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Thorsten Schulten / Reinhard Bispinck / Claus Schäfer (Hrsg.)

Mindestlöhne in Europa

300 Seiten | 2006 | EUR 17.80 | sFr 31.70
ISBN 3-89965-154-5 1

Titel nicht lieferbar!

 

Kurztext: Erstmalig im deutschen Sprachraum wird mit diesem Band eine umfassende Analyse der Erfahrungen mit nationalen Mindestlohnsystemen in Europa und den USA vorgelegt.


Die vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung koordinierte Studie enthält Untersuchungen über Länder wie Großbritannien, Irland, die BeNeLux-Staaten, Frankreich, Spanien, die Staaten Mittel- und Osteuropas und die USA, die allesamt über einen nationalen gesetzlichen Mindestlohn verfügen. Darüber hinaus werden mit den skandinavischen Ländern Dänemark, Schweden und Norwegen sowie Deutschland, Österreich und der Schweiz auch Länder berücksichtigt, in denen die Mindestlohnsicherung bislang im Wesentlichen durch Tarifverträge erfolgt.

Die politischen und ökonomischen Veränderungen in den vergangenen beiden Jahrzehnten haben die Mindestlohnsysteme in allen Ländern vor neue Herausforderungen gestellt und oftmals eine Zunahme von Niedriglohnbeschäftigten und Working Poor nicht verhindern konnten. Dies macht in vielen Ländern nicht nur eine Überprüfung der nationalen Mindestlohnpolitiken notwendig, sondern verlangt auch nach einer stärkeren internationalen Koordinierung, wie dies in den hier dokumentierten "Thesen für eine europäische Mindestlohnpolitik" gefordert wird.

Die Herausgeber:

Thorsten Schulten ist Referent für Arbeits- und Tarifpolitik in Europa; Reinhard Bispinck ist Referent für Tarifpolitik und Leiter des WSI-Tarifarchivs; Claus Schäfer ist Referent für Verteilungspolitik. Alle drei sind wissenschaftliche Mitarbeiter beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.

Rezensionen

Klares Plädoyer für den Mindestlohn
VON MARIO MÜLLER Die Diskussion über Mindestlöhne solle in Ruhe geführt werden und nicht in der Öffentlichkeit. Also sprach kürzlich Angela Merkel. Aber offenbar hört kaum jemand auf die Bundeskanzlerin. Das Thema wird nicht nur am Kabinettstisch in Berlin erörtert, sondern hat längst den Stammtisch erreicht. Und auch zwischen beiden Ebenen wird munter über das Für und Wider eines gesetzlichen Standards beziehungsweise über die angemessene Lohnhöhe gestritten. Das ist auch gut so. Selbstverständlich darf die Debatte nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden, dafür ist das Thema sowohl für die Vielzahl der Betroffenen als auch für die Volkswirtschaft insgesamt zu wichtig. Ein bisschen mehr Ruhe und Sachlichkeit wären allerdings schon angebracht, wozu ein Blick über den teutonischen Tellerrand sicherlich einiges beitragen könnte. Den bietet das soeben erschienene Buch "Mindestlöhne in Europa". Mit ihm werde "erstmalig im deutschen Sprachraum" eine umfassende Analyse der Erfahrungen mit entsprechenden nationalen Systemen auf dem Alten Kontinent sowie den USA vorgelegt, heißt es im Klappentext. Die einzelnen Beiträge beschreiben nicht nur die historische Entwicklung von gesetzlichen wie von tariflichen Mindestlöhnen und ihre derzeitige Ausgestaltung in den jeweiligen Ländern, sondern gehen auch auf die Stärken und Schwächen der diversen Ansätze ein.

Warum man den Band lesen sollte? Weil er erstens zeigt, dass Mindestlöhne - anders als es die hiesige Debatte suggeriert - ein alter und weit verbreiteter Hut sind und nicht den Untergang des Abendlandes bedeuten. Weil zweitens klar wird, dass es sich um ein (gesellschafts-)politisch heftig umkämpftes Feld handelt. Und drittens weil das Buch verdeutlicht, dass der Teufel im Detail steckt.

