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Berndt Keller

Multibranchengewerkschaft als Erfolgsmodell?

Zusammenschlüsse als organisatorisches Novum – das Beispiel ver.di

240 Seiten | 2004 | EUR 16.80 | sFr 30.00
ISBN 3-89965-113-8 1

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Am 19.3.2001 schlossen sich die fünf Gewerkschaften DAG, DPG, hbv, ötv und IG Medien zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zusammen. Dieser Schritt erfolgte im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern erst spät und war Ergebnis eines Prozesses, der für Mitglieder wie Außenstehende nicht immer leicht zu durchschauen war.


Berndt Keller, Professor für Arbeits- und Sozialpolitik an der Universität Konstanz, untersucht in diesem Buch die aus empirisch-analytischer Sicht bisher wenig erforschten Ursachen und Folgen des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses zu ver.di. Es geht ihm zunächst um die Situation in der Bundesrepublik, er ordnet diese aber auch in den Rahmen internationaler Erfahrungen ein.

Dem Autor gelingt eine komplexe und zugleich übersichtliche Darstellung der Gründe für den Zusammenschluss zu ver.di. Dabei interessieren ihn vor allem auch die internen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen gewerkschaftlichen Interessensgruppen bezüglich der organisatorischen Transformation. Er wirft einen kritischen Blick auf erweiterte Binnen- und und veränderte Außenbeziehungen. Dazu gehören neu gestaltete Verhältnisse zu anderen Einzelgewerkschaften, zum Dachverband sowie zu den Arbeitgeberverbänden. Des weiteren befasst er sich mit der Programmdiskussion, der Frage nach organisatorischen Alternativen zu dem Zusammenschluss, und er gibt einen Ausblick auf die weitere Entwicklung.

Berndt Kellers Beitrag, der sich als Analyse eines noch im Gang befindlichen Prozesses zugleich auf wissenschaftlichem Neuland bewegt, stellt den Versuch dar, die Wissenslücken über einen einschneidenden Veränderungsprozess in der Geschichte der Gewerkschaften soweit wie möglich zu schließen und mögliche Perspektiven aufzuzeigen.

Leseprobe 1

1. Einleitung und Problemstellung

1.1. Vom Ende der organisatorischen Stabilität Die Organisationsstrukturen der deutschen Gewerkschaften waren über mehrere Jahrzehnte bemerkenswert stabil. In der langen Phase von ihrer Rekonstruktion nach dem Zweiten Weltkrieg (1948/49) bis zur Mitte der 1990er Jahre gab es keine einschneidenden Veränderungen. Die durch die Erfahrungen der Spätphase der Weimarer Republik geprägten Grundsatzentscheidungen der Nachkriegszeit, nämlich die Optionen gegen Richtungsgewerkschaften (politischer und/oder religiöser Provenienz) bzw. für eine begrenzte Zahl von Industriegewerkschaften ("ein Betrieb, eine Gewerkschaft") mit dem DGB als Dachverband nach dem Prinzip der parteipolitisch neutralen Einheitsgewerkschaft, erwiesen sich aus Sicht der Organisation als richtungsweisend für fast ein halbes Jahrhundert, obwohl sie nie vollständig realisiert werden konnten.[1] Dieser hohe Grad an organisatorischer Stabilität war insofern bemerkenswert, weil seit den späten 1980er Jahren grundlegende Veränderungen wiederholt sowohl intern angemahnt (Leif et al. 1993, Zwickel 1995) als auch extern empfohlen (Niedenhoff/Wilke 1991) wurden. Außerdem stand er in deutlichem Gegensatz zu den wesentlich dynamischeren Entwicklungen und den weitreichenden Reformen in anderen westlichen Industrieländern, die schon seit längerem so genannte Mergers in unterschiedlichem Umfang kennen (Chaison 1996, Waddington 2004a). Selbst die deutsche Vereinigung im Jahre 1990 bzw. der völlig überraschend notwendig gewordene, überaus schwierige Aufbau von Gewerkschaften in den neuen Bundesländern blieb zunächst ohne direkte gravierende Konsequenzen für diese Strukturen, da wie in zahlreichen anderen Politikfeldern die etablierten Regeln und (Organisations-) Muster der alten Bundesrepublik sofort und vollständig übertragen wurden (Turner 1997 und 1998). Erst seit Mitte der 1990er Jahre schlossen sich mehrere Gewerkschaften zusammen (im Einzelnen Müller/Wilke 1999a: 152-201; Koopmann 2000: 40-47, Waddington/Hoffmann 2000, 2003). Im Jahre 1978 trat die bis dahin unabhängige Gewerkschaft der Polizei – GdP als damals 17. Einzelgewerkschaft dem DGB bei, nachdem die ÖTV ihre Bedenken und Eigeninteressen zurückgestellt und den bei ihr organisierten Polizeibediensteten den Übertritt zur GdP empfohlen hatte; vorausgegangen war der Bruch der seit langem bestehenden Verhandlungsgemeinschaft zwischen ÖTV und DAG aus organisationspolitischen Gründen sowie die Bildung einer neuen Tarifgemeinschaft für Angestellte im öffentlichen Dienst ohne DGB-Gewerkschaften (Keller 1983). Nach einer jahrzehntelangen, mehr oder weniger intensiven Gegnerschaft zwischen ÖTV und DAG fand eine erneute Annäherung erst seit Mitte der 1990er Jahre statt, als beide Organisationen eine Vereinbarung schlossen mit dem Ziel, "durch Zusammenarbeit und Kooperation ein Klima des Vertrauens zu schaffen" (Mai 1999: 583). Die Industriegewerkschaft Druck und Papier – DruPa, faktisch eine der letzten berufsständischen Organisationen, bildete im Frühjahr 1989 nach erheblichen und langwierigen Anlaufschwierigkeiten zusammen mit der Deutschen Journalistenunion (dju), dem Schriftstellerverband (VS), der DGB-Gewerkschaft Kunst, die aus der relativ dominierenden Rundfunk-Fernseh-Film-Union (RFFU) sowie fünf kleineren Berufsverbänden besteht, die neue IG Medien – Druck und Papier, Publizistik und Kunst. Bei diesem Zusammenschluss zu "einer einheitlichen Kraft aller Arbeitnehmer im Medienbereich" mussten stark divergierende Interessen mediatisiert werden (u.a. Verwendung der Verbandsvermögen und Streikkassen, Höhe der Mitgliedsbeiträge, Grad an Autonomie der Einzelnen, insgesamt acht Fachgruppen mit unterschiedlichen Partikularinteressen gegenüber dem Verband bzw. dem Vorstand). Die überwiegende Mehrzahl der ca. 185.000 Mitglieder der neuen Gewerkschaft brachte mit ca. 155.000 die IG Druck und Papier ein, deren Einfluss folglich dominieren musste. Eine derartige endgültige Selbstauflösung von Verbänden in Verbindung mit dem Aufgehen in eine größere Organisation war bis dahin ohne historische Parallele. Die neue Gewerkschaft wurde durch die neueren technologischen Entwicklungen gerade im Medienbereich mit einer zunehmenden Konzentration in Gestalt von Multi-Media-Konzernen und einer damit verbundenen Zentralisierung auf Arbeitgeberseite zweckmäßig bzw. notwendig. Mit Wirkung vom 1.1.1996 fusionierten die IG Bau-Steine-Erden und die Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft zur IG Bauen-Agrar-Umwelt – IG BAU. Die nächste Etappe im Rahmen einer seit langem diskutierten Strukturreform war zur Jahreswende 1997/98 der Zusammenschluss von IG Chemie-Papier-Keramik, IG Bergbau und Energie sowie der Gewerkschaft Leder zur IG Bergbau-Chemie-Energie (Klatt 1997, Martens/Klatt 1997, Martens 1997 und 1998, Waddington et al. 2003, Kahmann 2003a). Die neue Organisation ist mit über 1,1 Mio. Mitgliedern die drittstärkste und damit eine der mächtigsten Organisationen im DGB; sie ist in politischer Hinsicht dem eher konservativen Lager zuzurechnen. Eine gemeinsame Stellungnahme zur Energiepolitik sowie die Zusammenarbeit in internationalen Gremien waren erste Schritte einer engeren Kooperation. Schließlich schlossen sich die Gewerkschaft Textil-Bekleidung sowie die Gewerkschaft Holz und Kunststoff der IG Metall an, die durch diese Beitritte gestärkt wurde (Frech 1996). Für diese Gruppe von Zusammenschlüssen gilt: "Some unions ... had already shrunk to a level where they found it difficult to maintain offices and basic union structures throughout the country. Thus, these unions had little choice but to affiliate with a larger union. From the perspective of a larger union, however, mergers often promised to compensate for membership loss." (Behrens 2002a: 4) Der Dienstleistungssektor im Allgemeinen und der öffentliche Dienst im Besonderen schienen lange Zeit von diesen neuartigen Entwicklungen völlig unberührt zu bleiben.