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Michael Schumann

Metamorphosen von Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein

Kritische Industriesoziologie zwischen Taylorismusanalyse und Mitgestaltung innovativer Arbeitspolitik

176 Seiten | 2003 | EUR 14.80 | sFr 26.60
ISBN 3-89965-008-5 1

Titel nicht lieferbar!

 

Michael Schumann begründet in diesem Buch, warum wir uns an einem gesellschaftlichen Wendepunkt befinden, der auch zu einer Renaissance kritischer Industriesoziologie führen wird.


Michael Schumann gehört zu den führenden Soziologen der Gegenwart. "Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein" und "Das Ende der Arbeitsteilung?" (beide zusammen mit Horst Kern) sind Standardwerke. Das Ergebnis von Michael Schumanns wissenschaftlicher Arbeit ist eine empirisch gesättigte Gesellschaftstheorie, die Aufklärungs- und Orientierungswissen vermittelt.

"Wenn es richtig ist, dass mit dem Umbruch der Rationalisierung in den 1980er und 1990er Jahren eine Phase neuer Unübersichtlichkeit mit relativ offenem arbeitspolitischem Linienstreit eingeleitet wurde, dann ist kritische Industriesoziologie heute vor allem gefordert, diese 'verwirrende' Situation zu dechiffrieren." (M. Schumann)

Trotz arbeitspolitischem Roll Back gibt die Negativfolie "Taylorismus" immer weniger her für die Analyse der neuen Arbeitsprobleme und Entfremdungsformen; der Zugriff auf die Gesamtpersönlichkeit der Beschäftigten wird stärker; innovative Arbeitspolitik kann dazu beitragen, die Zumutungen an den "flexiblen Menschen" zurückzuweisen, die Arbeit zu verbessern und menschenwürdiger zu machen und damit die Grundlage für zusätzliche Innovations- und Demokratiepotenziale zu schaffen. Die Prognose: "Ich erwarte für die nächsten Jahre eine Renaissance der Industriesoziologie, weil wir uns wieder an einem gesellschaftlichen Wendepunkt befinden, in dem Arbeit re-thematisiert wird."

Aus dem Inhalt:
– Ende der Arbeitsteilung?
– Produktionsarbeit – Bleiben die Entwicklungstrends stabil?
– Frisst die Shareholder Value-Ökonomie die Modernisierung der Arbeit?
– Das Lohnarbeiterbewusstsein des "Arbeitskraftunternehmers"
– Was bleibt von der Arbeitersolidarität? Zum Arbeits- und Betriebsverständnis bei innovativer Arbeitspolitik
– Sozialstrukturelle Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Solidarität
– Industriearbeit zwischen Entfremdung und Entfaltung
– Ausgrenzung statt Solidarität
– Kritische Industriesoziologie – Neue Aufgaben
– Das Ende der kritischen Industriesoziologie?

Michael Schumann ist Präsident des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) in Göttingen.

Rezensionen

Der theoretische Bezugspunkt all dieser Aufsätze ist die Kategorie der "Entfremdung", die bekanntlich ihren historischen Ausgangspunkt in der Marxschen Analyse des Industriekapitalismus hat... Umso überraschender ist die zentrale These des Buches, denn Schumann beantwortet beide Fragen positiv und hält diese Ambivalenz auch 175 Seiten lang konsequent durch:
Ja, auch die neuen dienen - so Schumann - dem Zweck, die Produktivität und damit den Gewinn der Unternehmen zu steigern... Allerdings hält er dies nicht für einen Einwand gegen die neuen Formen der Arbeitsorganisation und begründet das damit, dass diesen Gefahren auch Vorzüge gegenüberstünden: Die Arbeit werde abwechslungreicher, weise weniger destruktive Züge auf, erweitere die Chancen, sich auch als Subjekt in ihr wiederzufinden...
Frankfurter Rundschau 20.6.2003