Nehmen wir das Beispiel Großbritannien. Dort wurde 1999 ein gesetzlicher nationaler Mindestlohn eingeführt, nach erheblichen Widerständen von vielen Seiten. Das Muster erinnert an die aktuelle Diskussion in Deutschland. Die Unternehmerverbände begründeten ihr Nein mit steigenden Arbeitskosten. Und die Gewerkschaften stellten sich quer, weil sie die Tarifautonomie bedroht sahen und befürchteten, dass ihnen Mitglieder davonlaufen. Breiter Konsens in Großbritannien Inzwischen genießt das System "breite Unterstützung in der Bevölkerung und der Politik", schreibt der Autor, was er auch darauf zurückführt, dass es bislang vom beachtlichen Wirtschaftswachstum auf der Insel profitierte. Die Nagelprobe steht aber noch aus: Bei einem starken Konjunkturabschwung "könnte es einen Stimmungsumschwung geben", heißt es in dem Beitrag. Erhellend ist auch die Situation in den USA. Dort entscheidet das Parlament über die Höhe des Mindestlohns. Die öffentliche Auseinandersetzung werde deshalb oftmals durch den Wahlzyklus bestimmt. Dies bezeichnet der Verfasser als "Konstruktionsfehler", der dazu führe, dass die Mindestlöhne stagnierten. Preisbereinigt seien sie seit den frühen 1980er Jahren sogar kontinuierlich gesunken. Andere Staaten wie etwa die Niederlande arbeiten mit Anpassungsklauseln, was aber wiederum die Gefahr einer Entpolitisierung berge, wie das Kapitel über die Benelux-Länder anmerkt. Bedeuten Mindestlöhne eine Gefahr für die Beschäftigung, wie hiesige Industrievertreter behaupten? Diese Frage, die in der aktuellen Diskussion eine wichtige Rolle spielt, beantwortet das Buch leider etwas stiefmütterlich - mit Hinweisen, dass, wie verschiedene Untersuchungen zeigten, kaum negative Folgen zu erwarten seien. Eine ausführliche Darstellung dieser Problematik in einem eigenen Kapitel fehlt. Herausgegeben wurde das Buch von drei Experten aus dem gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI). Was insofern keine Vorfestlegung bedeutet, als sich die Gewerkschaften in diesem Thema alles andere als einig sind. So verlangt Verdi einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro, während die IG Metall und die Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaft IG BCE auf tarifliche Lösungen setzen. Die Buchherausgeber wiederum halten ein klares Plädoyer für die Einführung von Mindestlöhnen und nennen einen Stundensatz von 8,10 bis 8,40 Euro, also deutlich mehr als die Forderung von Verdi, die nach Meinung von Unionspolitikern ohnehin "außerhalb des Realisierbaren" liegt. Copyright © Frankfurter Rundschau online 2006
Dokument erstellt am 13.03.2006 um 17:29:40 Uhr
Erscheinungsdatum 14.03.2006