[2] Unterhalb der Schwelle von Zusammenschlüssen gab es seit 1993 u.a. "vertiefte Kooperationen" der DGB-Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes (ÖTV,[3] DPG, GdED, GdP, GEW) sowie mehrerer kleinerer Industriegewerkschaften (NGG, GTB, GHK, IG Medien), die explizit nicht auf Zusammenschlüsse zielten. Ein Einbezug der "unabhängigen Standesorganisation" DAG war in diesem Stadium noch nicht beabsichtigt. Sinnvoll oder sogar notwendig erschienen weitere Zusammenschlüsse, etwa der in verschiedenen Branchen konkurrierenden DAG und HBV zu einer gemeinsamen, großen Organisation für den privaten Dienstleistungsbereich. Beide wiesen Gemeinsamkeiten in ihren Zielsetzungen auf (z.B. bei der Neuordnung von Berufen) und arbeiteten sowohl auf lokaler Ebene als auch in Tarifverhandlungen partiell zusammen. Das zentrale Problem resultierte aus den unterschiedlichen Organisationsprinzipien: Die DGB-Gewerkschaften wollten nicht auf ihre Mitglieder verzichten, die Angestellte sind, und die DAG mochte ihr "Standesprinzip" nicht aufgeben. Dennoch hätte eine einheitliche "Dienstleistungsgewerkschaft" als Einheitsgewerkschaft eine effektivere Interessenpolitik betreiben können als gespaltene Interessenvertretungen. Die sektorale und/oder organisationspolitische "Logik" der Zusammenschlüsse war nicht nur für externe Beobachter nicht immer eindeutig – oder, wenn man so will, nur eine von stets mehreren Variationsmöglichkeiten – und folgte eher macht- und einflusstheoretischen Imperativen (Martens/Klatt 1997: 29; Streeck/Visser 1997: 320ff.). Generell gilt: "Gerade die kleineren Gewerkschaften dürften sich bei der Wahl ihrer Fusionspartner in erster Linie daran orientiert haben, bei welcher Organisation sich die besten Bedingungen in finanzieller und personeller Hinsicht für sie boten. Von einer geordneten Neustrukturierung der Gewerkschaftslandschaft nach ›sachlichen Kriterien‹ für eine stabile Abgrenzung unter dem Gesichtspunkt der Branchennähe, wie sie sich als Reaktion auf die Veränderungen in der Wirtschaft angeboten hätte, kann demnach kaum die Rede sein." (Koopmann 2000: 39) Die vielfältigen Gründe für die aktuellen Zusammenschlüsse – oder genauer die Perzeptionen der Akteure über deren Sinnhaftigkeit bzw. Notwendigkeit – sind sowohl verbandsinterner als auch -externer Art:   Die Mitgliederzahlen der DGB-Gewerkschaften sanken in den 1990er Jahren um ca. ein Drittel, der Organisationsgrad nahm um zehn Prozentpunkte ab (Müller-Jentsch/Ittermann 2000). Durch Zusammenschlüsse sollen in Zeiten deutlich abnehmender Mitgliederzahlen und sinkender Organisationsgrade die dadurch geringeren Beitragseinnahmen und erheblich eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten sowie die abnehmende Verhandlungs- bzw. externe Durchsetzungsmacht kompensiert werden. Das Ziel besteht in der Verbesserung der Qualität der Interessenvertretung, im Abbau, wenn nicht gar im vollständigen Ausschluss zwischengewerkschaftlicher Konkurrenz durch "Bündelung der Kräfte" sowie in der Erzielung von "Synergieeffekten" durch Vermeidung von Doppel- und Mehrfacharbeit in überlappenden Bereichen bzw. überbesetzten Funktionen. Außerdem sollen Größenvorteile im Sinne der economies of scale genutzt werden (u.a. interne Kostenvorteile, Verbesserung der Mitgliederbetreuung bzw. des Dienstleistungsangebots, vermehrte Rekrutierung neuer Mitglieder). Generell gilt: "Merger ... becomes the vehicle for creating larger unions, aimed at achieving economies of scale to obtain, if not reduce, rising administrative costs and for gaining greater influence vis-à-vis other unions." (Undy 1996: 128).   