Lernwiderstände
Anlässe für Vermittlung und Beratung
Eine Initiative von verdi, IG Metall und GEW
208 Seiten | 2006 | EUR 12.80 | sFr 23.20
ISBN 3-89965-150-2 1
Titel nicht lieferbar!
Kurztext: Als Ausgangspunkt für Beratungs- und Vermittlungsansätze wird in diesem Buch die Frage, warum wir Widerstände gegen das Lernen entwickeln, behandelt und darauf aufbauend versucht, das Lernen wieder positiv zu konnotieren.
Weiterbildung ist trotz der Debatten über "Lebenslanges Lernen" keineswegs für alle selbstverständlich oder gar bei allen beliebt. Unterstützung durch Lernzeiten und Lerngelder reichen nicht aus. Lernwiderstände sind berechtigt, wenn nicht zu erwarten ist, dass die Lernenden von ihren Anstrengungen Vorteile haben oder ihnen sogar Nachteile drohen.
Den AutorInnen geht es darum, Gründe für Lernwiderstände aufzudecken, also bewusst zu machen, wo diese herkommen. Zudem haben sie unterm Strich ein positives Bild vom Lernen. Sie wollen Möglichkeiten aufzeigen, mit denen Lernen Lebensfreude zu gewinnen hilft. In diesem Sinne der Entfaltung schließt ihr Lernbegriff an den Begriff "Bildung" wieder an. Und sie werfen die Frage nach Lernwiderständen auf, um die Lernenden in den Mittelpunkt zu rücken.
Die HerausgeberInnen:
Peter Faulstich ist Inhaber des Lehrstuhls für Erwachsenenbildung / Weiterbildung an der Universität Hamburg. Mechthild Bayer ist Referentin für Berufsbildungspolitik und Weiterbildung beim ver.di-Hauptvorstand in Berlin.
Leseprobe 1
Peter Faulstich
Lernen und Widerstände
Die seit den 1960er Jahren geführte und seit den 80er Jahren verstärkte gesellschaftliche Debatte um das "lebenslange" Lernen ist vor allem deshalb ein Dauerbrenner, weil allen propagierten "Qualifizierungsoffensiven" und "neuen Lernkulturen" ein harter Befund gegenübersteht: Trotz des im globalen Wissens-Konkurrenzkampf nur mittelmäßigen Abschneidens in den internationalen Kompetenztests bleibt das deutsche, immer noch dreigliedrige Schulsystem Ordnungsvorstellungen des beginnenden 19. Jahrhunderts verhaftet, erodiert das duale Bildungswesen und die Beteiligungsquoten an Weiterbildung gehen zurück, anstatt anzusteigen. Zwischen der offiziellen Proklamation des Lernens und den faktischen Teilhabemöglichkeiten besteht eine Kluft. Institutionen und soziale Strukturen erzeugen Lernschranken und -hemmnisse.
Auch in der eigenen Erfahrung erzeugt "Lernen" zumindest ambivalente Gefühle. Einerseits kann Lernen Spaß machen und Erfolg bringen, anderseits schwingen Angst, Druck, Last, Überforderung, Fremdbestimmung und Anpassung mit. Die Institutionen des Lernens und ihr Personal erzwingen Disziplin bis hin zur Anpassung und zum Strebertum und erzeugen Repression durch Prüfen und Auslesen.
Egal ob am Lernort Schule oder Arbeitsplatz: Beim "lebenslangen Lernen" spielen keineswegs alle mit. Die Zahl der Schulschwänzer ist erheblich, die der Ausbildungsabbrecher steigt, Nicht- oder Nie-Teilnehmende an der Weiterbildung entziehen sich den Lernanforderungen. Sie unterscheiden sich von den Teilnehmern an Weiterbildung zum einen durch fehlende Ressourcen an Zeit und Geld (Belastungssyndrom – siehe dazu den Beitrag von Axel Bolder in diesem Band); zum andern aber auch dadurch, dass sie der Weiterbildung keine entscheidende Bedeutung beimessen. Sie haben keine positiven Erwartung daran, dass sich ihre Arbeits- und Lebensbedingungen nach der Lernanstrengung verbessern (Sinnlosigkeitssyndrom). Insofern zeigen sie eine berechtige Zurückhaltung, da ihnen für sich selbst Begründungen für eine Weiterbildungsteilnahme fehlen – also begründete Lernwiderstände. Sie werden dann als "Benachteiligte" oder gar als "Lernbehinderte" ausgegrenzt.