Leseprobe 1

Thorsten Schulten / Reinhard Bispinck / Claus Schäfer
Vorwort "Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben. (…) Mit einem zum Leben ausreichenden Lohn meine ich mehr als das bloße Existenzminimum – ich meine Löhne, die ein anständiges Leben ermöglichen."
US-Präsident Franklin D. Roosevelt Der in dem Eingangszitat formulierte Anspruch, dass der Lohn jedem Beschäftigten "ein anständiges Leben" ermöglichen soll, stammt aus einer Rede von Franklin D. Roosevelt vor dem US-Kongress anlässlich der Verabschiedung des National Industrial Recovery Act am 16. Juni 1933.[1] Mit diesem Gesetzespaket, das u.a. das Recht der Beschäftigten zur Organisierung in Gewerkschaften und zur Führung von Tarifverhandlungen regulierte, sollte die amerikanische Wirtschaft dazu gebracht werden, neue Regeln für einen "fairen Wettbewerb" zu akzeptieren, die zukünftig eine gerade erfahrene deflationäre Spirale von anhaltenden Lohn- und Preissenkungen verhindern sollten. Den Hintergrund hierfür bildeten die mit der Weltwirtschaftskrise am Ende der 1920er Jahre eingeleitete Große Depression und das hierin manifestierte Scheitern des Laissez-faire-Kapitalismus. An dessen Stelle setzte Roosevelt seine Politik des New Deal, die auf einen sozialstaatlich regulierten Kapitalismus zielte, zu dem ab dem Jahr 1938 auch die Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohns gehörte. Die Idee eines nationalen gesetzlichen Mindestlohns, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg von immer mehr Staaten innerhalb und außerhalb Europas übernommen wurde, hat sowohl eine normativ-moralische als auch eine ökonomische Dimension. Die normativ-moralische Dimension steht für den Anspruch auf einen "fairen Lohn", der ein bestimmtes soziokulturelles Existenzminimum absichern soll und als soziales Grundrecht in zahlreichen internationalen Vereinbarungen festgeschrieben wurde – wie z.B. in der Europäischen Sozialcharta von 1960 oder der EU-Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989. In seiner ökonomischen Dimension entspricht der Mindestlohn der von Keynes in seiner "Allgemeinen Theorie" formulierten Erkenntnis, wonach der Kapitalismus zur Vermeidung größerer Wirtschaftskrisen einer Absicherung des Lohnniveaus nach unten und der Herausbildung deutlich egalitärerer Einkommensverhältnisse bedarf. Mit der vorliegenden Publikation werden erstmals im deutschen Sprachraum in einer umfangreichen Studie die Erfahrungen mit nationalen Mindestlohnsystemen in Europa und den USA analysiert. Hierbei werden sowohl Länder mit gesetzlichen Mindestlöhnen berücksichtigt als auch solche Länder, deren Mindestlohnsicherung wie in Deutschland bislang ausschließlich durch Tarifverträge erfolgt. Im Ergebnis zeigt sich, dass die strukturellen politischen und ökonomischen Veränderungen in den letzten beiden Jahrzehnten die bestehenden Mindestlohnsysteme in allen Ländern vor neue Herausforderungen gestellt haben und in vielen Fällen eine Zunahme von Niedriglohnbeschäftigten und Working Poor nicht verhindern konnten. Dies macht in vielen Ländern nicht nur eine Überprüfung der nationalen Mindestlohnpolitiken notwendig, sondern verlangt auch nach einer stärkeren internationalen Koordinierung, wie dies in den abschließend dokumentierten "Thesen für eine europäische Mindestlohnpolitik" gefordert wird. Wir möchten uns bei allen Autoren, die an dieser Studie mitgewirkt haben, recht herzlich bedanken und hoffen, dass der vorliegende Band auch für die aktuell in Deutschland geführte Mindestlohndebatte einen instruktiven Beitrag leistet. Düsseldorf, im Februar 2006

[1] Franklin D. Roosevelt, Statement on the National Industrial Recovery Act, 16 June 1933 [www.fdrlibrary.marist.edu/odnirast.html].