Deutliche Umbrüche in den eigenen Organisationsstrukturen werden notwendig, um den Strukturveränderungen der Wirtschaft und damit der Strukturierungsprinzipien der Arbeitsmärkte bzw. des tayloristisch-fordistischen Produktionssystems Rechnung zu tragen (u.a. Europäisierung/Globalisierung der Ökonomie, Verschwinden alter, industrieller Branchen und Entstehen neuer, dienstleistungsorientierter Sektoren wie der Telekommunikation, zunehmende Auflösung von Betriebs-, Unternehmens- und Branchengrenzen, "Erosion" bzw. genauer Differenzierung des Normalarbeitsverhältnisses und Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse, Privatisierungsmaßnahmen im ehemaligen öffentlichen Dienst (u.a. bei Bundesbahn und Bundespost) und Restrukturierungsprozesse (u.a. der Arbeitsorganisation infolge der Einführung neuer Produktionskonzepte bzw. von lean production und lean management).   Schließlich werden neue organisatorische Antworten notwendig in Anbetracht der andauernden, hohen Arbeitslosigkeit, der Flexibilisierungsforderungen der Arbeitgeberverbände sowie der Deregulierungsversuche der Regierung, welche die mindestens seit Mitte der 1980er Jahre andauernden Tendenzen der Dezentralisierung bzw. Verbetrieblichung fördern und die stets labile Machtbalance innerhalb der Arbeitsbeziehungen zu Ungunsten der Gewerkschaften verändern.[4] Allgemein gilt in komparativer Perspektive: "Regardless of their author or country of origin, a common thread – three fundamental premises – runs through the vast majority of reform proposals. First, union fragmentation, the presence of many small unions, should be reduced. Second, union concentration, the share of total membership in the largest union, should be increased. Third, union jurisdictions should be rationalized by reducing overlap in union membership and having one or a few unions in each industry or group of related industries." (Chaison 1997: 20). Die erheblich veränderten Rahmenbedingungen des gewerkschaftlichen Handelns führten seit Mitte der 1990er Jahre zu den bereits erwähnten Zusammenschlüssen und halbierten innerhalb weniger Jahre die Zahl der Mitgliedsgewerkschaften des DGB von 16 auf nur noch acht. Daher besteht begründeter Anlass zu der Vermutung, dass "die stabilste und wohl auch erfolgreichste Periode" (Hemmer 1998: 265) des deutschen Gewerkschaftsmodells seit Mitte der 1990er Jahre zu Ende geht. In organisationstheoretischer Perspektive, u.a. der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie (Berger/Bernhard-Mehlich 1999), geht es um die Bestandssicherung der Organisationen durch Strategien der Anpassung, konkret durch verschiedene Maßnahmen der Restrukturierung, an komplexere und sich schnell verändernde "Umweltbedingungen".[5} 1.2. Problemstellung Diese aktuellen Entwicklungen sind zwar im Vergleich zur Stabilität in den vorherigen Jahrzehnten, nicht hingegen im internationalen Vergleich überraschend; die "Merger Mania" beginnt in der Bundesrepublik lediglich später als in vergleichbaren Ländern. "The organisational landscape of unions is changing rapidly. In all countries the trend is towards concentration. In all confederations for which we have time series data, the concentration ratio, based on the four largest unions, increased between 1985 and 1995 ... This increase is entirely due to amalgamations and the taking over of small unions by large unions." (Visser 1999: 97). Im Unterschied zu anderen, vor allem den angelsächsischen und skandinavischen Ländern, in denen diese Probleme von Zusammenschlüssen seit langem bearbeitet werden bzw. erforscht sind, wissen wir in der Bundesrepublik über die Ursachen sowie vor allem über die Konsequenzen dieser organisatorischen Transformation in empirischer Perspektive so gut wie nichts. Insofern bedeutet das Vorhaben einer detallierten Analyse dieser Prozesse, wissenschaftliches Niemandsland zu betreten. Der vorliegende Beitrag stellt den Versuch dar, unsere Wissenslücken ein Stück weit zu schließen. Die Analyse konzentriert sich zunächst und vor allem im Sinne der "unit of analysis" auf die aktuelle Situation in der Bundesrepublik, wird aber, soweit dies trotz der andersartigen Rahmenbedingungen möglich und sinnvoll ist, im Rahmen einer komparativen Institutionenanalyse ausländische Erfahrungen im Sinne empirischer Regelmäßigkeiten einbeziehen.