Marxismus und Politik
248 Seiten | 2004 | EUR 18.00 | sFr 32.10
ISBN 3-89965-042-5 1
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Kurztext: Uwe-Jens Heuer will mit dem Rückgriff auf den Marxismus ein Angebot machen, die hinter den äußerlichen hin- und herwogenden Kämpfen wirksamen Tendenzen, vielleicht sogar Gesetzmäßigkeiten aufzudecken.
Nicolo Machiavelli gilt noch heute als Ratgeber für Politik. Ein wichtiger Lehrsatz: "Es kann und darf ein kluger Fürst sein Wort nicht halten, wenn es für ihn von Nachteil ist und wenn die Gründe wegfallen, die ihn zu seinem Versprechen bestimmt haben."
WählerInnen konstatieren, dass PolitikerInnen heute für eine, morgen für eine entgegengesetzte Position argumentieren. Vor allem müssen sie immer wieder erleben, dass nach der Wahl anders gehandelt als vor der Wahl versprochen wird.
Müssen wir den Machtsinn der PolitikerInnen akzeptieren? Ist politisches Handeln möglich, das sich nicht opportunistisch auf die Regeln des Machterwerbs und der Machterhaltung reduziert, sondern dem es wirklich um das Wohl des Gemeinwesens geht?
Heuers These: Nur wenn der Blick auf die ganze Gesellschaft in ihrer konkreten widersprüchlichen Wirklichkeit gerichtet ist, wenn eine auf ihre Veränderung gerichtete gesellschaftliche Praxis unterstützt wird, nur dann entgehen wir der Falle des Eingeschlossenseins in eine Realpolitik, die auf Rechtfertigung des Bestehenden hinausläuft, einerseits bzw. eines abstrakten moralischen Maßstabes andererseits, der nur auf die subjektive Moral der PolitikerInnen zielt.
Der Marxismus ist als theoretische Bewegung mit der sich verändernden Welt verknüpft, antwortet auf sie, korrigiert seine Antworten. Er steht nicht nur in Auseinandersetzung mit der Welt, auf deren praktische Veränderung er zielt, sondern stets auch in innerer Auseinandersetzung.
Der Autor:
Uwe-Jens Heuer war 40 Jahre lang Rechtswissenschaftler in der DDR, nach der Wende zunächst Volkskammerabgeordneter und dann acht Jahre lang Bundestagsabgeordneter für die PDS.
Leseprobe 1
Einleitung
Der Ruf der Politiker ist schlecht. Ich meine darüber hinaus, dass er in den letzten zehn Jahren weiter gelitten hat. Auch dabei gibt es Unterschiede zwischen Ost und West. Die Westdeutschen reagieren auf neue Skandale eher zynisch. Die Ostdeutschen stellen immer noch die Frage: Das kann doch nicht wahr sein? Als ich 1990 im Deutschen Bundestag anfing, wurde ich wenig später zu einer Sendung des "Heißen Stuhls" eingeladen. Diesen Stuhl nahm Georgia Tornow ein. Sie wollte die Behauptung verteidigen: "Politiker lügen aus Prinzip." Ich versuchte damals, das gegen die Journalisten zu wenden und ihnen ein derartiges Vorgehen anzukreiden. Heute meine ich, dass die Politiker im Wesentlichen an ihre eigenen Vorurteile glauben und nur dann vom Gegenteil überzeugt werden können, wenn es um handgreifliche Interessen geht. Ich habe das oft genug im Rechtsausschuss des Bundestages gemerkt, wenn wir etwa über die DDR diskutierten. Man ist ja auch viel überzeugender, wenn man an die eigenen Thesen glaubt. Schließlich wird vom Politiker erwartet, dass er zu allem etwas zu sagen hat. Und wenn er selbst sich mit einer Frage nicht gründlich befasst hat (auch sich meist nicht befassen konnte), dann trägt er eben das allgemein Behauptete oder ihm von seiner Partei Vorgegebene mit der nötigen Überzeugung vor. Tatsächlich aber sind die persönlichen Motive der Politiker, ist ihre subjektive Ehrlichkeit für ihr Bild in der Öffentlichkeit nicht entscheidend. Die Wähler konstatieren einfach immer wieder, dass die Politiker