Dies wirft ein grelles Licht auf die Tatsache, dass die Lernenden letztlich selbst über eine Weiterbildungsteilnahme entscheiden und politische Initiativen, finanzielle und zeitliche Ressourcen sowie strukturelle Prämissen nur Teilhabemöglichkeiten öffnen können. Nutzen können diese nur die Lernenden selbst. Die Initiativen zu "Lernzeiten" (Faulstich 2002) und "Lerngeldern" (Faulstich/Bayer 2005) erarbeiten Positionen und entwickeln Perspektiven für die Gestaltung der Rahmenbedingungen von Weiterbildungsbeteiligung, um Lernhemmnisse und Lernschranken abzubauen. Über die drei Gestaltungsebenen, also gesetzliche, tarifliche und betriebliche Vorgaben und Vereinbarungen, hinaus hängen Lernzugänge aber letztlich ab von der Lernbereitschaft der Individuen selbst. Unterstützung durch Lernzeiten und Lerngelder reicht alleine nicht aus. Sie können die Belastung erleichtern, nicht aber die Sinnhaftigkeit des Lernens deutlich machen oder gar sichern.
Weiterbildung ist also trotz der jahrzehntelangen Debatte über "Lebenslanges Lernen" keineswegs für alle selbstverständlich oder gar bei allen beliebt. Es ist keineswegs so, dass Weiterbildungsteilnahme nur positiv besetzt ist. Wir finden in Betrieben wie in Schulen und Weiterbildungseinrichtungen eine deutliche Zurückhaltung, sodass teilweise vorhandene Lernmöglichkeiten gar nicht ausgeschöpft werden.
Hinter Weiterbildungsabstinenz stehen oft Informations- und Motivationsprobleme. Diese können, wenn kein Nutzen erzielt oder sichtbar wird, berechtigt sein, aber auch auf Unkenntnis und Fehleinschätzungen der eigenen betrieblichen und beruflichen Perspektiven beruhen. Erstens geht es demnach darum, Gründe für Lernwiderstände aufzudecken, sich selbst und anderen bewusst zu machen, wo diese herkommen. Zweitens überwiegt aus gesellschaftlicher Perspektive unterm Strich ein positives Bild vom Lernen in seiner Bedeutung für individuelle Entfaltung, kulturelle Teilhabe und ökonomische Leistungsfähigkeit. Durch Lernberatung können dann Möglichkeiten unterstützt werden, bei denen Lernen und insbesondere Weiterbildung hilft, Entfaltungsmöglichkeiten und Lebensfreude zu gewinnen. Die Bedeutsamkeit des Lernens für die Lernenden selbst rückt dabei in den Mittelpunkt, die Lernenden werden ernstgenommen. Dem folgt der Ansatz einer "subjektorientierten Lernberatung" (vgl. die Beiträge von Ursula Herdt und Wolfgang Wittwer in diesem Band), der ausgeht von Erfahrungen in der Biographie, den erworbenen Kompetenzen und den Interessen der (potentiell) Lernenden selbst, diese aufnimmt in ihrer Situativität und ihnen Reflexion ermöglicht. Eine solche Beratung geht demnach grundsätzlich von den Bildungs-, und Beschäftigungsinteressen der Lernenden, ihren Erfahrungen und Kompetenzen aus (vgl. dazu den Beitrag von Karen Schober und Bernhard Jenschke in diesem Band).
Die EU hat mit Blick auf die Implementierung einer Strategie des "Lebensbegleitenden Lernens" die zentrale Bedeutung von Bildungs-, Berufs- und Beschäftigungsberatung bei der Erreichung wichtiger bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Ziele betont. Beratung soll dabei die eigenverantwortliche Gestaltung des Bildungs- und Berufsweges unterstützen.