[6] Unser Ziel besteht nicht in einer detaillierten juristischen und/oder historischen Analyse.[7] Bei dem Beitrag handelt es sich zum einen um eine Fallstudie zu ver.di, zum anderen werden aber auch, vor allem in den hinteren Kapiteln, verschiedene generelle Bezüge hergestellt; insofern ergänzen sich Mikro- und Makroanalyse. Die turbulenten Phasen bis zum offiziellen Zusammenschluss zu ver.di, die an anderen Stellen hinreichend dokumentiert sind (Müller et al. 2002, Kahmann 2003b, Waddington et al. 2003), nehmen wir lediglich im Sinne einiger "stilisierter Fakten" auf. Im Mittelpunkt stehen die Phasen nach der formalen Vereinigung, die für die "Nachhaltigkeit" bzw. den Erfolg des Projekts von erheblicher, in Praxis wie Wissenschaft jedoch zumeist unterschätzter Bedeutung sind. Die Phasen vor und nach dem Zusammenschluss, zwischen denen enge Pfadabhängigkeiten[8] im Sinne der Prägung späterer durch frühere Phasen und Entscheidungen bestehen, sind entgegen häufig geäußerten Vermutungen von gleich großer, strategischer Bedeutung für den Erfolg des Gesamtprozesses. Anders formuliert: Die häufig geäußerte These, dass die Integration mit dem formalen Vollzug des Zusammenschlusses erfolgreich abgeschlossen sei, ist definitiv unzutreffend. Die eigentliche Kärrnerarbeit besteht, wie wir im Einzelnen zeigen werden, im "post merger integration management", dem unsere Hauptaufmerksamkeit gilt. In Ermangelung einer einigermaßen einheitlichen Theorie[9] verwenden wir Ansätze aus mehreren sozialwissenschaftlichen Disziplinen bzw. aktuellen Forschungsgebieten, u.a. aus den interdisziplinär angelegten Industrial Relations sowie soziologischen und politikwissenschaftlichen Verbandsanalysen. Außerdem berücksichtigen wir die umfangreiche Literatur zu "Mergers and Acquisitions"[10] von Unternehmen (Pritchett 1985, Weston et al. 1998, Clever 1993, Marks/Mirvis 1998, Cartwright/Cooper 1996, Picot 2000, Jansen 2001, Gaughan 2002), vor allem soweit sie sich mit Fragen von Governance, besonders den Folgen für die Mitarbeiter im Rahmen des "Post Merger Integration Management" beschäftigt – und nicht, soweit etwa Fragen der Finanzierung und/oder der rechtlichen Gestaltung betroffen sind; wissenschaftliche Beiträge sind in unserem Kontext relevanter als praxisorientierte. Schließlich verwenden wir Teile der heterogenen, zumeist marktorientierten Organisationstheorien (Kieser/Kubicek 1992, Walter-Busch 1996, Kieser 1999a, Schreyögg 1999). Bei unserem Problem erweisen sich vor allem akteurszentrierte Ansätze sowie solche, die nicht explizit oder implizit auf Unternehmen und deren Probleme ausgerichtet sind, als hilfreich. Damit gehen wir davon aus, dass Entscheidungen unter den in aktuellen Organisationstheorien unterstellten Randbedingungen fallen: begrenzte Rationalität ("intendedly rational, but only limitedly so"), unvollständige und ungleich verteilte Information, Option opportunistischen Verhaltens aller Akteure.