heute so, morgen so argumentieren. Vor allem müssen sie immer wieder erleben, dass nach der Wahl anders gehandelt als vor der Wahl geredet wird. Schon Bismarck hatte süffisant bemerkt, dass nie so viel gelogen werde wie vor den Wahlen, während des Krieges und nach der Jagd. Im Wahlkampf 2002 waren generell beide Seiten bemüht, einander möglichst ähnlich zu sein, nach dem Motto, wer sich zuerst bewegt, hat schon verloren. Das ging so weit, dass ihre Berater bei einer der beiden Fernsehdebatten beiden Kandidaten zu demselben Schlips geraten hatten. Dabei muss ich gestehen, dass dieses nicht mir, sondern meiner lieben Frau aufgefallen ist. Auch die gesamte Begleitmusik zur Fernsehshow war auf die Frage abgestimmt, wer war sympathischer. Die einzige – gewollte, klar konzipierte und dann auch erfolgreiche – Abweichung war die Erklärung Schröders zum US-amerikanischen Kriegsvorhaben gegen Irak. Die Politik wird gleichsam zu einem ewigen Fußballspiel, bei dem alle fachmännisch beurteilen sollen, ob der Kandidat etwas "gut rübergebracht" hat. Man soll sich nicht fragen, was wird er tun, was kann er überhaupt tun, sondern nur, wie war er heute? Damit war nach US-amerikanischem Vorbild eine neue Stufe der Personalisierung des Wahlkampfes erreicht. Allerdings handelt es sich in den USA bei der Präsidentenwahl tatsächlich um die Entscheidung zwischen zwei Einzelpersonen. In Deutschland dagegen wurde nicht der Kanzler, sondern das Parlament gewählt. Zu den amerikanischen Verhältnissen hatte ein früher Kritiker, Neil Postman, bereits 1985 in seinem Buch "Wir amüsieren uns zu Tode" sarkastisch angemerkt, im Zeitalter des Fernsehens und der Talkshows könne ein dicker Mann nicht mehr Präsident sein. Auch Denken komme auf dem Bildschirm nicht an: "Denken ist keine darstellende Kunst." Der Zuschauer, also der Wähler, also jeder von uns ist in einer zwiespältigen Situation. Er möchte, dass im Fernseher etwas geschieht, er ist an "action" gewöhnt, er erwartet sie also auch in den politischen Sendungen. Und der Zuschauer meint zugleich, alles zu durchschauen, etwa so wie beim Fußball, wenn ein Spieler sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hinwirft, und dann, wenn der "Schädiger" nicht die gelbe Karte erhält, frohgemut aufsteht und weiterspielt. Am Schluss bleibt eine weitgehend negative Bilanz für alle Politiker. Die Politiker ordnen sich immer mehr den Gesetzen des Fernsehens unter. Sie kochen bei Biolek, sie drängen sich in die Talk-Shows, selbst ein Besuch im Big-Brother-Container wird nicht verschmäht. Ich halte es nicht für richtig, die heutige Gesellschaft als Mediengesellschaft zu bezeichnen. Einmal gibt es Medien, also kommunikative Vermittlungen, in jeder Gesellschaft. Zweitens bewirken Veränderungen im Medienbereich keine grundlegenden Veränderungen im Bereich der politischen Gesamtstruktur und des Eigentums. Andererseits hat der Übergang von Zeitung und Buch auf das Fernsehen, vom Text auf das Bild doch Wesentliches verändert. Bilder sind unwiderstehlicher als Texte. Man kann sie nicht noch einmal genauer überprüfen oder vergleichen. Ich erinnere mich noch daran, wie der damalige Außenminister Kinkel im Bundestag immer wieder auf das Fernsehen verwies: "Wir haben doch gestern abend die Bilder gesehen" und daran seine Forderungen in Bezug auf harte Maßnahmen knüpfte. Weniger glücklich als "Schauspieler" war dann Rudolf Scharping in ähnlicher Mission für die neue Regierung. Die zunehmende Personalisierung der politischen Debatte ist also die eine Tendenz der gegenwärtigen Entwicklung. Alles