Nationale Bildungsstandards
Von der Bildungs- zur Leistungspolitik
Mit einem Nachwort von Michael Löbig
204 Seiten | 2005 | EUR 14.80 | sFr 26.60
ISBN 3-89965-151-0 1
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Kurztext: Die Autoren zeigen anhand bildungspolitischer Beschlüsse, strukturpolitischer Maßnahmen und bildungstheoretischer Implikationen im Konzept der "Bildungsstandards", wie diese zu einer erweiterten "Leistungsschule" führen.
Die Einführung von Bildungsstandards an allgemeinbildenden Schulen ist seit nahezu 30 Jahren wieder der Versuch, eine grundsätzliche Bildungsreform umzusetzen. Wegbereitende Maßnahmen dafür waren die seit fast 15 Jahren betriebenen nationalen und internationalen Schulleistungsstudien. Die PISA-Studie hat dabei das größte Aufsehen erregt. In der Schule werden die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler nicht etwa angeglichen, sondern erhalten und verschärft. Zehn Prozent der deutschen Schüler verfügen höchstens über rudimentäre Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen. Den Schluss, dass dies bildungspolitisch gewollt ist, mochten die PISA-Forscher aber nicht ziehen. Statt dessen waren sie sich mit den Bildungspolitikern einig, dass es den deutschen Schulen vor allem an einem fehle: neuen Einrichtungen zur Qualitätskontrolle.
Das Instrument für die Kontrolle schulischer Lernresultate sollen die nationalen Bildungsstandards sein. Durch sie wird jede einzelne Schule in ihrer Leistung mess- und national vergleichbar. Die Einführung eines solchen Referenzsystems führt jedoch gleichzeitig zu Veränderungen bei den Lehrinhalten. Weil die einzelne Schule bewertet werden soll, müssen ihr auch autonome Entscheidungen hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung überlassen bleiben. Deshalb werden die staatlichen Lernpläne auf Kerncurricula reduziert, deren weitere Ausgestaltung im Belieben der Schulen liegt. Auf diese Weise kann der Qualitätswettbewerb zwischen den Schulen eröffnet und Bildungs- in Leistungspolitik transformiert werden.
Die Autoren:
Torsten Feltes arbeitete als Matrose, Luftbildauswerter und Fotograf. Er studierte an der Universität Flensburg Erziehungswissenschaft, Philosophie, Soziologie und Psychologie. Marc Paysen fuhr einige Zeit zur See, bevor er eine kaufmännische Ausbildung absolvierte. Er studierte an der Universität Flensburg Erziehungswissenschaft, Philosophie, Bildungsökonomie, Soziologie und Psychologie. Dr. Michael Löbig absolvierte eine Ausbildung zum Elektromechaniker und erlangte auf dem zweiten Bildungsweg die Hochschulreife. Er studierte Philosophie und Soziologie und promovierte an der Universität Hannover in Philosophie.
Leseprobe 1
Einleitung
"Im Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen repräsentierte sich, so hieß es, eine unabhängige Gutachterkommission in Erziehungsfragen und damit zugleich bis Mitte der sechziger Jahre die höchste pädagogische Autorität der Bundesrepublik. Der Ausschuß hat zu fast allen erzieherisch relevanten Tatbeständen Analysen vorgelegt und Empfehlungen ausgesprochen ... Wer die Liste der Ausschussmitglieder und deren bekannte Namen und entsprechende Titel durchgeht, der hat mit einem Schlag die bundesdeutsche Bildungsexklusivität vor Augen; das derzeitige Geschrei um die Bildungsbenachteiligung der 'Unterschichtenkinder' kommt nicht überall aus vertrauenswürdigen Mündern. Denn was soll die spezielle Förderung von Arbeiterkindern, wenn deren Eltern als gleichberechtigte Mitglieder in den repräsentativen kulturellen Gremien überhaupt nicht vertreten sind? Außerdem hätten diejenigen, die heute nach kompensatorischer Erziehung rufen und einige soziale Ungerechtigkeiten beklagen, auch vor Jahrzehnten solche Analysen bereits durchführen können. Warum betreibt man sie jetzt, wer ist derzeit an ihrem Zustandekommen interessiert, welche Motivationen stehen dahinter?"[1] Diese Situation beschrieb Hans-Jochen Gamm vor mehr als drei Jahrzehnten anlässlich der Diskussionen um die von Georg Picht 1964 konstatierte Bildungskatastrophe.[2] Bis dahin galt die These der pädagogischen Anthropologie, dass die Schule lediglich die natürlichen Begabungen und Anlagen der Schüler zum Vorschein bringe, fast uneingeschränkt. Mit der Ausrufung des "Bildungsnotstands" wurde diese Ansicht jedoch weitgehend aufgegeben und Maßnahmen beraten, die bisher verschwendeten Talente des Nachwuchses gezielter nutzbar zu machen. Nicht einmal die Annahme einer sehr begrenzten Lernfähigkeit Erwachsener sollte ihre Gültigkeit behalten: Mit dem "Strukturplan für das Bildungswesen" des Deutschen Bildungsrates (1970) wurde auf "lebenslangem Lernen", also auf Weiterbildung, bestanden. Im Zuge der damals eingeleiteten Reformmaßnahmen wurde die Zahl der Realschulabsolventen ebenso wie die Zahl der Abiturienten deutlich erhöht, aber auch die Erwachsenenbildung nahm einen lebhaften Aufschwung. Die traditionelle pädagogische Begabungslehre musste sich nach den aktuellen Erfordernissen der zu verbessernden "Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft", der "Höhe des Sozialprodukts" und der "politischen Stellung" der Nation in der Welt richten – denn darauf sollte sich nach Picht die Bildungskatastrophe auswirken. Zwischen der damaligen und der heutigen Situation besteht eine frappierende Ähnlichkeit. Die Bildungskatastrophe der Gegenwart ist der "PISA-Schock" des Jahres 