Leseprobe 1

Richard Detje[*]
Vorwort "Gerade eine Theorie der Gesellschaft,
der die Veränderung keine Sonntagsphrase bedeutet,
muss die ganze Gewalt der widerstrebenden Faktizität in sich aufnehmen,
wenn sie nicht ohnmächtiger Traum bleiben will,
dessen Ohnmacht wiederum bloß der Macht des Bestehenden zugute kommt."
Theodor W. Adorno, 1952 "Metamorphosen von Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein" ist sehr viel mehr als die in einem Titel formulierte Klammer thematisch weitgesteckter Aufsätze, die Michael Schumann (zum Teil zusammen mit Horst Kern, Detlef Gerst und Martin Kuhlmann) im Wesentlichen von Mitte der 1990er Jahre bis heute formuliert und an verschiedenen Stellen veröffentlicht hat. Viele Leserinnen und Leser werden sich durch den Titel dieses Buches erinnert fühlen an die erste bahnbrechende Arbeit von Horst Kern und Michael Schumann aus dem Jahre 1970: "Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein". Das ist beabsichtigt. Zum einen, weil die Darstellung der Hochphase der tayloristischen Organisation industrieller Arbeit den Hintergrund liefert für die Analyse der nachfolgenden Umbrüche und die Herausbildung neuer Produktionskonzepte. Zum zweiten, weil in mehreren Beiträgen den Veränderungen im Arbeiterbewusstsein und der Erneuerung von Solidarität in einer von Ausgrenzung und Spaltungen durchzogenen Arbeitsgesellschaft erneut nachgegangen wird. Das übergreifende Thema dieses Buches ist also die Geschichte der Transformation der Industriearbeit im letzten Vierteljahrhundert. I.
Das von Eric Hobsbawm so bezeichnete "Kurze 20. Jahrhundert" endete 1991 mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung, die 1914 mit dem Niedergang des liberalen Zeitalters und drei Jahre später mit der russischen Oktoberrevolution ihren Ausgangspunkt hatte. In der Bestimmung der epochalen politischen Zyklen ist das gut begründet. Allerdings: "Die Wahl eines bestimmten Datums ist eine Konvention und nichts, wofür Historiker ins Gefecht ziehen würden. Es gibt nur einen einzigen klaren Indikator für das Ende des Kurzen Jahrhunderts: Wir wissen, dass die Weltwirtschaft seit 1973 in eine neue Phase getreten ist" (Hobsbawm 2000: 10). Folgt man diesem Hinweis, löst sich die politische Überdetermination der Epoche auf. Der Blick richtet sich auf Umbrüche, die durch die Entwicklungsdynamik der gesellschaftlichen Arbeit bestimmt sind. Tayloristische Produktionsorganisation und Arbeitspolitik, die von vielen als Synonym für kapitalistische Produktivkraftentwicklung schlechthin verstanden worden waren, stellten sich Mitte der 1970er Jahre als Kennzeichen einer spezifisch historischen Entwicklungsphase dar. Die Entwicklung des Kapitalismus erfolgt nicht in einmal festgelegten Bahnen, sondern in unterschiedlichen Formationen: zunächst die der Großen Industrie, wenn wir die Begrifflichkeit von Marx an diesem Punkt einmal historisieren, und nach dem Zweiten Weltkrieg die des Fordismus. Auffallend bei dieser Periodisierung sind die langen Übergangsphasen in den 1920/30er Jahren und seit Mitte der 1970er Jahre. Unabhängig von der offenen Diskussion darüber, ob sich im Übergang in das 21. Jahrhundert bereits eine neue – nachfordistische – Formation kapitalistischer Entwicklung herausgebildet hat, kommt der Analyse der Transformation der Produktionsmodelle eine herausragende Bedeutung zu. Nun entwickelt sich die Gesellschaft nicht einfach aus dem Fabriksystem heraus. Die Formel, dass die Hegemonie im Fordismus vom Betrieb ausging, ist in der Weise, wie sie häufig ohne ihre zahlreichen und vielfältigen Vermittlungsglieder gebraucht wurde, wenig orientierend gewesen. Allerdings bleibt die Frage nach