wird zum Personenstreit oder erscheint als solcher. Gerhard Schröder gegen Edmund Stoiber, George W. Bush erst gegen Bin-Laden, dann gegen Saddam Hussein, Guido Westerwelle gegen Jürgen W. Möllemann und in der PDS Dietmar Bartsch und Gregor Gysi gegen Gabi Zimmer, dann Lothar Bisky mit Gregor Gysi und Gabi Zimmer gegen Dieter Dehm und Uwe Hiksch. Immer stehen Lichtgestalten gegen Schurken, wobei das Publikum seine Sympathien häufiger umverteilt, aber schon damit in die Sympathiefalle läuft. Die zweite Tendenz ist die Reduzierung der Inhalte auf einfachste Kampfbegriffe. Für die heutige politische Auseinandersetzung genügt meist das Begriffspaar Demokratie contra Diktatur. Da die Vereinigten Staaten unbestritten ein bürgerlich-parlamentarisches politisches Regime haben und der Irak ebenso unbestreitbar nicht, ist das moralische Recht auf ihrer Seite, dürfen sie einen Angriffskrieg führen. Dabei fällt selten das Wort Angriffskrieg, wird es meist durch die Formulierung Militärschlag ersetzt. Die gegen Russland kämpfenden Tschetschenen sind Rebellen, andere islamische Kämpfer heißen dagegen Terroristen. Warum und in wessen Interesse jemand kämpft, wird selten nachgefragt. Gleiches gilt für die sog. Vergangenheitsbewältigung. Da war die DDR ein Unrechtsstaat, bestimmte schwerwiegende Vorgänge wie der 17. Juni 1953 oder der Mauerbau von l961 werden aus allen geschichtlichen Zusammenhängen gerissen und moralisch verurteilt, Gleichartiges oder viel Schlimmeres von Seiten eines Rechtsstaates dagegen verschwiegen oder als durch die jeweilige Lage gerechtfertigt dargestellt. Dabei erwächst die Wirkungskraft solcher Darstellungen aus ihrer unablässigen Wiederholung, ohne jede Vertiefung. Schon im Parlament war es kaum möglich, eine wirkliche Diskussion zu erreichen. Ich hatte gewöhnlich fünf, maximal zehn Minuten Redezeit. Das machte die Darstellung komplizierter Vorgänge fast unmöglich. Die Redner bezogen sich höchst selten auf einen anderen Beitrag oder nur in polemischer Form. Nicht der Inhalt, sondern die Art und Weise der Darstellung entscheidet, vor allem, wenn Fernsehübertragung angesagt war. Hier sprachen manche ganz offen die Zuschauer an, war auch der Kampf um Redezeiten in den Fraktionen, auch der PDS-Fraktion, am stärksten. Die dabei gebotenen Möglichkeiten waren aber natürlich noch viel größer als das Rederecht im Normalfernsehen, wo eine Minute Redezeit schon viel ist. Das Bild der Politiker wird auch durch immer wieder aufkommende Skandale geprägt. Auch hier spielen die USA eine Vorreiterrolle. In den letzten Jahren war der Watergate-Skandal für den republikanischen Präsidenten Nixon tödlich, der Monika-Lewinsky-Skandal hätte Gleiches beinahe für den Demokraten Clinton bewirkt. In beiden Fällen ging es um die persönliche Moral der betreffenden Politiker. Nun glaube ich nicht, dass die persönliche Moral der Politiker schlechter ist als etwa die der Unternehmer. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass die Politiker ständig zur Selbstdarstellung gezwungen sind. Die damit verbundene Eitelkeit, das machtorientierte Vorgehen, die bis zur Bösartigkeit gehenden Angriffe, die geführt und ertragen werden, ich erinnere nur an die Art und Weise, wie der einstige "Freund" Möllemann von Westerwelle verfolgt wurde, die Unfähigkeit zu wirklicher Freundschaft, das alles sind nicht persönliche Schwächen, sondern Gefährdungen, Auswirkungen eines Berufs. Dass die in den Aufsichtsräten und Vorständen Sitzenden persönlich angenehmer sind, ist kaum zu vermuten. Aber sie sind nicht gleichzeitig