2001, dem allerdings 1997 bereits ein TIMSS-"Schreck" vorausging. Die Rede ist von den verschiedenen seit Beginn der 1990er Jahre durchgeführten nationalen und internationalen Schulleistungsstudien. War 1964 die Zahl der Abiturienten der Maßstab für die Feststellung der mangelnden Leistungsfähigkeit des allgemeinbildenden deutschen Schulsystems, so sind es heute die Ergebnisse aufwendig durchgeführter Leistungstests von Schülern. Im Jahre 2000 nahmen an der ersten von drei Phasen des Programme for International Student Assessment (PISA) 50.000 deutsche Schüler teil. Das deutsche Ergebnis war im internationalen Vergleich miserabel: Platz 21 unter 31 Teilnehmerstaaten. Die hiesige Politik zeigte sich entsetzt und überrascht. Der Staat mit der drittgrößten Nationalökonomie der Welt, der durch seine Schulreformen im 18. und 19. Jahrhundert weltweit zum Vorbild wurde – deutsche Volksschule, Fröbelscher Kindergarten, Humboldtsche Universität –, dieser Staat war im aktuellen Bildungsvergleich weit abgeschlagen. Die Leistungsstudien zeigen, dass in der Bundesrepublik Deutschland die soziale Herkunft der Schüler in einem solchen Maße Einfluss auf den Schulerfolg hat, wie in keinem anderen Teilnehmerstaat (außer der Schweiz). Bildungspolitische Maßnahmen, durch die Leistungsuntersuchungen wie PISA auf der Ebene der Schulen, der Länder und des Bundes in Form von Institutionen zur Evaluation etabliert werden sollen, erscheinen als eine Konsequenz dieser Resultate. An dieser Stelle liegt der Unterschied zu den Reformen am Anfang der 1970er Jahre: Abgesehen von den Instanzen zur Qualitätskontrolle sind gegenwärtig keine wesentlichen strukturellen Maßnahmen oder finanziellen Mehraufwendungen zur Erweiterung oder Verbesserung schulischer Möglichkeiten vorgesehen. Die bildungspolitisch geplanten Evaluationsmaßnahmen bedürfen jedoch für den Vergleich der schulischen Lernergebnisse eines vereinheitlichenden Maßstabs. Diesen Maßstab soll die Einführung nationaler Bildungsstandards gewährleisten – und zwar sowohl für die Entwicklung von Testverfahren zur Evaluation der Schulen als auch für die inhaltliche Orientierung des schulischen Unterrichts selbst. Dabei soll es vor allem auf den Erwerb von Kompetenzen ankommen, die – wie der Deutsche Bildungsrat bereits 1970 verlangte – Voraussetzung für "lebenslanges Lernen" sein können. Nicht konkrete Lerngegenstände sollen durch Bildungsstandards bestimmt werden, sondern wesentliche fachgebundene Kompetenzen, deren Erwerb sich erst in der gelungenen Verbindung von Wissen und Können zeigt. Solche Bildungsstandards zu entwickeln, wurde von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2002 beschlossen und durch ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes wissenschaftliches Gutachten unterstützt. Daran anschließend sind für verschiedene Fächer und Abschlüsse nationale Bildungsstandards vereinbart worden. Die vorliegende Arbeit geht den mit der Einführung verbundenen Intentionen, Konzeptionen und Implikationen nach, um den Stellenwert der Reformmaßnahmen für die Verbesserung allgemeiner Bildung beurteilen zu können. Obwohl die Idee der Bildungsstandards im Folgenden auf das allgemeinbildende Schulsystem bezogen ist, kann dies auch als exemplarische Entwicklung für Berufs- und Hochschulen angesehen werden, da dort bereits ähnliche Ansätze diskutiert und erprobt werden. Im ersten Kapitel wird zunächst der Stand der Beschlussfassung zur Einführung der Standards dargestellt. Dabei wird auf den diesbezüglichen bildungspolitischen Kontext der letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre verwiesen. Ein Vergleich der Beschlüsse mit den Vorschlägen des Gutachtens, der Expertise "Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards", verdeutlicht die mit dem Projekt verbundenen politischen Intentionen. Einige bildungstheoretische Implikationen der Konzeption werden in dem Kapitel soweit dargestellt, wie es im Zusammenhang mit dem vorher Referierten möglich erscheint. Dient das erste Kapitel dem Überblick über die bildungspolitischen "Tatsachen", so soll im zweiten Kapitel die Konzeption der Bildungsstandards insofern einer Prüfung unterzogen werden, als mit ihrer Umsetzung das Verständnis einer grundsätzlichen Wende in der Steuerung des Bildungssystems verbunden wird. Dieser Orientierungswandel ist es, der die Konzeption für die Bildungspolitik gegenwärtig so attraktiv macht. Nicht am bloßen Befolgen der politisch-administrativen Vorgaben, sondern am tatsächlichen Erreichen der Lernziele soll sich Schule künftig messen lassen. Der Anspruch, Lernziele verbindlich zu erreichen, impliziert eine Verbesserung des allgemeinen Bildungsniveaus. Ob das mit den Bildungsstandards verbundene analytische Instrumentarium dazu einen entscheidenden Beitrag leisten kann, soll in diesem Kapitel untersucht werden. Dazu werden auch die bisherigen administrativen Vorgaben in Form von Lehrplänen genauer betrachtet. Das Kapitel berührt notwendig bereits alle in dieser Arbeit enthaltenen Aspekte des Themas, einige werden jedoch in ihren wesentlichen Punkten erst in den Kapiteln 4 und 5 ausführlicher dargestellt. Weil sich die Einführung von Bildungsstandards in der Bundesrepublik Deutschland noch in der Umsetzungsphase befindet, wird im dritten Kapitel betrachtet, wie andere Staaten in der Praxis ihres allgemeinbildenden Schulwesens mit Standards und