[11] In organisationstheoretischer Sicht reduzieren Institutionen bzw. Organisationen Unsicherheit, indem sie Verlässlichkeit und Zurechenbarkeit als notwendige Rahmenbedingungen für dauerhafte Austauschbeziehungen schaffen. Organisationstheorien haben bei der Analyse von Gewerkschaftsproblemen im Gegensatz zu denen wirtschaftlicher Organisationen (vor allem Unternehmen) erstaunlicherweise bis dato lediglich eine recht untergeordnete Bedeutung eingenommen (zu den Ausnahmen zählen von Alemann/Schmid 1998a). Verschiedene Theorien erweisen sich jedoch – je nach Standpunkt und Ausbildung des Beobachters überraschenderweise oder nicht – bei unseren Fragestellungen als ausgesprochen hilfreich für die Bearbeitung von Problemen, die in den einzelnen Phasen auftreten (für die Phase vor dem offiziellen Zusammenschluss ähnlich Mehwald 2000 sowie Kirsch 2003) und leisten wichtige Beiträge zur Theoriebildung, die bekanntlich über eine reine Deskription von Ereignissen hinausgeht.[12] Im Übrigen werden wir im Folgenden je nach Problemlage beide Sichtweisen der gängigen, multidisziplinär angelegten Organisationstheorien einnehmen, d.h. sowohl die instrumentelle ("ver.di hat eine Organisation") als auch die institutionelle ("ver.di ist eine Organisation"). In methodischer Hinsicht basiert der Beitrag neben der Auswertung der recht spärlichen Literatur (einschließlich der des so genannten grauen Marktes der verbandsinternen Papiere) auf einer Reihe teilstrukturierter Interviews mit hauptamtlichen Funktionären sowie auf teilnehmenden wie nicht-teilnehmenden Beobachtungen bei verschiedenen Veranstaltungen auf Landes- und Bundesebene. Das methodische Problem besteht nicht so sehr in der Kontrolle des fließenden Übergangs zwischen teilnehmender Beobachtung und beobachtender Teilnahme, sondern vielmehr in der Frage, welche Arten von Informationen tatsächlich an Externe weitergegeben werden. Diese Frage ist trotz einer überraschenden und erstaunlichen Offenheit der Interviewpartner nicht endgültig geklärt. Wir kommen bei verschiedenen Detailproblemen darauf zurück. Im Mittelpunkt steht zunächst in deskriptiver Absicht die Entstehungsgeschichte, die wir bewusst knapp halten. Wir behandeln zuerst die wesentlichen Leitideen und Etappen des Projekts der Neustrukturierung gewerkschaftlicher Interessenvertretung (Kapitel 2). Danach gehen wir auf die schon vor der offiziellen Vereinigung deutlich gewordenen Grundsatzprobleme ein (u.a. Matrix als Organisationsform mit vertikaler und horizontaler Repräsentation von Interessen) (Kapitel 3). Anschließend skizzieren wir die Konsequenzen dieser Grundsatzentscheidungen (vor allem Fachbereichsgliederung und unterschiedliche Betroffenheit der Mitgliedsverbände) (Kapitel 4). Die folgenden Kapitel behandeln ausführlich die nach wie vor ungeklärten Probleme der Phase nach dem Zusammenschluss im Sinne von outcomes bzw. "post-merger performance". Generell gilt: "There is little research on merger outcomes despite the extensive literature on why and how union officers negotiate mergers ..." (Chaison 2001: 238). Wir unterscheiden zunächst explizit zwischen den erweiterten Binnen- und den veränderten Außenbeziehungen der neuen Organisation im Sinne ihrer Handlungsfähigkeit. Bei der ersteren, der "Mitgliedslogik" ("logic of membership"), stehen die unterschiedlichen Interessen von Haupt- und Ehrenamtlichen (Kapitel 5) sowie die Probleme der aktuellen und der Rekrutierung neuer Mitglieder (Kapitel 6) im Mittelpunkt. Bei der letzteren, der "Einflusslogik" ("logic of influence"), geht es um die Neugestaltung der Beziehungen zu anderen Einzelgewerkschaften und zum Dachverband (horizontale versus vertikale Dimension) sowie um das Verhältnis zu den Arbeitgeberverbänden (Kapitel 7). Anschließend befassen wir uns mit weiteren grundlegenden Problemen, die jenseits der beiden "Verbandslogiken" liegen, aber in mittelfristiger Perspektive gelöst werden müssen (vor allem Konsequenzen der gewählten organizational form, verspätete Programmdiskussion), und stellen die Frage nach organisatorischen Alternativen zum Zusammenschluss (Kapitel 8). Im Schlussteil formulieren wir einige grundsätzliche Bedenken (Kapitel 9) und geben einen kurzen Ausblick auf die weitere Entwicklung (Kapitel 10).