Selbstdarsteller in der Öffentlichkeit. Es gibt wohl keinen zweiten Berufsstand, der neben seiner Arbeit, nein, genauer: als Bestandteil seiner Arbeit sich selbst öffentlich ausstellen und loben muss. Damit schlägt immer wieder die Stunde der Moral, wobei die Wähler für eine Weile davon beeindruckt sind, wenn einmal eine Partei besonders tief im Sumpf vermutet wird, wie etwa die CDU nach der Kohl-Affäre. Im Ganzen aber nehmen sie wohl an, dass überall nur mit Wasser gekocht wird. Warum auch sollen an teuren Müllverbrennungsanlagen interessierte Unternehmer nur in Städten einer Parteirichtung ihr Glück in Bestechungen suchen? Die Bücher Hans Herbert von Arnims mit Titeln wie "Demokratie ohne Volk", "Der Staat als Beute", "Staat ohne Diener", "Der Staat sind wir!" und zuletzt 2001 "Das System. Die Machenschaften der Macht" geben einer diffusen Politikerkritik ihre Stimme. Die aus alledem resultierende Politik- oder genauer Politikerverdrossenheit spiegelt sich auch in Umfragen wider. So rangierten 1997 in der Gunst der befragten Jugendlichen in Ost und West Greenpeace und Bürgerinitiativen ebenso wie das Bundesverfassungsgericht, die Polizei und die Gerichte mit 48 bis 64% erheblich vor dem Bundestag (mit 37% im Westen und 31% im Osten), der Bundesregierung (29% bzw. 28%) und erst recht den Parteien (21% bzw. 13%). Ähnlich entschieden Ost- bzw. Westberliner bei einer Befragung 2000. Sie schenkten volles Vertrauen der Polizei zu 35 bzw. 58%, den Gerichten zu 22 bzw. 43%, der Bundesregierung zu 13 bzw. 27%, dem Bundestag zu 10 bzw. 24% und dem Abgeordnetenhaus zu 7 bzw. 16%.[1] Alarmierend ist, dass wir dasselbe Bild bei den Jugendlichen haben, mit zum Teil noch stärkeren Auswirkungen. Nach der Shell-Jugendstudie 2002 bringen die Jugendlichen das größte Vertrauen staatlichen Organisationen entgegen wie den Gerichten oder der Polizei, die als parteipolitisch unabhängig angesehen werden. "Negativ ist hingegen die Beurteilung der klassischen politischen Institutionen, wie etwa der Parteien selber oder der Bundesregierung, denen die Jugendlichen mit deutlichem Misstrauen begegnen". Das gelte für den Osten noch stärker. Bei fast allen Landtagswahlen, für die Ergebnisse vorliegen, seien die Jungwähler von 18-24 Jahren um die 25% weniger zur Wahl gegangen als die Gesamtbevölkerung.[2] Sicherlich gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem Politikerbild und dem schrittweisen, zuweilen sogar radikalen Rückgang der Wahlbeteiligung generell. In den USA beträgt die Wahlbeteiligung gegenwärtig durchschnittlich 50%, bei den nicht nur das Schicksal der USA beeinflussenden Präsidentenwahlen am 4. November 2000, die George W. Bush an die Macht brachten, waren es 50,7%. In der Bundesrepublik nahm der Anteil der Nichtwähler von 8,9 % im Jahre 1972 bis 1990 auf 22,2% zu, ging dann bis 1998 auf 17,8% zurück und stieg 2002 wieder auf 22,4% an. Die Wahlniederlage der PDS war zu einem großen Teil auf den Verlust von 442 000 Stimmen an das Nichtwählerlager zurückzuführen. Bei den bayerischen Landtagswahlen vom 21.9.2003 ging die Wahlbeteiligung von 69,8% 1998 auf 57,1% zurück, in den brandenburgischen Kommunalwahlen vom 26.10.2003 gegenüber 1998 sogar von 77,9% auf 45,8%, wobei alle Parteien verloren, am meisten die SPD als Regierungspartei. Woran liegt das hier skizzierte Verhalten der Politiker, wenn wir es denn nicht einfach mit persönlicher Schlechtigkeit erklären wollen? Ich habe von 1990 bis 1998 unter Abgeordneten, zunächst der letzten Volkskammer der DDR und dann im Deutschen Bundestag gelebt, ihr Handeln