Standardisierungen umgehen. Die Entwicklungen im Schulwesen dieser Staaten geben Aufschluss, woher die Anregungen für die hiesige Konzeption stammen und unter welchen Bedingungen welche Wirkungen von Bildungsstandards für das deutsche Schulsystem zu erwarten sind. Die Auswahl der Staaten dient der exemplarischen Veranschaulichung jeweils bestimmter Entwicklungen. Nachdem sich die Kapitel 1 bis 3 unmittelbar mit den intendierten, konzipierten und praktischen Auswirkungen von Bildungsstandards beschäftigt haben, setzt das vierte Kapitel noch einmal grundsätzlicher an. Durch einige Betrachtungen zur Funktionsweise der Schule bzw. des schulischen Lernens soll Distanz zum Reformkonzept der Bildungsstandards gewonnen und ein klarer Blick auf dessen Konsequenzen geworfen werden. Der Begriff der Leistung steht dabei im Mittelpunkt. Erst an der prinzipiellen Wirkungsweise der Schule wird deutlich, welche Wirkung Bildungsstandards haben werden, wenn diese Wirkungsweise selbst nicht verändert wird. Im fünften Kapitel wird die am Ende des ersten Kapitels begonnene und z.T. in den darauffolgenden Kapiteln fortgesetzte bildungstheoretische Diskussion wieder aufgenommen. Die einzelnen zuvor behandelten bildungstheoretischen Aspekte werden allgemein zusammengefasst und die These eines Paradigmenwechsels im gegenwärtig wirksamen Bildungsverständnis entwickelt. Soweit Bildungsstandards bloße Konzeption sind, verweist der ihnen zugrunde liegende Bildungsbegriff auf die Resultate der künftigen Schulpraxis.[1] Gamm, Hans-Jochen: Das Elend der spätbürgerlichen Pädagogik. München: List 1972, S. 99f.
[2] Picht, Georg: Die deutsche Bildungskatastrophe. Olten: Walter 1964.
Leseprobe 2
Die Verdunklung des Bewusstseins – ein Nachwort
"Das Neue scheint mir, daß die Menschen heute nicht mehr das Leiden am gesellschaftlichen Zustand sich gestatten, sondern das, was ihnen angetan wird, sich selbst zu eigen machen, womöglich es noch selbst unterschreiben."Max Horkheimer In der gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion wird aus pragmatischen Gründen auf eine inhaltliche Bestimmung von Bildung verzichtet.[171] Der von Politikern bis zu 'Bildungsexperten' reichende Minimalkonsens in Bezug auf diese wird in der Übereinstimmung gesehen, dass die Individuen durch Erziehung in die Lage versetzt werden sollen, ihre Rolle als 'Staatsbürger' zu erfüllen sowie "das eigene Leben als Lernprozess selbst gestalten zu können, trotz der Unsicherheit von Beruf und Arbeit, Karriere und sozialer Lage".[172] Die zuerst genannte Fähigkeit zielt – etwas verkürzt – auf die Herstellung der Bereitschaft zur Teilnahme an den für eine repräsentative Demokratie elementaren Wahlen, der Bekundung ihres Willens; die zuletzt genannte darauf, sich um der individuellen Selbsterhaltung willen heteronom gesetzten Zwecken zu fügen und sie realisieren zu können. Beide zielen gemeinsam auf die Herstellung der 'gut integrierten Persönlichkeit'[173] und damit auf die Vereidigung der Menschen auf das Hier und Jetzt. Damit aber wird das ehemals 'Erziehung' und 'Bildung' transzendierende Moment – wie stets auch immer wieder in den Feuilletons überregionaler Zeitungen gefordert – dem Ziel der kollektiv/nationalen Konkurrenzfähigkeit im globalen ökonomischen Wettbewerb geopfert und von der staatlichen Bildungspolitik der Versuch unternommen, den bereits vor Jahren von der sächsisch-bayrischen Zukunftskommission in ihrem Abschlussbericht geforderten Bewusstseinswandel in der Gesellschaft herbeizuführen.[174] Denn der bereits seit geraumer Zeit auch unter sozialdemokratisch-grüner Regie mittels neoliberaler Politik vorangetriebene 'Umbau' des Sozialstaates impliziert nicht nur die Senkung staatlicher Transferleistungen (Stichwort Hartz IV) an die in der ökonomischen Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft objektiv Überflüssigen, sondern auch, gleichsam flankierend, durch die Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen dahingehend, dass sich die individuelle Konkurrenz, in der die Subjekte zueinander stehen, verschärft, die Erzeugung eines Bewusstseinswandels in der Bevölkerung, insbesondere der jüngeren Generation. Dieser sollen die unter dem Zeichen der 'Globalisierung' veränderten gesellschaftlichen individuellen Reproduktionsbedingungen allmählich selbstverständlich, quasi zur zweiten Natur werden. Doch "ein Princip der Erziehungskunst, daß besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht nur dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden."[175] Bestand nach Überzeugung der europäischen Aufklärungsepoche und der auf sie folgenden gesellschaftskritischen Tradition das Telos der Erziehung darin, dass die Menschen das jeweils Bestehende im Hinblick auf die erst herzustellende Einheit der Menschheit[176] zu transzendieren in der Lage sein sollten, so war dies nach ihrer Überzeugung nur durch die Befähigung zum Vernunftgebrauch, der die zu Erziehenden befähigen sollte, das jeweils Bestehende nicht bereits als deren Inkarnation zu begreifen, realisierbar. Bildung, als die Fähigkeit des Subjekts von seinem ihm durch die Natur gegebenen Vernunftvermögen Gebrauch zu machen, sollte somit nicht nur die Individuen befähigen, sich unter den je gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen selbst zu erhalten, sondern auch ihre Fähigkeit befördern, die Mängel des faktisch Gegebenen im Hinblick auf eine dem