[1] Der Einfluss der übrigen Organisationen (CGB, DAG, DBB) blieb insgesamt begrenzt: Mehr als 80% aller organisierten Arbeitnehmer gehören DGB-Gewerkschaften an. Diese Kräfteverhältnisse waren im Zeitverlauf relativ stabil (Keller 1999: 31).
[2] Demgegenüber gab es etwa im öffentlichen Sektor Großbritanniens in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Mergers (Undy 1999a, Terry 2000a).
[3] "In der Frage der Neuordnung der deutschen Gewerkschaftslandschaft hat die ÖTV sich lange in Zurückhaltung geübt. Man war wohl groß und heterogen genug, um sich noch neue Probleme aufzuhalsen. Die ÖTV wartete auf einen geordneten Prozess unter Federführung des DGB. Dann ging aber alles ganz plötzlich. Die beiden übrigen großen Gewerkschaften, IG CPK und IGM, preschten vor." (von Alemann/Schmid 1998b: 425)
[4] Ein ausländischer Beobachter fasst zusammen: "The objectives of the supporters of a reorganization and merger of several unions are three-fold. The first is to save money through consolidation. The second is to adjust the jurisdiction of the unions to reflect the structure of today’s economy. The third unspoken objective of a reorganization is again to alter the balance of power within the DGB, typically to the detriment of IG Metall" (Silvia 1993: 33).
[5] In transaktionskostentheoretischer Sicht ist Anpassung "the central problem of economic organization" (Williamson 2003: 924). In unserem Kontext handelt es sich nicht so sehr um die autonome (über das Preissystem des Marktes wirkende), sondern vor allem um die kooperative Variante, "accomplished through administration within the firm" (ebd.: 925).
[6] Dieser Schritt ist im Sinne der Methodologie des Kritischen Rationalismus vor allem für den Findungs-, weniger für den Begründungszusammenhang von Hypothesen hilfreich. In den Kategorien anderer Paradigmen geht es in diesem Kontext darum, im Rahmen des methodologischen Individualismus die unterschiedlichen Rahmenbedingungen vor allem korporativen Handelns bzw. im Rahmen institutionalistischer Theorien die Länderunterschiede in den Organisationsmustern angemessen zu berücksichtigten. Wir gehen im Übrigen davon aus, dass gemeinsame und daher generalisierbare Elemente bei Zusammenschlüssen vorhanden sind.
[7] Letztere liegt für die Bundesrepublik im Gegensatz u.a. zu Großbritannien (Waddington 1995) und den USA (Hannan/Freeman 1987: 1988) bislang nicht vor; aufschlussreich wären vor allem Analysen für das Kaiserreich sowie die Weimarer Republik. Einige Hinweise finden sich bei Schönhoven (1987: 310f).
[8] Wir gebrauchen den Begriff im Folgenden im üblichen Sinne: "Path dependence is more than the incremental process of institutional evolution in which yesterday’s institutional framework provides the opportunity set for today’s organizations and individual entepreneurs (political or economic). The institutional matrix consists of an interdependent web of institutions and consequent political and economic organizations that are characterized by massive increasing returns. That is, the organizations owe their existence to the opportunities provided by the institutional framework." (North 1991: 109)
[9] Bereits früh hieß es: "The fields of labor economics and industrial relations have failed to develop theories of union mergers comparable to the accepted theories of corporate integration." (Conant/Laserman 1989: 243). Später gilt: "So wenig wie es eine Theorie der Gewerkschaften gibt, so wenig gibt es auch eine solche ihrer Fusionen." (Müller/Wilke 2003: 122)
[10] Darunter soll im Folgenden eine "auf Dauer angelegte Verbindung von zwei Unternehmungen oder einer Unternehmung mit dem Teilbereich eines anderen Unternehmens unter einheitlicher Leitung verstanden werden, wobei einer der beteiligten Partner seine wirtschaftliche Selbständigkeit verliert" (Jaeger 2001: 2).