der Zukunft der Arbeit entscheidend für den weiteren gesellschaftlichen Entwicklungsgang. Und diese ist ohne genaueren Blick auf die Organisation der Produktionsprozesse und die vorherrschenden Rationalisierungskonzepte nicht zu beantworten. Mehr noch: Die Krise des Fordismus zeichnete sich früh in den Entwicklungstrends der Produktionsarbeit ab; der Blick auf den Shop floor kann also helfen, Zukunftspfade zur Überwindung der gegenwärtigen Krise der Arbeitsgesellschaft zu identifizieren. Die vorliegende Publikation ist deshalb kein Kompendium industriesoziologischer Diskussionen im engeren Sinne. Es geht um nicht weniger als um Beiträge zur Analyse der Transformation industrieller Arbeit als Nukleus gesellschaftlicher Umgestaltungen. II.
1984 öffneten Horst Kern und Michael Schumann mit "Das Ende der Arbeitsteilung?" den Blick auf eine arbeitspolitische Perspektive, in der die Entwicklung der Produktivkräfte industrieller Arbeit nicht in fortschreitender Arbeitsteilung, sondern in Aufgabenintegration, Requalifizierung, damit Aufwertung der Arbeiter im Shop floor vom potenziellen Störfaktor zum Subjekt weiterer Rationalisierung liegt. Damit sollte kein "one best way" industrieller Restrukturierung beschrieben werden. Aber das starke Argument für die Durchsetzung eines neuen Produktionskonzeptes war, dass ein Bruch mit dem tayloristischen Zugriff auf die Arbeitskraft der Kapitalverwertung neue Horizonte öffnet. Ein Durchmarsch zu einer neuen Formation kapitalistischer Produktion konnte daraus nicht abgeleitet werden, denn ein neues Produktionskonzept konstituiert allein noch kein neues Produktionsmodell. Bei aller Bedeutung des kapitalistischen Verwertungsprozesses kann daraus allein nicht der Übergang von einer überkommenen Formation der Organisation gesellschaftlicher Arbeit in eine entwickeltere erklärt werden. Kennzeichen des Fordismus ist nicht nur die tayloristische Organisation der Arbeitsprozesse, sondern sind auch spezifische, der Massenproduktion entsprechende sozialstaatlich geprägte Konsumformen und Lebensweisen sowie Ansätze einer gesamtwirtschaftlichen – keynesianischen – Steuerung der Wirtschaft, die nicht gleichsam automatisch aus der Kapitalverwertung sich ergeben, sondern Resultate von sozialen Auseinandersetzungen sind. Die Entwicklung neuer Produktionskonzepte führt also für sich genommen noch keineswegs zur Durchsetzung einer neuen kapitalistischen Formation, sondern bedarf spezifischer ökonomischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. In "Das Ende der Arbeitsteilung?" wiesen Kern/Schumann auf die Gefahr hin, dass die neuen Produktionskonzepte in einer "privatistischen Verengung gefangen bleiben". Dies hätte zur Folge, dass sie keine neue "gesamtgesellschaftliche Rationalität" entfalten und nicht auf die Kernsektoren industrieller Produktion insgesamt ausstrahlen. Die Durchsetzung neuer Produktionskonzepte und damit die Überwindung der fordistisch geprägten Entfremdung der Arbeit würde damit "auf halbem Wege stecken bleiben" (S. 16-29 in diesem Band). Um nicht in der Sackgasse einer rein einzelbetrieblichen Modernisierungslogik zu landen, forderten Kern/Schumann eine Politik der sozialen Steuerung der Produktivkraftentwicklung, um wachsende Arbeitslosigkeit und Segmentierung – also die Externalisierung der Rationalisierungsfolgen – zu verhindern, und auf breiter Front einer Professionalisierung der Produktionsarbeit zum Durchbruch zu verhelfen. Mitte der 1980er Jahre schien die Zeit dafür so ungünstig nicht: In den Belegschaften sahen Kern/Schumann eine Politik der "Sozialisierung der Anpassungslasten im gesamtgesellschaftlichen Maßstab" und der "Beteiligung aller am gesellschaftlichen Arbeitsvolumen" zwar nicht als Selbstgänger, aber durchaus als verankerungsfähig an. Und die Linienauseinandersetzungen im Management signalisierten eine "noch halbwegs offene Situation". III.