Menschen als Vernunftwesen adäquate gesellschaftliche Existenz erkennen und überwinden zu können. Damit aber implizierte Bildung die Entfaltung des eigenen Urteilsvermögens als Bedingung für die intendierte Autonomie des Subjekts. Denn die von den maßgeblichen Autoren der europäischen Aufklärung und der ihr folgenden kritischen Tradition angestrebte Autonomie des Subjekts mittels der Beförderung der eigenen Urteilskraft, sollte Garant sein für die stetige Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse, für einen "möglichen bessern zukünftigen Zustande des menschlichen Geschlechts". Der 'mögliche bessere zukünftige Zustand' wurde übereinstimmend nicht allein in der Vermehrung des materiellen gesellschaftlichen Reichtums gesehen, sondern auch darin, dass die Menschen sich vervollkommnen und in sich das moralische Gesetz erkennen, durch dessen Anerkennung die Freiheit eines jeden mit jedermanns Freiheit in der Gesellschaft widerspruchsfrei zusammen bestehen könne. Bildung in diesem Sinne, im Sinne der aufklärerischen, kritischen Tradition, beinhaltete damit zugleich die Fähigkeit des Subjekts zur Kritik des Gegebenen. Diese, vom Subjekt erst auszubildende Fähigkeit zur Kritik, setzt jedoch gesellschaftlich-materielle Bedingungen für das Gelingen von Bildung voraus.[177] Weil Bildung die Voraussetzung ist für das Subjekt, um von seiner Urteilskraft einen dem jeweiligen Gegenstand angemessenen Gebrauch zu machen, und die Betätigung der Urteilskraft zugleich die Möglichkeit der Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen impliziert, haben diejenigen, die die existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse repräsentieren und an deren Erhalt interessiert sind, kein Interesse an Bildung im bezeichneten Sinne. Weil für sie der 'mögliche bessere zukünftige Zustand' gegeben, die Beste aller Welten schon ist, reduziert sich für sie die Fürsorge des Staates auf die Bereitstellung dessen, was der bloßen Selbsterhaltung aller und dem gesellschaftlichen System genügt. Da aber die Idee eines 'möglichen bessern zukünftigen Zustandes' darauf zielte, in allen Menschen das ihnen von der Natur gegebene Vernunftvermögen von Potenzialität in Aktualität zu überführen und damit die Gleichheit der Menschen nicht nur postuliert sondern ihre Herstellung zur Forderung wurde, waren stets diejenigen, die von der materiellen Ungleichheit in der Gesellschaft profitierten an einer Bildung aller Menschen desinteressiert. Bildung blieb, wider die Intention der Tradition, Privileg einer Minderheit.[178] Deshalb geriet sie in Verruf. Denn im Zuge der Entfaltung kapitalistischer Produktionsweise, spätestens jedoch seit der industriellen Revolution, wurde Bildung auch zu einer Angelegenheit des Staates. Ihm sollte es obliegen seinen Staatsbürgern die materiellen und organisatorischen Voraussetzungen um sich zu 'bilden' bereitzustellen. Doch die durch den Staat aufrechterhaltene ökonomische Sphäre in der bürgerlichen Gesellschaft verlangte nach anderem als gebildeten Bürgern. Denn die unter kapitalistischen Produktionsbedingungen vermittelt durch die Konkurrenz der Einzelkapitale stattfindende beständige Revolutionierung der Produktivkräfte erforderte zunehmend die Vermittlung von grundlegenden Kulturtechniken an die 'Bürger', als Bedingung der Qualifikation ihrer Arbeitskraft. Zwar kamen dadurch immer mehr Menschen in den 'Genuss' von 'Bildung'. Zugleich erfolgte jedoch auf diese Weise sukzessiv die Ersetzung dessen, was einstmals Bildung hieß, durch die Vermittlung desjenigen Wissens, das in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte für die Qualifizierung der Arbeitskräfte notwendig schien. Die einst zum Zwecke der 'Erziehung zur Menschheit' auf die Entfaltung des Vernunftvermögens des Einzelnen zielende Bildung wurde auf die Entfaltung instrumenteller Vernunft beschränkt, nämlich die Entwicklung der Fähigkeit des Einzelnen, sich in Abhängigkeit von seinen materiellen Voraussetzungen aus dem Bestand des akkumulierten Wissens der Menschheit dasjenige anzueignen, dessen er zum Zwecke seiner Selbsterhaltung unter dem Aspekt der Qualifizierung seiner Arbeitskraft bedurfte, um es für heteronom gesetzte Zwecke anzuwenden. Bildung in der Tradition der Aufklärung und des Neuhumanismus lag, mit unterschiedlicher Gewichtung, die Idee der Vervollkommnung des Menschen durch die Befähigung zum Vernunftgebrauch zugrunde. Denn das die ökonomische und politische Macht anstrebende Bürgertum wähnte sich von den Fesseln des Feudalismus nur im Namen 'der Erziehung zur Menschheit'[179] befreien zu können. Doch gerade die von ihm inaugurierte ökonomische, politische und soziale Ordnung desavouierte das von ihm intendierte Ziel. Mit der Erringung der Macht durch das Bürgertum begann sich nicht nur ein dem ursprünglichen Ziel, der Einrichtung einer vernünftigen Menschheit widersprechendes ökonomisches Prinzip gegenüber den handelnden Akteuren zu verselbstständigen, sondern im Zusammenhang mit diesem in der Folge zunehmend ein positivistischer Zeitgeist zu etablieren, dem der heute herrschende Pragmatismus entspricht und dem das ursprünglich vom Bürgertum formulierte Telos als ein metaphysisches Relikt vergangener Tage gilt. Die dem Menschen eigentümliche Fähigkeit zur Vernunft, durch deren Betätigung er nach Überzeugung der Tradition erst Mensch wird,[180] ist daher dem heutigen Zeitgeist ebenso obsolet