Dies wird zunehmend auch eine gewerkschaftliche Aufgabe und ist in verschiedenen Projekten aufgenommen worden (vgl. die Beiträge von Ingrid Sehrbrock/Sonja Deffner und Thomas Habenicht/Karl-Heinz Hageni in diesem Band). Teilhabe am "lebenslangen Lernen" wird unterstützt, weil der Zugang zu Bildung positiv bewertet wird. Dies war in der Tradition der Arbeiterbewegung immer schon selbstverständlich, auch wenn darüber hinsichtlich der Zielsetzungen kontrovers diskutiert wurde. Dies gilt auch für das "lebenslange Lernen".
Kompetenzen für das eigene Leben aneignen oder "lebenslänglich" lernen?
Die Karriere des Konzepts "Lebenslanges Lernen" (LLL) ist Resultat eines Zeitbruchs (Faulstich 2003). "Lernen" ist zu einer Schlüsselkategorie einer Gesellschaft geworden, die sich im vorherrschenden Selbstverständnis über "Wandel" und "Innovation" bestimmt. Wo sich alles dynamisch, rapide und permanent verändern soll, ist Lernen angesagt.
Wenn das so ist, müssen alle gesellschaftlichen Partialsysteme, Strukturen und Prozesse immer neu und immer schneller "lernen". Lernen wird synonym mit Verändern. Eine Metaphorik vom Wandel, die besagt, dass sich die Anforderungen an Lernen und Wissen mit progressiver Dynamik ändern, ist zu einem zentralen Legitimationsmuster geworden. Der Weg zur "Wissensgesellschaft", in der Lernen allgegenwärtig, permanent und total geworden sei, wird als der "zukunftsfähige" und "nachhaltige" Entwicklungspfad ausgemalt. Die traditionelle lebenslaufbezogene Abgrenzung zwischen Lern- und Erwerbszeiten wird zunehmend fraglich. Das Dreiphasenschema der Erwerbsbiographie von Ausbildung, Einsatz und Ruhestand wird flexibilisiert. Dabei entstehen neue Formen der Verschränkung von Arbeiten und Lernen.
Für die Bildung ist eine permanente Dynamik zum Strukturprinzip geworden. "Lifelong learning" erhält biographische Kontinuität über alle Phasen des Lebens und entgrenzt sich aus den traditionellen Institutionen. Lernen verteilt sich im LLL-Konzept über die gesamte Lebensspanne, gliedert sich in kürzere Abschnitte und wird immer umfangreicher.
"LLL" ist gekennzeichnet durch große Spielräume für Ausgestaltung und Umsetzung in einer Ambivalenz von Zwang und Freiheit: Wenn auf ökonomische Anpassung hingewiesen wird, droht eine permanente Umstellungsnotwendigkeit. Dies hat die Kritik provoziert, es gehe um "lebenslängliche" Zumutung.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Zweifellos ist die Individualisierung aller Lebenswahlen eine Last. Gleichzeitig ermöglicht sie Gestaltungsoffenheit gegenüber der eigenen Lebenszeit, gelungenen Kompetenzerwerb, biographische Neuorientierung und individuelle Arbeitsplatzsicherung. Wenn "lebenslanges Lernen" lediglich Individualisierungs- und Flexibilisierungsstrategien unterworfen wird, wird es für die Lernenden eher negative Effekte haben und als Zwang erlebt. Wenn beim LLL nicht unaufhörliche Hetze angesagt sein soll, braucht es gleichzeitig individuelle Beteiligungsbereitschaft, gemeinsame Verantwortung und gesicherte Ordnung. Wenn in einem System "lebensentfaltender Bildung" Identitätsentwicklung ermöglicht wird, kann es die Gestaltungschancen der Lernenden erhöhen und ihre Zeitsouveränität vergrößern.
Ein wesentlicher Grund für die mangelnde Bereitschaft, permanent weiter zu lernen, liegt darin, dass eine an den eigenen Lebensinteressen orientierte Zielrichtung fehlt. Es gibt die Erfahrung, dass die Versprechungen, nach Lernanstrengungen einen gesicherten, besserbezahlten, vielleicht mit Aufstiegschancen verbundenen Arbeitsplatz zu (er)halten, nicht eingelöst werden. Mit dem Versuch, Einstellungen und Motive der auf abhängige Arbeit Angewiesenen zu manipulieren, umzulenken, sollen diese auf den Weg einer "am Wohl der Wirtschaft" orientierten "Eigenverantwortung" geführt werden (siehe den Beitrag von Stephanie Odenwald in diesem Band).