Leseprobe 2

Thesen für eine europäische Mindestlohnpolitik

1.
Der Lohn ist für die große Mehrheit der Beschäftigten die wichtigste Einkommensquelle. Die Lohnhöhe entscheidet wesentlich über den Lebensstandard und damit darüber, ob ein Leben in Würde möglich ist. Heute werden jedoch in Wirtschaft und Politik die Löhne zunehmend nur noch als bloße Kostenfaktoren und als Variable im internationalen Standortwettbewerb betrachtet. In den Hintergrund tritt damit auch die ökonomische Funktion des Lohnes als bedeutende Komponente der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, ohne die eine prosperierende wirtschaftliche Entwicklung nicht möglich ist. 2.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten dominiert in Europa eine Politik der Liberalisierung der Märkte und der Deregulierung von Arbeits- und Sozialrechten. Dadurch werden die Löhne systematisch unter Druck gesetzt. In vielen europäischen Ländern ist zudem die gewerkschaftliche Schutz- und Gestaltungsmacht durch die Massenarbeitslosigkeit geschwächt worden. Immer mehr Unternehmen nutzen ihre hierdurch gestärkte Macht- und Verhandlungsposition aus. Beschäftigte und ihre gewerkschaftlichen Vertretungen werden oft vor die erpresserische Wahl gestellt, entweder weitgehenden Zugeständnissen zuzustimmen oder Arbeitsplatzverluste zu riskieren. Zugleich bilden sich im Rahmen der Personenfreizügigkeit in immer mehr Branchen grenzüberschreitende europäische Arbeitsmärkte heraus, welche bestehende Lohn- und Arbeitsstandards unterhöhlen. In Zukunft droht diese Entwicklung durch die geplante europäische Dienstleistungsrichtlinie noch weiter verstärkt zu werden. 3.
Seit den 1980er Jahren ist die reale Entwicklung der Löhne in den meisten europäischen Staaten durch zwei grundlegende Trends gekennzeichnet. Zum einen sind die Löhne hinter der Produktivitätsentwicklung zurückgeblieben, sodass die Lohnquote fast überall eine rückläufige Tendenz aufweist. Das Ergebnis dieser Entwicklung besteht nicht nur in einer massiven Einkommensumverteilung zugunsten der Kapitalseite, sondern auch in einer Schwächung der privaten Konsumnachfrage, die ihrerseits in vielen europäischen Ländern zu der schwachen Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung beigetragen hat. 4.
Als zweiter grundlegender Trend lässt sich für die Mehrzahl der europäischen Länder ein Anstieg der Lohnspreizung feststellen. Die Lohnunterschiede zwischen den einzelnen Beschäftigtengruppen haben immer mehr zugenommen. Dies liegt sowohl an einer überdurchschnittlich hohen Lohnentwicklung im oberen Lohnsegment (z.B. bei leitenden Angestellten, Managern usw.) als auch an einer massiven Ausdehnung des Niedriglohnsektors. Die Europäische Kommission hat unlängst berechnet, dass im Jahr 2000 allein in der alten EU (EU-15) mehr als 15% der Beschäftigten (d.h. mehr als 20 Millionen Lohnabhängige) zu den Niedriglohnempfängern gezählt werden müssen. 5.
Strukturell gesehen ist der Anteil der Niedriglohnempfänger bei den Frauen doppelt so hoch wie bei den Männern. Gleichzeitig arbeiten überdurchschnittlich viele Niedriglohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen, deren Anzahl in Europa seit den 1990er Jahren ebenfalls stark angestiegen ist. Zudem existiert in einigen Branchen (Landwirtschaft, Hotel und Gaststätten, Handel, private Dienstleistungen) eine besonders hohe Konzentration von Niedriglohnempfängern. Bei einem großen Teil der Niedriglohnempfänger handelt es sich um "arbeitende Arme" (working poor), deren Lohn unterhalb von 50% des nationalen Durchschnittslohnes liegt. 6.
Die zunehmende Ausdehnung des Niedriglohnsektors bildet neben der Massenarbeitslosigkeit eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen in Europa, die die sozialen, moralischen und ökonomischen Grundlagen des europäischen Sozialmodells zu untergraben droht. Während die Unternehmen sich durch die Zahlung von Niedrig- und Billiglöhnen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entziehen, werden die sozialen Folgekosten der Allgemeinheit aufgebürdet und belasten zunehmend die Institutionen des Sozialstaates und der öffentlichen Fürsorge. Hinzu kommt, dass mit der Ausdehnung des Niedriglohnsektors die Spaltung der Gesellschaft weiter vertieft wird und damit der Boden für chauvinistische, rechtspopulistische und nationalistische Kräfte bereitet wird. Demgegenüber ist eine progressive Politisierung der Lohnfrage, die sich an den grundlegenden Normen der Teilhabe- und Verteilungsgerechtigkeit orientiert, dringend geboten. 7.