wie die Rede von Bildung. Ginge es in den heutigen Debatten wahrhaft um 'Bildung', in der der emanzipatorische Gehalt der Tradition nicht abstrakt negiert, sondern aufbewahrt wäre, dann hieße dies, allen Menschen die materiellen Bedingungen bereitzustellen und sie dazu zu befähigen, die gesellschaftlichen Bedingungen der eigenen wie der Existenz aller Menschen reflektieren zu können. Denn nur unter der Voraussetzung des Bewusstseins von den gesellschaftlichen Bedingungen der eigenen wie der Existenz aller wäre die kantische weltbürgerliche Gesellschaft, in der die Freiheit eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz widerspruchsfrei bestehen könnte, zu realisieren. Erst dann wäre die der kritischen Tradition entstammende Idee der heute in falscher Gestalt bestehenden Einheit der Menschheit zu verwirklichen. Weil jedoch im Prozess der Durchsetzung des der kapitalistischen Produktionsweise inhärenten ökonomischen Prinzips, wonach jegliche Regung des Subjekts sich in den Dienst der Verwertung des Kapitals zu begeben hat, den Menschen die Vorstellung davon, dass es ganz anders sein könnte, schwand, meint Bildung heute die Anpassung des Subjekts an heteronome, sich gemäß den globalen ökonomischen Erfordernissen beständig wandelnde Bedingungen. Weil dem Bewusstsein, das nur durch die kritische Reflexion der Tradition das dieser innewohnende und zu bewahrende emanzipatorische Potenzial zu erkennen vermag, die Vorstellung davon, dass die gesellschaftlichen Beziehungen in denen sie zueinander stehen ganz andere sein könnten, verloren ging, erscheint den Menschen die Einrichtung der Welt zugleich und in derselben Hinsicht als die Beste und Schlechteste, ohne dass sie des Widerspruchs in ihrem Denken gewahr werden. Denn dasjenige, das immer weniger Menschen einen steigenden Lebensstandard beschert, das ökonomische Prinzip, erzeugt zugleich für immer mehr Menschen materielle Armut, psychische und physische Verelendung. Indem die neoliberale Politik die in der Geschichte erkämpften Rechte der lohnabhängigen Massen sukzessive beschneidet und sie damit, unter gegebenen ökonomischen Bedingungen, dem steigenden Druck unterwirft, sich in und durch prekäre Arbeitsverhältnisse individuell zu reproduzieren, begünstigt sie bei den noch beschäftigten Massen die Entstehung einer gegenüber dem historisch Entstandenen gleichgültige Haltung. Für sie zählt allein die Gegenwart. Auf diese Weise aber wird "Erfahrung, die Kontinuität des Bewußtseins, in die das Nichtgegenwärtige dauert, in der Übung und Assoziation im je Einzelnen Tradition stiftet, (...) ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit, der schon anzumerken ist, daß sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird. Anstelle des temps durée, des Zusammenhangs eines in sich relativ einstimmigen Lebens, das ins Urteil mündet, tritt ein urteilsloses 'Das ist' ..."[181] Weil durch die politisch gewollte Abschaffung historisch erkämpfter Rechte immer mehr Menschen gesellschaftlichen Bedingungen unterworfen werden, in denen die Versuche, ihre Selbsterhaltung durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu betreiben, mit der Angst verbunden sind, sich den rasch ändernden gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen nicht schnell genug anpassen zu können, nehmen, gesellschaftlich induziert, nicht nur psychische und physische Erkrankungen der Menschen zu, sondern auch nationalistische oder partikularistische politische Bestrebungen. Denn "die technologische Gesellschaft erfordert partielle, stets wechselnde rationale Anpassungsprozesse, sie ist Ausdruck vollendeter Partikularität, während das übrigbleibende Vakuum, der Mensch in seinem Verlangen, doch Mensch zu sein, von Irrationalismen besetzt wird."[182] Und da die Menschen von der Schule und der Universität in Unkenntnis über die das Bestehende konstituierenden Gesetzmäßigkeiten gehalten wurden und noch immer werden, ihnen im Gegenteil suggeriert wird, dass alles zum Besten bestellt sei, erscheint ihnen die 'ökonomische Krise' und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Folgeerscheinungen wie ein über sie verhängtes Schicksal, dem sie ebenso wenig entkommen können wie einer Naturkatastrophe. Sie bleiben, unter dem Schein von Freiheit, Sklaven der von ihnen selbst geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Daher konnte H. J. Heydorn prognostizieren, dass "die Versklavung des Menschen (...) in der Zukunft kaum mehr unter den sichtbaren Emblemen totalitärer Herrschaft vollzogen wird, sondern unter den alten Zeichen der Freiheit".[183] Die hier vorliegende Studie von Torsten Feltes und Marc Paysen zeigt eindringlich und in aller Deutlichkeit die veränderte Stellung und Funktion, die der Schule als Erziehungs- und Bildungsanstalt in Zeiten der so genannten Globalisierung von den Vertretern des Bestehenden zugesprochen wird. Der Versuch der Einführung von nationalen Bildungsstandards zielt nicht auf die Bildung der Subjekte im Sinne der Tradition: der Bereitstellung der Bedingungen für autonome, mündige Subjekte, die, ausgestattet mit einem geschärften Urteilsvermögen, im Bewusstsein der gesellschaftlichen Bedingungen ihrer eigenen Existenz, sich den durch den bisher bewusstlos verlaufenden historischen Prozess entstandenen Problemen der Menschheit widmen und sie zu lösen suchen. Vielmehr ist der Versuch ihrer Einführung die späte