Die Anbindung der (potenziell) Erwerbstätigen, ihrer Sozialisations- und Lernprozesse, ihres Denkens und Trachtens an die wechselnden Bedürfnisse der Unternehmen, bei denen sie beschäftigt sind oder werden wollen, kann jedoch nicht das ausschließliche Ziel einer demokratischen Bildungsgestaltung sein. Im Mittelpunkt der Lernprozesse für den Beruf und im Arbeitsleben stehen vielmehr die lernenden und arbeitenden Menschen: Sie sind die Träger der zu vermittelnden Kompetenzen, die in die Lage versetzt werden und sich einbringen, um neue Entwicklungen zu erkennen, Innovationen voranzutreiben und Gestaltungsaufgaben initiativ zu übernehmen und aktiv zu lösen. Die Teilnahme an Lernen ist dafür die Vorraussetzung.
Nachdenken über Lernen und Widerstände
"Lernen" ist für jeden von uns ein unabweisbares Thema – alltäglich und wissenschaftlich. Wenn sich nämlich – wie in der Wandelmetaphorik unterstellt – alles dauernd ändert, müssen die Einzelnen "lebenslänglich" lernen, um mitzuhalten. Aus dem durch die sich darauf richtenden divergierenden Interessenkonstellationen resultierenden Dilemma entstehen widersprüchliche Lernbegriffe. Zum einen geht es um "Anpassungslernen", wobei die Individuen einem Zwang zu immer neuem Lernen unterworfen werden; zum anderen kann es aber auch "Entfaltungslernen" geben, wenn die Personen ihre eigene Identität umfassender entwickeln und ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern. Ein solches Lernen meint dann Aneignung von Welt, bei der mögliche Verfügungserweiterung gewonnen wird.
Für dieses Szenario zwischen Macht und Freiheit, zwischen äußerem Zwang und eigenem Willen gibt es verschiedenste Lerntheorien, die auf dem wissenschaftlichen Markt angepriesen werden (vgl. zum Folgenden Faulstich/Grell/Grotlüschen 2005). Dabei thematisieren nicht nur die Erziehungs- und Bildungswissenschaften und selbstverständlich die Psychologie, Biologie und Neurophysiologie, sondern auch die Soziologie, Organisationstheorie, Betriebswirtsschaftlehre und sogar die Informatik "Lernende Systeme". Gleichzeitig wird "Lernen" inhaltsleer. Wenn sich irgendetwas verändert, wurde irgendetwas gelernt. "Lernen" wird so zu einer "Container-Kategorie", die beliebig und sehr unterschiedlich gefüllt wird. Und als "General-Metapher" hat sich Lernen abgelöst von den Subjekten: Ratten, Tauben und Waschbären lernen scheinbar genauso wie Menschen oder auch Organisationen (Senge 1990), Regionen (zuerst: Stahl/Schreiber 1994) und ganze Gesellschaften (Wiesner/Wolter 2005). Von Lernen wird bei Personen ebenso gesprochen wie bei sozialen oder technischen, organischen oder sogar physikalischen Systemen. Dieses Durcheinander legt, wenn es darum geht, sinnvoll über Lernen zu reden und Lernwiderstände zu begreifen, die Suche nach einer ordnenden Theorie, die die vielfältigen Phänomene fassbar macht, nahe.
Wenn wir über Lernen nachdenken – wobei wir immer schon auch über uns selbst nachdenken und reden –, stellen wir fest, dass der Begriff merkwürdig ambivalent ist. Einerseits ist er positiv konnotiert mit Entfaltung und Aneignung: Wir entfalten uns, wir eignen uns Wissen an, lernen lebenslang. Wobei das lebenslange Lernen schon ins Zwiespältige, sogar Negative kippt. Assoziiert wird eine "lebenslängliche" Last: "Jetzt soll ich schon wieder lernen." Lernen wird dann als Zumutung erfahren.