Die Existenz von Niedriglöhnen, welche die Betroffenen von einer normalen gesellschaftlichen Teilhabe ausschließen, steht im krassen Gegensatz zu dem in vielen europäischen und internationalen Vereinbarungen festgeschriebenen Recht auf einen "angemessenen" oder "gerechten" Lohn. Die 1989 von der EU verabschiedete "Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer" (kurz: "EU-Sozialcharta") beinhaltet den Grundsatz, dass "für jede Beschäftigung ein gerechtes Entgelt zu zahlen (ist)" (Titel 1, Abs. 5.). "Entsprechend den Gegebenheiten eines jeden Landes" soll deshalb "den Arbeitnehmern ein gerechtes Arbeitsentgelt garantiert" werden. Darunter versteht die EU-Sozialcharta ein Arbeitsentgelt, das ausreicht, um den Arbeitnehmern "einen angemessenen Lebensstandard zu erlauben". Auch die "Europäische Sozialcharta" des Europarates von 1961 enthält ausdrücklich ein "Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt ..., welches ausreicht ... einen angemessenen Lebensstandards zu sichern" (Artikel 4). Ähnliche Bestimmungen einer "gerechten Entlohnung" finden sich außerdem in den nationalen Verfassungen zahlreicher europäischer Länder, wie z.B. in Belgien, Italien, Spanien, Portugal, Tschechien oder auch in den Landesverfassungen mehrerer deutscher Bundesländer (z.B. in Hessen und Nordrhein-Westfalen). 8.
Ein wesentliches Instrument zur Sicherung eines angemessenen Arbeitsentgelts besteht in der Festsetzung von Mindestlöhnen. Bereits im Jahr 1928 wurde im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) ein "Übereinkommen über die Einrichtung von Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen" (IAO-Konvention Nr. 26) verabschiedet. Später wurde in einem weiteren Übereinkommen von 1970 die Bedeutung von Mindestlöhnen noch einmal bekräftigt (IAO-Konvention Nr. 131). Nach Ansicht der IAO sollen alle Staaten ein nationales Mindestlohnsystem einführen, das "den Lohnempfängern Schutz gegen unangemessen niedrige Löhne gewährt." Entsprechend den sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen eines jeden Landes soll die Höhe des Mindestlohns "im Einvernehmen oder nach umfassender Beratung mit den ... Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden" festgelegt werden. 9.
Nationale Regelungen zur Sicherung von Mindestlöhnen sind überall in Europa weit verbreitet. In der Mehrzahl der europäischen Staaten existieren gesetzliche Mindestlöhne, die über alle Branchen hinweg einen bestimmten Mindestlohnsatz festschreiben. In anderen Ländern werden die Mindestlöhne ausschließlich durch Kollektivverträge festgesetzt, die teilweise darüber hinaus durch Allgemeinverbindlicherklärungen ausgeweitet werden. In wieder anderen Ländern finden sich Mischformen, bei denen die Mindestlöhne in einigen Branchen durch Kollektivverträge und in anderen Branchen durch gesetzliche Vorgaben reguliert werden. Unabhängig von ihrer jeweiligen nationalen Form steht die Mindestlohnsicherung jedoch – wie die Lohnpolitik insgesamt – unter massivem Druck. 10.
Vor dem Hintergrund eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes und einer zunehmend integrierten europäischen Wirtschaft ist eine europäische Mindestlohnpolitik dringend geboten. Das Ziel einer europäischen Mindestlohnpolitik besteht darin, die weitere Ausbreitung von Armutslöhnen und ein gerade im Niedriglohnsektor drohendes grenzüberschreitendes Lohndumping zu verhindern. Damit leistet sie zugleich einen wichtigen Beitrag, den Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" durchzusetzen. Darüber hinaus setzt eine europäische Mindestlohnpolitik auch positive Impulse für andere soziale Ziele wie die Verringerung der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern oder die Verbesserung der Qualität und Produktivität der Arbeit. Schließlich leistet eine europäische Mindestlohnpolitik gesamtwirtschaftlich einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der privaten Nachfrage und wirkt als Barriere gegen deflationäre Tendenzen. 11.