beobachten können und müssen und auch einiges darüber gelesen. Meine Hauptschlussfolgerung ist, dass für den Politiker – auch im Unterschied zum Wissenschaftler – der Kampf um persönliche Macht, um die Stärkung des eigenen Einflusses auf Politikbereiche, oder sogar auf die Politik des Staates als Ganzes nicht nur Mittel, sondern gleichzeitig auch Zweck ist. Das hat zunächst mit Moral gar nichts zu tun. Es ist so, dass man politische Ziele nicht ohne politische Macht erreichen kann, dass man sie also, entsprechend den Regeln des jeweiligen Systems, anstreben muss, wenn man in der Politik etwas bewirken will. Ein System, das sich um Macht dreht, braucht Menschen, die persönlich auch Macht für sich wollen. So wie ein Unternehmer nach Profit streben muss, nicht weil er ein schlechter Mensch ist, sondern weil die Konkurrenz ihn dazu zwingt, so muss ein Politiker nach persönlicher Macht streben, in den eigenen Reihen und gegenüber dem politischen Gegner. Man kann sich über die Mittel dann streiten, hier unterschiedliche Maßstäbe anlegen, man kann auch in Frage stellen, ob es zu rechtfertigen ist, in einem bestimmten System nach Macht zu streben, aber diesen Zusammenhang selbst kann man wohl nicht leugnen. Wer sich im System der Politik betätigt, ist seinen Gesetzen unterworfen. Es bekommen nicht alle Macht, die sie haben wollen, aber wer keine Macht haben will, der bekommt sie gewiss nicht. Der Kampf um die Durchsetzung der Ziele und die Erweiterung der dazu notwendigen persönlichen Macht verschmelzen aber immer mehr und wechseln die Rangfolge, je länger die Macht ausgeübt wird. Für den Politiker selbst verschwimmt immer stärker die Grenze zwischen den Interessen, denen er dienen will, und seinem Interesse am Erhalt und Ausbau der eigenen Macht. Dabei sollte allerdings zwischen den wirklich großen Politikern unterschieden werden, die große langfristige Ziele besitzen, nicht für jeden Schwenk zu haben sind, und dem "politischen Fußvolk". Nach Art. 38 des Grundgesetzes sind die Abgeordneten "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Tatsächlich aber ist das Funktionieren nicht nur der Regierung, sondern ebenfalls, wenn auch in schwächerem Umfang, der Opposition an die Stabilität, also Vorhersehbarkeit, der Entscheidungen der Fraktionen gebunden. Diese Stabilität wird durch politischen Druck und durch die Drohung der Nichtwiederaufstellung bei den nächsten Wahlen bzw. anderer karrierehemmender Maßnahmen durchgesetzt. Das ist bei Listenwahl wirksamer als bei denjenigen Abgeordneten, die ein Direktmandat errungen haben. Im Ergebnis wird die Stabilität der Regierung durch diesen Fraktionszwang gewährleistet, der um so rigoroser sein muss, je knapper die Mehrheit der jeweiligen Bundesregierung ist. Die Leugnung eines Fraktionszwanges wird schon dadurch widerlegt, dass bei bestimmten Entscheidungen offen von der Aufhebung eines solchen Zwanges die Rede war. Das galt beispielsweise bei den Entscheidungen über die Bioethikkonvention, über die deutsche Hauptstadt, über die Verhüllung des Reichstages oder über das Schicksal des Palastes der Republik der DDR. Das alles waren Entscheidungen, bei denen die Meinungsverschiedenheiten quer durch die Parteien gingen. Bei der Zustimmung zu Kriegseinsätzen, die doch wirklich eine Gewissensentscheidung größten Gewichts war, wurde dagegen alles an Überzeugungsmitteln angewandt, was nur zu Gebote stand. Die Abstimmung am 16. November 2001 wurde von Schröder mit der Vertrauensfrage verbunden. Die Dissidentenminderheit bei Bündnis 90/die Grünen teilte sich auf, um