dr., Professor für Parteienforschung am Seminar für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen.

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