Zur Umsetzung des in der EU-Sozialcharta enthaltenen Rechts auf ein "angemessenes Entgelt" hat die Europäische Kommission bereits Anfang der 1990er Jahre die Notwendigkeit einer europäischen Mindestlohnpolitik anerkannt. In einer Stellungnahme aus dem Jahr 1993 fordert sie die EU-Mitgliedstaaten dazu auf, "geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass das Recht auf ein angemessenes Arbeitsentgelt geschützt wird." Das Europäische Parlament hat sich im gleichen Jahr für die "Einführung eines gerechten Referenzentgelts auf nationaler Ebene, das als Grundlage für Tarifverhandlungen dient", ausgesprochen und für "Mechanismen zur Festlegung von gesetzlichen Mindestlöhnen bezogen auf den nationalen Durchschnittslohn" plädiert. 12.
Bei dem Konzept einer europäischen Mindestlohnpolitik handelt es sich demnach im Kern um die europaweite Festlegung bestimmter gemeinsamer Ziele und Kriterien, auf deren Grundlage dann die nationalen Mindestlohnpolitiken miteinander koordiniert werden können. Dabei kann angesichts der nach wie vor gravierenden ökonomischen Entwicklungsunterschiede in Europa und des damit zusammenhängenden enormen Lohngefälles das Ziel nicht darin bestehen, einen einheitlichen Mindestlohnbetrag für ganz Europa festzusetzen. Es geht vielmehr darum, in jedem Land für die unteren Lohngruppen eine bestimmte Mindestnorm festzulegen, die in einem bestimmten Verhältnis zum nationalen Lohngefüge steht. Als Zielmarke sollten alle europäischen Länder eine nationale Mindestnorm für Löhne anvisieren, die mindestens 60% des nationalen Durchschnittslohns beträgt. Als kurzfristiges Etappenziel sollten alle Länder eine Mindestnorm einführen, die 50% des nationalen Durchschnittslohns entspricht. 13.
Ähnlich wie in anderen Politikfeldern könnte eine europäische Mindestlohnpolitik nach der "Methode der offenen Koordinierung" verfahren. Demnach müssten auf europäischer Ebene bestimmte konkrete Ziele und Umsetzungszeiträume festgelegt werden, die dann im nationalen Rahmen mit den dort üblichen Institutionen und Verfahren umgesetzt werden. Hierbei können je nach nationaler Tradition gesetzliche Mindestlöhne, allgemeinverbindlich erklärte Kollektivvereinbarungen oder Kombinationen von beiden Regelungsverfahren zur Anwendung kommen. Die europäische Ebene hätte wiederum die Aufgabe, die Umsetzung auf nationaler Ebene zu überwachen und durch ein umfassendes Monitoring nationaler Mindestlohnpolitiken zur Verbreitung "guter nationaler Praktiken" beizutragen. Hierzu gehört auch eine Verbesserung der statistische Datenbasis über die Entwicklung der Niedriglöhne in Europa. 14.
Bei der Durch- und Umsetzung einer europäischen Mindestlohnpolitik kommt den europäischen Gewerkschaften eine herausragende Rolle zu. Diese sind gefordert, ein gemeinsames Konzept für eine europäische Mindestlohnpolitik zu formulieren. Ein solches Konzept wäre einerseits mit den aktuellen Ansätzen für eine europäische Koordinierung der Kollektivvertragspolitik zu verbinden. Andererseits würde das Konzept als Grundlage dienen, um auf europäischer Ebene für die Formulierung ambitionierter Ziele zu sorgen und auf nationaler Ebene deren Umsetzung voranzutreiben. Schließlich besteht die ureigene Aufgabe der europäischen Gewerkschaften darin, ein grundlegendes Prinzip des europäischen Sozialmodells zu verteidigen, wonach der Lohn jedem abhängig Beschäftigten ein Leben in Würde und finanzieller Unabhängigkeit ermöglichen muss. Thorsten Schulten, Claus Schäfer, Reinhard Bispinck, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, Deutschland;
Andreas Rieger, Beat Ringger, Hans Baumann, Denknetz, Schweiz;
Michel Husson, Antoine Math, Wissenschaftler beim Institut de Recherches Economiques et Sociales (IRES), Frankreich Düsseldorf, Zürich, Paris, 15. April 2005