den Bestand der Regierungsmehrheit nicht zu gefährden. Ich erinnere mich daran, dass auch in der PDS-Bundestagsgruppe Gregor Gysi in Vorbereitung einer Abstimmung am 5.3.1998 auf Wunsch der SPD mit großen Nachdruck darauf drängte, der Entscheidung des Vermittlungsausschusses und damit dem großen Lauschangriff in leicht abgeschwächter Form zuzustimmen. Er ließ übrigens wiederholt durchblicken, dass bei einer etwaigen Regierungsbeteiligung ein anderes Verhältnis zum Fraktionszwang einziehen müsse. Es handelt sich hier, um das noch einmal zu betonen, nicht um moralische Bewertung, sondern um das Beschreiben und Erklären des Verhaltens von Politikern, speziell von Abgeordneten. Es geht bei Abgeordneten und mehr noch bei Ministern – mit ihrer Funktion ist mehr Macht und zugleich mehr Einbindung verbunden – letzten Endes um kollektive Machterhaltung bei gleichzeitiger Erhaltung und möglichst Verstärkung des Wähleranteils. Insofern können die internen Auseinandersetzungen in den Parlamentsfraktionen immer auch Ausdruck unterschiedlicher Sichtweisen auf die Auswirkungen auf die nächsten Wahlen sein. Der einzelne Abgeordnete ist bestrebt, seine eigene Wählerbasis (vor allem bei Direktkandidaten) zu festigen und zugleich zum gemeinsamen Sieg, sei es bei den kleineren Parteien bei der Überwindung der 5% Klausel oder bei den großen Parteien beim Erringen der Regierungsmacht, beizutragen. Dieser Zusammenhang führt auch dazu, dass manche gewichtige Kursänderungen eine bestimmte Zeit erfordern. Die Wähler – und auch widerständige Abgeordnete – werden in diesem Fall Schritt für Schritt an bestimmte Wendungen herangeführt. Die Neuwähler aus der DDR haben sich an diese Methode erst gewöhnen müssen. In der DDR waren sie es gewohnt, dass Wendungen angekündigt und dann durchgeführt wurden. Versuchsballons waren für sie eher ungewohnt. Für mich war das deutlichste und zugleich historisch gewichtigste Beispiel für einen solchen Vorgang von 1993 bis zur Überschreitung des Rubikons 1998 die Vorbereitung des kriegerischen Einsatzes deutscher Truppen nicht zur Verteidigung des Bundesgebietes (gemäß Art. 87 a GG), sondern zur Führung eines nach Art. 26 GG verbotenen Angriffskrieges. Viele Abgeordnete sind resigniert. Der Schriftsteller und SPD-Bundestagsabgeordnete Dieter Lattmann schreibt in seinen Erinnerungen über seine parlamentarische Arbeit: "Der tolerante Politiker, der den Gebrauch der Macht zum Wohl der Allgemeinheit zügelt und sich dadurch als Demokrat qualifiziert, ist bislang keine die Mehrheit überzeugende Figur". Richard von Weizsäcker, der es ja wissen muss, charakterisiert den deutschen Berufspolitiker, so wie er vom politischen System hervorgebracht wird, mit den Worten: "Bei uns ist ein Berufspolitiker im allgemeinen weder ein Fachmann, noch ein Dilettant, sondern ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft."[3] Nach alledem ist es kein Wunder, dass viele Wähler ihre Vertreter mit Misstrauen betrachten. Sie wollen eine Politik, die ihre – im Übrigen natürlich höchst unterschiedlichen – Interessen vertritt, spüren aber, dass die Entscheidungen auf ganz andere Weise zustande kommen. Immer wieder hören sie von Einflüssen, die auf Politiker genommen werden. Sie hören und lesen, wie eine Partei der anderen Korruption vorwirft. In den Versprechungen der Politiker wird ihnen große, ja Allmacht unterstellt, in den Abrechnungen ist dann wieder von Sachzwängen die Rede. Immer lauter werden die Stimmen, die jegliche Weltveränderung in Frage stellen, Weltverbesserer für Prinzipienreiter und Ideologen