Die Großwetterlage verbesserte sich noch, als Anfang der 1990er Jahre Befunde des MIT zu dem Ergebnis kamen, dass der "Decline" der US-amerikanischen Automobilindustrie durch Konzepte gestoppt und umgekehrt wurde, die auf einem ganzheitlicheren Zugriff auf die Arbeit basieren. Umso mehr musste die Lean-Production-Debatte den Umbau des auf Qualitätsproduktion fußenden deutschen Produktionsmodells beflügeln. In Absetzung von tayloristischer Arbeitsteilung lautete die Botschaft: Aufwertung von Gruppenarbeit. Schumanns Untersuchungen über die Ausgestaltung von Gruppenarbeit (Produktionsarbeit – Bleiben die Entwicklungstrends stabil?, S. 30-50) zeigen aber eine doppelte Verlaufsform. Breitere Aufgabenintegration von Produktionsarbeit auch aus den indirekten Bereichen und eine deutliche Rücknahme hierarchischer Kontrolle zugunsten effektiver Selbstorganisation fand vor allem in den technisierten und teilautomatisierten Fertigungsbereichen statt, während in den manuellen Fertigungen der Bruch mit der tayloristischen Trennung von Hand- und Kopfarbeit nicht als umfassender Gestaltungsansatz, sondern zumeist in "homöopathischen Dosierungen" umgesetzt wurde. Mitte der 1990er Jahre war das eingetreten, was ein Jahrzehnt zuvor als Gefahr für eine umfassendere Umsetzung neuer Produktionskonzepte beschrieben worden war. Reprofessionalisierte Produktionsarbeit wurde dort weiterentwickelt, wo sie sich gemäß den betriebswirtschaftlichen Anforderungen unmittelbar rechnete, Verwertungsinteressen und Beschäftigteninteressen also zu einer gemeinsamen Antwort auf die Frage nach dem "Wie" der Produktion drängten. Als übergreifender Ansatz industrieller Restrukturierung wurden die neuen Produktionskonzepte aber im engen Fokus betriebswirtschaftlicher Rationalisierung nicht weiterentwickelt. Schien es noch in den 1980er Jahren nahe zu liegen, dass weniger Arbeitsteilung, Höherqualifikation und mehr Selbstorganisation mit den Anforderungen eines auf Qualitätsproduktion und avancierten Technologieeinsatz setzenden Produktionsmodells in hohem Maße kompatibel sind, wurde ein Jahrzehnt später diskutiert, ob dieses Modell unter den Bedingungen verschärfter Konkurrenz auf den Weltmärkten überhaupt noch entwicklungsfähig ist. Die neuen Produktionskonzepte wurden zwar nicht auf breiter Front zurückgenommen, aber in maßgeblichen industriellen Kernsektoren erfolgte in den Fertigungsbereichen ein Rückfall in konventionelle Rationalisierungsstrategien. Statt sozial gesteuerter Produktivkraftentwicklung wurde im Unternehmerlager und im politischen System die Einbettung in ein angelsächsisches Modell ganz oben auf die Forderungsagenda geschrieben. IV.
Was erklärt den Wechsel im Produktionsmodell, was die Aufwertung eines Taylorismus in modernisiertem Gewand? Auf Linienauseinandersetzungen im Management – Modernisten versus Traditionalisten – zu rekurrieren, bringt wenig. Schumann verweist auf veränderte ökonomische Rahmenbedingungen: zum einen auf die immens gestiegene Arbeitslosigkeit, die das Kräfteverhältnis auf den Arbeitsmärkten zu Lasten der Lohnabhängigen verschlechtert; zum zweiten auf veränderte Kapitalverwertungsstrategien. "Unter dem Vorzeichen des Shareholder-Value-Kalküls ändern sich dramatisch die Fristigkeiten, in denen vorgegebene Renditen erreicht werden sollen. Short-Terminism heißt die neue Parole... In dieser Logik verspricht der kurzfristig erreichte, wenn auch kleinere Produktivitätsvorteil tayloristischer Arbeit mehr