politische Reaktion auf den über das Schicksal der Menschen bestimmenden, nur noch um seiner selbst willen, quasi bewusstlos als sachliche Gewalt sich vollziehenden ökonomischen Prozess und die sich durch diesen verändernden ökonomischen Reproduktionsbedingungen in der Gesellschaft. Die zukünftigen Generationen sollen sich durch den von ihnen zu durchlaufenden Sozialisationsprozess in den Schulen und Universitäten an die sich aus dem verselbstständigten ökonomischen Prozess ergebenden veränderten Bedingungen anpassen können. Daher besteht das Ziel der Erziehung in der Schule nicht darin, die Menschen um des Erreichens eines 'möglichen bessern zukünftigen Zustandes' willen zu 'bilden', sondern sie sucht ihre Subjekte durch allmähliche Gewöhnung an die gesellschaftlich gesetzten Leistungskontrollen zur Anpassung an die sich beständig verändernden gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Selbsterhaltung zu befähigen. Wenn es daher schon der Sache nach nicht mehr um 'Bildung' und den mit ihr in der Tradition verbundenen Emanzipationsanspruch der Menschen geht, sondern um deren Zurichtung für die sich verändernden gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz von nationalen Einzelkapitalen auf dem Weltmarkt, dann sollten Politiker und Bildungsexperten sagen, worum es ihnen geht: um Leistungskontrollstandards und nicht, wie suggeriert wird, um Bildungsstandards. Und zugleich sollten sie den in der Bildungsbranche Beschäftigten mitteilen, dass sie die Verantwortung für den Erfolg, sowohl in der Qualifizierung der Subjekte für den sie erwartenden Arbeitsmarkt, wie auch für die internationale Konkurrenzfähigkeit der nationalen Einzelkapitale, ihnen übertragen, weil bei der geplanten Organisation der zukünftig stattfindenden Leistungskontrollen der Erfolg davon abhängig sein wird, ob sich eine Schule in der Vermittlung der nötigen Qualifikation in der Konkurrenz mit anderen durchsetzt, d. h. die für den 'freien Markt' gelten sollenden Prinzipien auf Schulen übertragen werden. Das damit verfolgte Ziel wurde schon früh formuliert: "Da es nicht mehr bei uns steht, die Menschen wieder simpel, frugal, bedürfnisfrei zu machen: so bleibt uns nichts mehr übrig, als zu versuchen, ob wir sie nicht emsiger, industriöser und erwerbsamer machen können, damit Einnahme und Ausgabe einigermaßen wieder ins Gleichgewicht kommen mögen."[184] Darin kommt die Einsicht zum Ausdruck, dass die gesellschaftlichen Produktionskosten der gegenwärtig vermittelten Gestalt von 'Bildung' im Verhältnis zur sich für die Behauptung in der internationalen Konkurrenz geschaffenen und benötigten neuen Technologie zu hoch sind. Deshalb bedarf es aus der Sicht der Bildungspolitik wie ökonomischer Interessensgruppen der Einführung von Bildungsstandards, besser Leistungskontrollstandards, als probatem und flexibel handhabbarem Instrument zur mittelfristigen Steigerung der Effizienz. Diese soll sowohl durch die Senkung der gesellschaftlichen Kosten mittels der Steigerung der Konkurrenz zwischen Schülern, Lehrern, Schulen und auch Universitäten erfolgen, wie auch durch die von der Einführung von Leistungskontrollstandards zukünftig erhofften, vermehrt ökonomisch verwertbaren Resultate in den Wissenschaften. Hierin gründet die Präferenz für naturwissenschaftlich-technische 'Bildung' und die schwindende Bedeutung der Geisteswissenschaften.[185] Weil für das Bestehen der Einzelkapitale in der internationalen Konkurrenz die technische Basis ihrer Produktion von grundlegender Bedeutung ist und sie der beständigen Innovation bedarf, kommt der Leistungskontrolle bereits bei der Vermittlung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in den Schulen, als Voraussetzung für ein späteres erfolgreiches naturwissenschaftlich-technisches Studium an der Universität, eine zentrale Bedeutung zu.[186] Da es jedoch kein systematisch geregeltes Verfahren zur Herstellung ökonomisch verwertbarer Erkenntnisse gibt,[187] wird die unter verschärfter Leistungskontrolle in Aussicht genommene Verkürzung von Schulzeiten, anschließender Berufsausbildung oder eines Studiums keineswegs das erhoffte Resultat zeitigen. Zu erwarten ist dagegen ein sich fortsetzender Zerfall der Einheit des Selbstbewusstseins, ein Wachsen von Dummheit und Schurkerei (Nietzsche) mit der Konsequenz, dass die Menschen noch weniger den steigenden Anforderungen gewachsen sein werden. Dies deshalb, weil sich die Subjekte, unter dem stummen Zwang der gesellschaftlichen Verhältnisse, mehr denn je den Bedingungen der Verwertung von dem Einzelkapital geschuldeten partikularen Zwecken bereitstellen werden und in ihrem Tun von dem mit seiner Realisierung bewirkten Gesamtzweck absehen. Unterstellt wird von ihnen dabei stets, in Analogie zu Smiths "invisible hand," dass sich durch ihre Realisierung heteronomer partikularer Zwecke ein vernünftiger Gesamtzweck verwirklicht.[188] Sollte dieser Entwicklung entgegengewirkt werden, dann müsste angesichts des Wachstums des weltweit produzierten materiellen gesellschaftlichen Reichtums den Menschen eine zentrale Bedingung für Bildung bereitgestellt werden: Muße. Denn "mit dem Aneignen ist es nicht getan. Wer nicht aus sich herausgehen, sich an ein Anderes, Objektives ganz und gar verlieren und arbeitend doch darin sich erhalten kann, ist nicht gebildet, und der sogenannte Gebildete, der dazu unfähig ist, wird stets Male einer Beschränktheit und Befangenheit aufweisen, die seinen eigenen Anspruch auf Bildung Lügen strafen. Das Andere, Objektive aber ist heute nicht bloß das Besondere, ..., sondern ebenso und in erster Linie das, ohne was die Entfaltung des einzelnen gar nicht möglich ist; ich meine die vernünftige und menschliche Einrichtung, die Verbesserung und Durchbildung des gesellschaftlichen Ganzen. ... Bildung ist so sehr Bildung des äußeren Ganzen, wie gerade damit Bildung seiner selbst."