[11] Ob es sich dabei im Sinne der Principal Agent- bzw. Transaktionskostentheorien lediglich um möglichen oder um tatsächlichen Opportunismus handelt, ist in unserem Kontext unerheblich, da bereits die Vermutung bzw. Annahme eines derartigen Verhaltens, "defined as self-interest seeking with guile" (Williamson 1996a: 6), handlungsleitend wirkt. Insofern genügt für unsere Zwecke eine "weiche" Version dieser in der Literatur zu Organisationstheorien umstrittenen Verhaltensannahme (Donaldson 1995: 169ff.).
[12] "One of the interesting features of academic work on union structure is its relative isolation from the literature on organizational theory which has influenced the practice of organizational design in firms. Union structures are often described, but the principles against which they could or should be designed are not easily articulated." (Willman/Cave 1994: 404).

Inhalt:

1. Einleitung und Problemstellung (Leseprobe)
1.1. Vom Ende der organisatorischen Stabilität
1.2. Problemstellung
2. Das Projekt der Neustrukturierung
2.1. Prinzipien und Etappen
2.2. Matrixform als Organisationsprinzip
2.2.1. Die vertikale Dimension: Fachbereiche
2.2.2. Exkurs: Frauen und Personengruppen
2.2.3. Die horizontale Dimension: Ebenen
3. Auseinandersetzungen vor dem Zusammenschluss
3.1. Der Grundkonflikt und die Interessen der Akteure
3.2. Ergebnisse der Lösungsversuche
3.3. Ein kontrafaktischer Exkurs: Beitritt oder Nicht-Beitritt
4. Folgen der Grundsatzentscheidung
4.1. Konsequenzen und Optionen
4.2. Fachbereichsgliederung und unterschiedliche Betroffenheit
5. Probleme der Binnenbeziehungen I: Haupt- und Ehrenamtliche
5.1. Einleitung
5.2. Die Hauptamtlichen – zwei Perspektiven
5.3. Die Ehrenamtlichen – vom Umgang mit notwendigen Ressourcen
6. Probleme der Binnenbeziehungen II: Aktuelle und zukünftige Mitglieder
6.1. Aktuelle Mitglieder – die unbekannten Wesen
6.2. Mitgliederrekrutierung – von zukünftigen Schwierigkeiten
7. Probleme der Außenbeziehungen
7.1. Die horizontale Dimension: Beziehungen zu anderen Gewerkschaften
7.2. Die vertikale Dimension: Beziehungen zum Dachverband
7.3. Beziehungen zu Arbeitgeberverbänden
7.4. Exkurs: Das Beispiel Telekommunikationsbranche
8. Weitere Probleme in mittelfristiger Perspektive
8.1. Die Organisationsform und der Grundkonflikt
8.2. Die verspätete Programmdiskussion
8.3. Exkurs: Interessenvertretung in der Europäischen Union
9. Bedenken und Alternativen
9.1. Größenvorteile und organisatorische Alternativen
9.2. Kriterien der Beurteilung
10. Perspektiven: ver.di und über ver.di hinaus
Literatur
Verzeichnis der Tabellen
Tabelle 1: Zusammenschlüsse von Gewerkschaften
Tabelle 2: Gewerkschaftsmitglieder der ver.di Mitgliedsgewerkschaften 1990-2000
Tabelle 3: Fachbereiche und Mitglieder
Tabelle 4: Fachbereiche und Fachgruppen
Tabelle 5: Gliederung in Landesbezirke und Bezirke
Tabelle 6: Struktur der Fachbereichsgliederung
Tabelle 7: Ausgewählte Haustarifverträge in der Telekommunikationsbranche
Tabelle 8: Ausgewählte Haustarifverträge in der IT-Branche
Tabelle 9: DGB-Gewerkschaften und Mitglieder
Tabelle 10: Europäische Gewerkschaftsföderationen
Tabelle 11: ver.di-Mitglieder nach Status

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