Gewinn als der mit höherem Aufwand für Human-Ressource-Development erkaufte, aber erst mittelfristig abschöpfbare der innovativen Arbeitsgestaltung" (Frisst die Shareholder Value-Ökonomie die Modernisierung der Arbeit?, S. 51-60, Zitat S. 58f.). Konnten Kern/Schumann in der ersten Hälfte der 1980er Jahre noch davon ausgehen, dass die Kapitalverwertung einen Umbruch im Umgang mit der Arbeitskraft durchaus befördert, so erwies sich nun in nachfolgenden Untersuchungen, dass sich die Bedingungen der Kapitalverwertung verändert hatten. Deutlich wird damit eine zweifache Strukturveränderung im Kapitalismus: Zum einen ein Bruch mit tayloristischer Arbeitsorganisation, der aber in einer halbierten Modernisierung stecken geblieben ist, "die dem im Begriff angelegten Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Rationalität nicht gerecht wird." (Ende der Arbeitsteilung?, S. 17). Zum anderen eine relative Verselbständigung der Finanzmärkte, die in den 1990er Jahren dazu führt, dass die Renditeerwartung gegenüber dem Unternehmenssektor nach oben geschraubt und damit die corporate governance in den Unternehmen umgestaltet wird. Verändert wird nicht nur die Arbeits-, sondern auch die Unternehmensorganisation. Eine hochgradig komplexe und widersprüchliche Situation hat sich herausgebildet: Neue Produktionskonzepte, die sich in hochentwickelten kapitalistischen Ländern als probate Antwort auf die Krise tayloristischer Arbeitsorganisation erweisen, werden nicht verallgemeinert, weil gleichzeitig ein Wechsel im Produktionsmodell ("Hochqualitäts-, Hochqualifikations- und Hochlohnmodell"), ein Wechsel im Akkumulationsregime zwischen Real- und Finanzkapital, Veränderungen in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen (massenhafte Arbeitslosigkeit) und in den politischen Weichenstellungen stattgefunden haben. Zwar kommt es weiterhin zu arbeitspolitischen Innovationen, aber die neuen Produktionskonzepte sind nicht eingebettet in eine sie befördernde Unternehmenspolitik. Und von der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik bläst ihnen der kalte Wind sozialer Exklusion entgegen. Zu Recht hebt Schumann hervor, dass für diese Situation eine elaborierte Theorie der sozioökonomischen Entwicklung nicht vorliegt, die dazu beitragen könnte, den Schleier der "neuen Unübersichtlichkeit" zu lüften. "Theoriearbeit weiterzutreiben" stellt somit eine Anforderung an eine kritische Industriesoziologie dar, die "Aufklärungs- und Orientierungswissen" vermitteln will (Kritische Industriesoziologie, S. 153) – eine Theoriearbeit, für die selbstverständlich gelten muss, dass "sie sich an den in den letzten Jahren stärker gewordenen Bedenken abarbeitet, wie denn eine ›Theorie der Gesellschaft‹ heute auszusehen hat" (Das Ende der kritischen Industriesoziologie?, S. 168). V.
Kritisch bilanziert Schumann: "In der Industriesoziologie wurde in den letzten 20 Jahren das Arbeiterbewusstsein als Gegenstand von Forschung und Reflexion zunehmend mehr vernachlässigt" (Das Lohnarbeiterbewusstsein des "Arbeitskraftunternehmers", S. 99). Eine Theorie der sozioökonomischen Entwicklung muss aber nach den Akteuren fragen, die – nolens volens – Träger dieser Entwicklung sind. Bereits in den frühen 1980er Jahren schien es so, dass "die Lageunterschiede innerhalb der Arbeiterschaft noch nie so groß gewesen sind wie jetzt", sodass es schwer fiel, sich "vorzustellen, wie durch solche Unterschiede hindurch auf Dauer gesellschaftliche Integration stattfinden kann." (Kern/Schumann 1984, S. 23) Durch die Segmentierung wurde die Skepsis verstärkt, ob es tatsächlich gelingen kann, die Impulse der neuen Produktionskonzepte durch adäquate politische