[189] Bildung verlangte somit die Entwicklung der Fähigkeit des Subjekts zur Reflexion der Konstitutionsbedingungen von Geschichte ebenso wie die Fähigkeit zur Reflexion der je gegenwärtigen ökonomischen, sozialen, politischen und rechtlichen Bedingungen von Gesellschaft, im Zusammenhang mit ihrer Geschichte. Sie wäre – so bestimmt – die Fähigkeit des Subjekts, sich als historisch konstituiertes, sich seiner gesellschaftlichen Bedingungen bewusstes sowie ebenso durch die gegebenen materiellen gesellschaftlichen Bedingungen bedingtes Wesen zu begreifen. Erst unter dieser Voraussetzung könnte ein in solcher Weise 'gebildeter' Mensch auf die für ihn in der bürgerlichen Gesellschaft existierenden Bedingungen reflektieren und erkennen, dass die an ihn herangetragene Forderung, als aufgeklärtes, autonomes Subjekt zu handeln, nicht zu erfüllen ist und suchen die Bedingungen grundlegend zu verändern. Daher bleibt die in der Tradition an Bildung geknüpfte Hoffnung auf die Emanzipation des Menschen von jeglicher Gestalt von Herrschaft ein bis heute uneingelöster Anspruch. "Es ist Aufgabe der Bildung, Möglichkeit schon zum lebenden Hinweis zu bringen. Sie muß den möglichen Menschen in seine Gegenwärtigkeit setzen. (...) Es ist dies das Ziel, das über Ausbeutungsfreiheit hinausweist auf Aufhebung aller Unterdrückung. Bildung ist uneingeschränkte Selbstentfaltung des durch seine Geschichte erzogenen und frei gewordenen Menschen. (...) Sie geht davon aus, das es auch in der Zukunft nur so viel Menschlichkeit geben kann, wie wir fähig sind, vorzuleisten. (...) Sie vermag dies nicht allein, aber diese ist ihre Sache."[190] Michael Löbig
[171] Vgl. in der vorliegenden Arbeit Kapitel 5.1 (und 5.2).
[172] Vgl. dazu: Klieme, Eckhard u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Frankfurt am Main: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 2003, S. 51.
[173] "Kern seiner [Kants, M. L.] Freiheitslehre ist die mit Empirischem unversöhnliche Idee, daß moralische Objektivität – hinter der der Gedanke an die richtige Einrichtung der Welt steht – nicht am Zustand der nun einmal so seienden Menschen gemessen werden kann. Die schonende psychologische Duldung des Gewissens zerstört gerade jene Objektivität, indem sie es als bloßes Mittel verwertet. Das Ziel der 'gut integrierten Persönlichkeit' ist verwerflich, weil es dem Individuum jene Balance der Kräfte zumutet, die in der bestehenden Gesellschaft nicht besteht und auch gar nicht bestehen sollte, weil jene Kräfte nicht gleichen Rechtes sind." Adorno, Theodor W.: Zum Verhältnis von Psychologie und Soziologie. In: Ders.: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 131.
[174] "Zur Weckung unternehmerischer Kräfte müssen vorrangig individuelle Sicht- und Verhaltensweisen sowie kollektive Leitbilder in den Bereichen von Erwerbsarbeit und Daseinsvorsorge verändert werden. Zur Zeit dominieren hier noch Vorgaben einer arbeitnehmerzentrierten Industriegesellschaft. Sie müssen ersetzt werden durch Vorgaben einer Gesellschaft, in der der Einzelne ein höheres Maß an Eigenverantwortung auch für seine Erwerbsarbeit und Daseinsvorsorge übernimmt und deren wichtigster Produktionsfaktor Wissen ist: Vorgaben einer unternehmerischen Wissensgesellschaft." Zitiert nach: Wie die Deutschen zu unternehmerischen Kräften kommen sollen. Die sächsisch-bayerische Zukunftskommission legt ihren Abschlußbericht vor. Aus den Leitsätzen und Schlußfolgerungen, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 280 (2.12.1997), S. 9.
[175] Kant, Immanuel: Pädagogik. In: Ders.: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Band 9, Berlin: de Gruyter 1968. S. 447.
[176] Die Formulierung der erst 'herzustellenden Einheit der Menschheit' ist dem herrschenden Zeitgeist suspekt. Sie gründet auf Kants 'Idee der Menschheit' und findet sich noch in den Frühschriften von Marx in der Formulierung, dass, als Bedingung für die Verwirklichung der Idee eines Vereins freier Menschen, der Mensch für den Menschen das höchste Wesen zu sein habe.
[177] Die besseren gesellschaftlich-materiellen Bedingungen für das Gelingen von Bildung werden in der gegenwärtigen Gesellschaft – wie alle spätestens seit der PISA-Studie wissen – denjenigen bereitgestellt, die sozial nicht benachteiligt sind (Schulausstattung, Unterrichtsstunden, Anzahl der Lehrer, etc.). Die moralische Empörung in den Feuilletons darüber aber ist Heuchelei, die suggerieren möchte, es wäre jemals anders gewesen.
[178] Die Forderung des Pädagogen Jan Amos Comenius, dass 'alle alles lernen können sollen', war noch niemals so leicht zu realisieren wie heute. Und doch sind wir weiter denn je davon entfernt.
[179] Waldmann, Ludwig: Pädagogik – Die Disziplin der intellektuellen Armut des Lehrerberufs. In: Bichsel, Martin; Lonitz, Henri (Hrsg.): Dialectica negativa I. Wider den Fortschritt der Regression des Denkens. Lüneburg: zu Klampen 1984, S. 88.