Leseprobe 3



Inhalt:

Thorsten Schulten / Reinhard Bispinck / Claus Schäfer
Vorwort (Leseprobe)
Thorsten Schulten
Gesetzliche und tarifvertragliche Mindestlöhne in Europa –
ein internationaler Überblick

1. Gesetzliche Mindestlöhne


Pete Burgess
Der gesetzliche Mindestlohn in Großbritannien
Roland Erne
Gesetzliche Mindestlöhne in Irland
Thorsten Schulten
Mindestlöhne in den BeNeLux-Staaten
Bernard Schmid / Thorsten Schulten
Der französische Mindestlohn SMIC
Albert Recio
Der gesetzliche Mindestlohn in Spanien
Heribert Kohl / Hans-Wolfgang Platzer
Mindestlöhne in Mittelosteuropa
Kai Burmeister
Gesetzliche Mindestlöhne in den USA

2. Tarifliche Mindestlohnregelungen


Håvard Lismoen
Regulierung von Niedriglöhnen in Skandinavien
Daniel Oesch / Andreas Rieger
Mindestlohnpolitik via Tarifverhandlungen in der Schweiz
Christoph Hermann
Mindestlöhne in Österreich
Reinhard Bispinck / Claus Schäfer
Niedriglöhne und Mindesteinkommen:
Daten und Diskussionen in Deutschland

Dokumentation


Thesen für eine europäische Mindestlohnpolitik (Leseprobe)

Autorenreferenz

Reinhard Bispinck ist Wissenschaftler am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. E-Mail: Reinhard-Bispinck@boeckler.de Pete Burgess ist Dozent an der Business School der University of East London. E-Mail: p.burgess@uel.ac.uk Kai Burmeister ist Diplom-Volkswirt und absolviert derzeit das Trainee-Programm der IG Metall. E-Mail: Kai.Burmeister@igmetall.de Roland Erne ist Politikwissenschaftler und lehrt vergleichende und internationale Arbeitsbeziehungen an der Business School des University College Dublin. E-Mail: roland.erne@ucd.ie Christoph Hermann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) in Wien und Lektor am Institut für Staatswissenschaften der Universität Wien. E-Mail: hermann@forba.at Heribert Kohl ist freiberuflicher Fachberater und -autor mit Büro für wissenschaftliche Publizistik und Beratung (BwP) in Erkrath. E-Mail: H-Kohl@online-club.de Håvard Lismoen arbeitet als Wissenschaftler am Institut für Arbeits- und Sozialforschung Fafo in Oslo. E-Mail: Lismoen.haavard@fafo.no Daniel Oesch ist Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und Lehrbeauftragter an der Universität Genf. E-Mail: daniel.oesch@ sgb.ch Hans-Wolfgang Platzer ist Professor am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Fachhochschule Fulda. E-Mail: Hans.W.Platzer@ sk.fh-fulda.de Albert Recio ist Professor für Ökonomie an der Universitat Autónoma de Barcelona. E-Mail: Albert.Recio@uab.es Andreas Rieger ist Co-Leiter des Sektors Dienstleistungen der größten Schweizer Gewerkschaft Unia. E-Mail: andreas.rieger@unia.ch Claus Schäfer ist Wissenschaftler am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. E-Mail: Claus-Schaefer@ boeckler.de Bernard Schmid ist Journalist in Paris und Doktorand an der Universität Paris X-Nanterre. E-Mail: bernard.schmid@wanadoo.fr Thorsten Schulten ist Wissenschaftler am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. E-Mail: Thorsten-Schulten@boeckler.de

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