Initiativen aufzugreifen und voranzutreiben. Zwei Jahrzehnte später beschreibt Schumann nicht nur eine weitergehende Ausdifferenzierung, sondern auch eine Verdichtung von sozialen Problemlagen (Sozialstrukturelle Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Solidarität, S. 107-123). Arbeitslosigkeit hat sich tief in die Poren der Gesellschaftsstruktur eingebrannt, "Exklusion" ist zu einer Alltagskategorie, einer Lebenssituation geworden. Neben den "Überflüssigen" hat sich ein wachsendes Heer von Arbeitern und in zunehmendem Maße Arbeiterinnen in prekären Beschäftigungsverhältnissen entwickelt, die eine Kumulation negativer Arbeitsmarktverhältnisse und Arbeitsbedingungen erfahren. Dort, wo sie vorzugsweise (temporär) Beschäftigung finden, sind größere Bereiche von Industriearbeit der Rekonventionalisierung entlang tayloristischer Rationalisierung mit traditioneller Arbeitsteilung unterworfen. Neben dem Ausschluss und der Prekarisierung der Arbeit gewinnt in diesem Segment auch die Entfremdung neues, vergrößertes Gewicht (Industriearbeit zwischen Entfremdung und Entfaltung, S. 61-74). "An anti-tayloristischen arbeitspolitischen Konzepten wird heute am entschiedensten dort festgehalten, wo ohne den in den 1980er und 1990er Jahren entwickelten arbeitspolitischen Wandel weder eine hinreichende Prozessbeherrschung noch der geforderte Output erreicht werden kann" (S. 150 in diesem Band). Aber auch dort, wo Rationalisierung in begrenzter Eigenregie der Beschäftigten betrieben wird, bildet sich keine neue Grundform der Ware Arbeitskraft ("Arbeitskraftunternehmer") heraus. Von einer weitgehend konfliktbereinigten Integration der Lohnarbeit in den kapitalistischen Produktionsprozess kann keine Rede sein. Wichtig ist Schumanns Befund, dass in Strukturen innovativer Gruppenarbeit, die ein kooperatives Arbeitsklima erzeugen, Ansätze für ein neues Verständnis und eine neue Praxis von Solidarität entstehen, die eine Gegentendenz zur Praxis der gesellschaftlichen Exklusion zum Ausdruck bringen (Was bleibt von der Arbeitersolidarität?, S. 75-98). Dann nämlich, wenn sich bestätigt, dass in diesen Kollektiven auf der Grundlage wechselseitiger Unterstützung und kooperativ-solidarischer Umgangsformen soziale Lernprozesse stattfinden, "die aus Sicht der Beschäftigten in starkem Kontrast zur übrigen Betriebsrealität stehen und dadurch häufig Ausgangspunkt für eine von einem erweiterten demokratischen Selbstverständnis getragene Kritik der betrieblichen Realitäten werden können" (Schumann 2001, S. 6). Hier ist im Wesentlichen das Potenzial der Protagonisten der neuen Produktionskonzepte zu finden. Erweitert werden ihre Reihen noch von Beschäftigten aus den Sektoren der Dienstleistungs- und Informationsökonomie – die "Modernisierungsmacher"; allerdings weniger in ihrer konkreten Arbeitsrolle, in der sich der flexible Wissensarbeiter als weitgehend selbstverantwortlich sieht. "Allenfalls ein, am politischen Programm der Aufklärung festhaltendes gesellschaftliches Selbstverständnis macht Einzelne aus diesem Segment auch für gewerkschaftlich definierte ›Gemeinschaft‹ und gemeinsame Aktion ansprechbar" (S. 112f.). VI.