[180] Noch in revolutionärer Absicht formulierte Comenius stellvertretend: "Niemand glaube also, daß wirklich Mensch sein kann, wer sich nicht als Mensch zu Verhalten gelernt hat, d. h. zu dem was den Menschen ausmacht, herangebildet worden ist." Comenius, Jan Amos: Große Didaktik. Düsseldorf: Küpper 1970. S. 46. Bei Kant heißt es noch: "Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung" Kant, Pädagogik, a.a.O., S. 443.
[181] Adorno, Theodor W.: Theorie der Halbbildung. In: Ders.: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 88.
[182] Heydorn, Heinz-Joachim: Wilhelm v. Humboldt. In: Heydorn, Heinz-Joachim; Koneffke, Gernot: Studien zur Sozialgeschichte und Philosophie der Bildung II. Aspekte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. München: List 1973, S. 79.
[183] Heydorn, Heinz-Joachim: Zur bürgerlichen Bildung. Anspruch und Wirklichkeit. Bildungstheoretische Schriften. Band 1, Frankfurt am Main: Syndikat 1980, S. 31f.
[184] Zitiert nach: Koneffke, Gernot: J. H.Campes Schrift "Über einige verkannte, wenigstens ungenutzte Mittel zur Beförderung der Industrie, der Bevölkerung und des öffentlichen Wohlstandes" (Wolfenbüttel 1786) und die pädagogische Erzeugung ökonomischer Qualifikation im strategischen Konzept bürgerlicher Durchsetzung. In: Heydorn, Heinz-Joachim; Koneffke, Gernot: Studien zur Sozialgeschichte und Philosophie der Bildung I. Zur Pädagogik der Aufklärung. München: List 1973, S. 115.
[185] Neben den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen finden noch die wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen Beachtung. Während Ersteren die Aufgabe zukommt, die Resultat der Naturwissenschaften in Technologie zu transformieren, sollen Letztere angesichts dessen, dass die Welt durch die universelle Geltung des Verwertungsgesetzes zum Dorf geworden ist, die ehemals 'Volkswirtschaften' genannten Einheiten als betriebswirtschaftliche Einheiten des Kapitalverwertungsprozesses profitabel machen. Daher rührt das Durchdringen der betriebswirtschaftliche 'Rationalität' bis in die letzten Poren der Gesellschaft.
[186] Vgl. hierzu: Prinz, Rainer: Naturwissenschaftliche Bildung: Bewußtsein der Freiheit von der Natur. In: Ders.: Bildung und Gesellschaft. Wider die fortschreitende Verdinglichung des Bewußtseins. Diss., Darmstadt: Selbstverlag 1996, S. 129ff. Weiter hierzu: Bulthaup, Peter: Fachsystematik und didaktische Modelle. Und: Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Naturerkenntnis. In: Ders.: Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte. Lüneburg, zu Klampen 1998, S. 179ff. und 147ff.
[187] Vgl. hierzu: Bulthaup, Peter: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften. Lüneburg: zu Klampen 1996.
[188] Vgl. dazu ausführlicher: Prinz, Rainer: Bildung und Gesellschaft. Wider die fortschreitende Verdinglichung des Bewußtseins. Diss., Darmstadt: Selbstverlag 1996, S. 131ff.
[189] Horkheimer, Max: Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972. Frankfurt am Main: Fischer Athenäum 1972, S. 169.
[190] Heydorn, Heinz-Joachim: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 148ff.
Leseprobe 3
Inhalt:
Einleitung (Leseprobe)
1. Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz zur Einführung von Bildungsstandards
1.1 Zum zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang der Beschlüsse
Die Kontinuität des Neuen
Evaluation als Instrument der Bildungspolitik
1.2 Wissenschaftliche Expertise und politische Entscheidung – Übereinstimmungen und Unterschiede
Die Konzeption
Kein Recht auf Bildung
1.3 Zu einigen bildungstheoretischen Implikationen der beschlossenen und geplanten Reformmaßnahmen
2. Von der Steuerung durch Lehrpläne (Input) zur Steuerung durch Bildungsstandards (Output)
2.1 Die Grundthesen der Bildungsreformer zur Output-Orientierung
2.2 Zum Verhältnis von Input und Output
2.3 Schulpolitik durch Lehrpläne – ein geschichtlicher Abriss
Zur bildungspolitischen Geschichte von Lehrplänen
Zur Wirkung von Lehrplänen
Bestandteile von Lehrplänen
Leitideen und Lernziele
2.4 Die Lehrplan-Kritik von Klieme et al.
2.5 Zur Output-Orientierung durch Bildungsstandards
Kompetenzen
Kompetenzmodelle und Bildungsziele
Fazit
3. Standardisierung in anderen Staaten
3.1 Polen
3.2 Finnland
3.3 Schweden
3.4 Großbritannien
3.5 Vereinigte Staaten von Amerika (USA)
Fazit
4. Die grundsätzliche Funktion von Schule und was Bildungsstandards daran ändern
4.1 Zum Begriff der Schule
4.2 Der Stellenwert des Leistungsaspekts
"Von einigen Besonderheiten des schulischen Lernens"
"Der Grund der schulisch erzeugten Bildungshierarchie"
4.3 Leistungsmessung und Bildungsstandards
4.4 Schülerleistung plus Lehrerleistung – eine neue Leistungsschule
5. Von der Volksbildung zum lebenslangen Lernen – ein Paradigmenwechsel im gegenwärtigen Bildungsverständnis
5.1 Bildungsreform und Bildungsbegriff
5.2 Die pragmatische Reduktion der Allgemeinbildung
5.3 Die Widersprüchlichkeit des herrschenden Bildungsverständnisses und dessen gesellschaftliche Basis
5.4 Resümee und Ausblick
Die Verdunklung des Bewusstseins – ein Nachwort (Leseprobe)
Literatur