erklären. Zwischen Politik und Ideologie oder Weltanschauung wird eine grundsätzliche Barriere errichtet. Die Wähler stehen scheinbar nur vor einer Alternative: Den Kampf der Politiker um persönliche Macht zu akzeptieren und ihre Wahlentscheidung auf dieser Grundlage zu fällen, und trotzdem auf Besserung zu hoffen durch andere Leute, denen sie eigentlich ebensowenig trauen, oder die Politiker an moralischen Ansprüchen zu messen und entsprechende Auseinandersetzungen auf dem Boden der Moral zu führen oder jedenfalls zu unterstützen. Die erste Position hatte Max Weber eingenommen, als er Politik als "Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung" charakterisierte und der Verantwortungsethik des wirklichen Politikers die gesinnungsethischen Verfechter der Bergpredigt, der Wahrheitspflicht gegenüberstellte, diejenigen, die nicht nach den Folgen ihres Tuns fragen und die ethische Irrationalität der Welt nicht ertragen können.[4] Damit stehen wir vor einer gleichsam ausweglosen Alternative, den Machtsinn der Politiker zu akzeptieren, wie ihn einst wohl unübertrefflich Nicolò Machiavelli in seinem "Fürst" charakterisierte: "Es kann und darf ein kluger Fürst sein Wort nicht halten, wenn es für ihn von Nachteil ist und wenn die Gründe wegfallen, die ihn zu seinem Versprechen bestimmt haben"[5] oder ihm eine ewige Moral entgegen zu halten. Beides gibt denen, die mit dieser Welt nicht zufrieden sind, für ihre Verbesserung eintreten, wenig Hoffnung. Ich sehe einen Ausweg nur darin, die Bestimmungskräfte der Politik außerhalb ihrer zu suchen. Solange wir uns auf die "reine" Politik beschränken, gibt es tatsächlich nur diese beiden Positionen. Wenn nur von politischer Macht gesprochen wird, die Auseinandersetzungen der Politiker um Macht, um Machtanteile nicht nach tieferliegenden Triebkräften befragt werden, entgehen wir dieser Fragestellung nicht. Gibt es solche Triebkräfte, sind sie den Politikern bewusst oder nicht, kann es einen Typ des Politikers geben, der sich dieser Triebkräfte bewusst ist, welche Fronten ergeben sich dann? Wolfgang Abendroth, bedeutender Politik- und Verfassungswissenschaftler der alten Bundesrepublik, sprach in diesem Zusammenhang von wissenschaftlicher Politik, die von einer umfassenden Theorie der Gesellschaft ausgeht, Oskar Negt von einer Politik, die sich nicht opportunistisch "auf die Regeln des Machterwerbs und der Machterhaltung" reduziert, sondern der es um das "Wohl des Gemeinwesens" geht.[6] Nur wenn der Blick auf die ganze Gesellschaft in ihrer konkreten widersprüchlichen Wirklichkeit gerichtet, wenn eine auf ihre Veränderung gerichtete Praxis unterstützt wird, nur dann entgehen wir der Falle des Eingeschlossenseins in eine "Realpolitik", die auf Rechtfertigung des Bestehenden hinausläuft einerseits bzw. eines abstrakten moralischen Maßstabes, der nur auf die subjektive Moral der Politiker zielt, andererseits. Einen solchen Blick hat Karl Marx eröffnet. Er hat vor 160 Jahren genau diese Frage nach den Triebkräften der Politik gestellt, in einer ganz anderen Zeit natürlich, im Aufwind der bevorstehenden Revolution von 1848. 