Die Herausarbeitung einer politischen Synthese, eines die Segmentierungsprozesse überwindenden pluralistischen politischen Projekts kann durch die Entwicklung eines neuen Arbeitsbewusstseins fundiert werden. Das Zukunftsprojekt – daran lässt Schumann keinen Zweifel – heißt weiterhin Befreiung in der Arbeit, nicht von ihr. Aber dieses Projekt ist für Gewerkschaften, Parteien und politische Bewegungen voraussetzungsvoller denn je. Damit wird ein weiteres Mal unterstrichen, dass kritische Industriesoziologie in einer Theorie gesamtgesellschaftlicher Rationalität zu verorten ist, um Aufklärung und Orientierung gerade in "unübersichtlichen" Zeiten leisten zu können. Denn allen alten und neuen Anwandlungen zuwider, Arbeit als gesellschaftliche Schlüsselkategorie für antiquiert zu erklären und damit die Voraussetzung für eine integrale Gesellschaftstheorie "wahrscheinlich auf Dauer" aus den Augen zu verlieren (Honneth 2002), geht es entscheidend darum, die zivilisatorischen Tendenzen der kapitalistischen (Arbeits-)Gesellschaft zu dechiffrieren und die Ansatzpunkte dafür, die Heteronomie der Arbeit zurückzudrängen, politikfähig zu machen. Ein gesamtgesellschaftliches Demokratisierungsprojekt, das nicht durch eine Zurückdrängung der Entfremdung der Arbeit fundiert ist, kann es nicht geben. Gerade in der gegenwärtigen Situation tiefgreifender sozioökonomischer Umbrüche wäre die theoretische und politische Verabschiedung aus der "Zukunft der Arbeit" ein Anachronismus. Viel spricht für die Erwartung Schumanns von einer "Renaissance der Industriesoziologie, weil wir uns wieder an einem gesellschaftlichen Wendepunkt befinden, in dem Arbeit re-thematisiert wird" (S. 162). Gerade weil die Renaissance der Industriesoziologie aus den Transformationsprozessen der Arbeit und der sozioökonomischen Verhältnisse selbst erwächst, ist die analytisch-theoretische Verständigung eine der Bedingungen, in Zeiten umfassender gesellschaftlicher Turbulenzen Zukunftspfade zu identifizieren. Literatur
Adorno, Theodor W. (1952/1972): Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung, in: Gesammelte Schriften Band 8, Frankfurt a.M., S. 478-493.
Hobsbawm, Eric (2000): Das Gesicht des 21. Jahrhunderts, München/Wien.
Honneth, Axel (2002): Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt a.M.
Kern, Horst/Schumann, Michael (1970): Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein. Eine empirische Untersuchung über den Einfluss der aktuellen technischen Entwicklung auf die industrielle Arbeit und das Arbeiterbewusstsein. Frankfurt a.M.
Dies. (1984): Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion, München.
Schumann, Michael (2001): Ausgrenzung statt Solidarität? Auswirkungen von neuer Arbeitspolitik in der Industrie, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 2, Hamburg. [*] Mitarbeiter des VSA-Verlages und der Wissenschaftlichen Vereinigung für Kapitalismusanalyse und Gesellschaftspolitik (Wissentransfer). Klaus Peter Wittemann hat dankenswerterweise an der Diskussion des Vorworts mitgewirkt und wichtige Anregungen gegeben.

Inhalt:

Vorwort

Kontinuität oder Pfadwechsel –
Was wird aus den neuen Produktionskonzepten?


Das Ende der Arbeitsteilung?
Die Produktionskonzepte aus ihrer privatistischen Verengung heraustreiben – Überlegungen zu einer Politik der Modernisierung
Produktionsarbeit – Bleiben die Entwicklungstrends stabil?
Frisst die Shareholder-Value-Ökonomie die Modernisierung der Arbeit?

Arbeitspolitik und Arbeitsbewusstsein


Industriearbeit zwischen Entfremdung und Entfaltung
Was bleibt von der Arbeitersolidarität?
Zum Arbeits- und Betriebsverständnis bei innovativer Arbeitspolitik
Das Lohnarbeiterbewusstsein des "Arbeitskraftunternehmers"

Sozialstruktur – Qualifikation – Solidarität


Sozialstrukturelle Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Solidarität
Struktureller Wandel und Entwicklung der Qualifikationsanforderungen

Kritische Industriesoziologie – Verortung und Aufgaben


Kritische Industriesoziologie – theoretische Anknüpfungspunkte, exemplarische Befunde, neue Aufgaben
Das Ende der kritischen Industriesoziologie?
Textnachweise

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