100 Jahre später nahm ich im Osten Deutschlands an einer staatlichen Neugestaltung teil, die sich auf Marx bezog. Wir leben heute in einer Zeit, in der weniger künftige Revolutionen, sondern vor allem gegenwärtige und künftige Kriege und restaurative Offensiven der Herrschenden das Gesicht der Epoche bestimmen, in der allenthalben der Ruf: Marx ist tot, erschallt. Ich will versuchen, seine Antworten aus der damaligen Zeit abzuleiten, sein Gedankensystem in den Grundzügen und auch weitere Überlegungen von Marxisten darzustellen. Es ist in einer solchen Einführung nicht möglich, die Literatur über Marx, Engels und andere Marxisten, die inzwischen ganze Bibliotheken umfasst, vorzustellen. Vielmehr sollen die Autoren selbst zu Worte kommen, auch damit die Leserinnen, die Leser das Vergnügen an der Marxschen Sprach - und Denkkraft kennen lernen. Es kann aber auch nicht um einen einfachen Rückgriff auf Marx gehen, was er denn wirklich gesagt habe, wie dies 1968 Ernst Fischer unter Mitarbeit von Franz Marek und kürzlich Wolfgang Leonhard[7] vornahmen als Reaktion auf die marxistisch-leninistische Orthodoxie und deren Ableitung gegenwärtigen politischen Handelns unmittelbar aus Aussagen der "Klassiker". Der Marxismus ist zu einer theoretischen Bewegung geworden, die mit der sich verändernden Welt verknüpft war und sein muss, auf sie auch widersprüchliche Antworten gab und weiter geben wird. Ich habe mich bemüht, diese Reichhaltigkeit wiederzugeben. Das schließt die Herstellung einer richtigen Linie, von der jeweils nach rechts oder links abgewichen wurde, aus. Will man die heutige Welt marxistisch analysieren – und darum geht es ja letztlich –, so muss an diese Reichhaltigkeit – kritisch natürlich – angeknüpft werden. Ich will damit ein Angebot machen, mit Hilfe des Marxismus hinter den äußerlichen hin- und herwogenden politischen Kämpfen Tendenzen, vielleicht sogar Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Auch das ist nicht unbedingt zeitgemäß. Ob die damit möglichen Antworten uns heute noch nützlich sein können, muss die Leserin, muss der Leser selbst beurteilen. Es ist aber jedenfalls das Anliegen, um dessentwillen dieses Buch geschrieben wurde. [1] W. Gaiser, M. Gille, W. Krüger, J. de Rijke, Politikverdrossenheit in Ost und West. Aus Politik und Zeitgeschichte, Das Parlament, Beilage 5.7.2000, 17; Berliner unterscheiden sich in den Werten nach Ost und West, Neues Deutschland vom 15./16.12. 2001.[2] Vgl. Jugend 2002, Frankfurt am Main 2002, 105-107.
[3] D. Lattmann, Die Einsamkeit des Politikers, München 1977, S. 162; R. v. Weizsäcker im Gespräch mit G. Hofmann und W. A. Perger, Frankfurt/Main 1992, 150. Vgl. zu diesem Thema allgemein U.-J. Heuer, Im Streit. Ein Jurist in zwei deutschen Staaten, Baden-Baden 2002, 11. Kapitel: Was sind Politiker für Menschen (S. 481-516), und die dort angegebene Literatur.
[4] Max Weber, Politik als Beruf, Gesamtausgabe. Abteilung 1, Bd. 17, Tübingen 1992, 159, 227-234.
[5] N. Machiavelli, Der Fürst, Leipzig 1976, 18. Kapitel, wie die Fürsten ihr Wort halten sollen, 71. Vgl. dazu F. Deppe, Niccolò Machiavelli, Zur Kritik der reinen Politik, Köln 1987.
[6] W. Abendroth, Das Problem der Beziehungen zwischen politischer Theorie und politischer Praxis in Geschichte und Gegenwart der deutschen Arbeiterbewegung, in: W. Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied 1967, 364.
[7] E. Fischer unter Mitarbeit von F. Marek, Was Marx wirklich sagte, Wien-Frankfurt-Zürich 1968. W. Leonhard, Die unbekannten Klassiker, Marx und Engels in der DDR, Deutschland Archiv Heft 7 (1995), 709.
Inhalt:
Einleitung
Erstes Kapitel
Die kopernikanische Wende von Marx und Engels
Zweites Kapitel
Der naturgesetzliche Gesamtprozess des Kapitalismus und sein Januskopf
Drittes Kapitel
Was bleibt der Politik?
Viertes Kapitel
Der Streit der Schüler
Fünftes Kapitel
Der große Ausbruch
Sechstes Kapitel
Neuer Anlauf und Ende
Siebentes Kapitel
Die neue Epoche und der Imperialismus
Achtes Kapitel
Die Gegenkräfte
Personenregister