Insofern ist der Lernbegriff, anders als es die offizielle Lesart nahelegt, auch bei uns selbst gleichzeitig negativ besetzt. Sowohl gegenüber dem Lehrpersonal als auch gegenüber den Disziplinaranstalten des Lernens gibt es offensichtlich berechtigte Widerstände. Wenn wir an die eigene Schulzeit denken, ist mit Lernen oft die eigene Erfahrung von Unsinnigkeit und Unlust, von Druck, auch von Gewalt, von Versagen verbunden.
Wir erinnern uns vielleicht an unsere eigenen Lehrer, vielleicht aber auch daran, dass sie ganz das Gegenteil von Unmenschen waren: unterstützend, hilfreich, klug. Aber bei den Lernenden, die durch eine von Lehrtyrannen geprägte Schuldisziplin gegangen sind, gibt es offensichtlich berechtigte Lernwiderstände. Die Lehrerschelte ist vielfach einbezogen in eine Institutionenkritik, wenn man sich die gegenwärtigen Zustände in Schulen, Lehrlingsausbildung, Hochschulen oder Weiterbildungseinrichtungen vor Augen hält: Die disziplinarischen Anlagen des Lernens – deren Prototyp die Schule ist, deren Zwangscharakter sich aber zum Beispiel in "Maßnahmen" beruflicher Weiterbildung sogar noch potenziert – kontrollieren die Lernenden, indem sie diese in Zeit und Raum fixieren: Ein Gleichlauf von Lernzeiten und -geschwindigkeiten wird vorgegeben, um Ordnungen durch Dressur zu erzwingen; Schulungsräume und Trainingszentren erzeugen Klausur und Isolation, indem sie Lernen und Anwenden trennen; zwischen Unterrichtenden und Lernenden besteht eine Hierarchie durch Vorwissen und Status; Noten bezwecken Selektion. Gleichzeitig geben eifrige Dozenten als Durchhalteparole das Versprechen aus: Wir lernen für das Leben.
Für Foucault (1977) sind dies in "Überwachen und Strafen" Beispiele für "eine Mikrophysik der Macht, die von den Apparaten und Institutionen eingesetzt wird" (ebd.: 38). Es greifen die Kunst der Verteilung, die Kontrolle der Tätigkeiten, die Organisation von Entwicklungen, die Zusammensetzung der Kräfte, die hierarchische Überwachung, die normierende Sanktion und die Prüfung (Überschriften bei Foucault 1977).
Kritik verkürzter Theorien des Lernens
Angesichts dieser radikalen Kritik institutionell und personell kontaminierter Lernverhältnisse, die in die Resignation führen könnte, ist es unabweisbar, den Begriff Lernen zu klären, um sich selbst zu verorten. Obwohl "Lernen" zur zentralen Kategorie gegenwärtiger Zeitdiagnosen im Kontext von "Lebenslangem Lernen" und "Wissensgesellschaft" geworden ist, besteht hier allerdings ein diffuser Begriffswirrwarr.
Immer wieder gibt es naturalistische Fehlschlüsse: Aus der physischen Ausstattung des Menschen wird direkt auf psychische Leistungen beim Lernen geschlossen. Die Debatte wird überschwemmt mit Befunden aus der neurophysiologischen Lernforschung. Presse und Journale sind voll von Berichten und Artikeln über das Verhältnis von Gehirn und Lernen. Es wird nach "gehirngerechtem Lernen" gefragt. "Diese Tendenz wird aber von zahlreichen Lehr-Lern-Forschern – und nicht nur von diesen – skeptisch bis sorgenvoll beurteilt. Die bisher vorliegenden Befunde der neurophysiologischen Lernforschung sind nämlich nur selten eindeutig interpretierbar" (Stern u.a. 2005: 5). Wenn überhaupt, lassen sich nur allgemeine Schlussfolgerungen ableiten, die über den individuellen psychischen Prozess beim Lernen nichts sagen. Wenn wir genauer fragen, was wir suchen oder finden im Gehirn, so sind dies physikalische oder physiologische Prozesse, wie sie mit den bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften (technisch hoch aufgerüstet: Positronen-Emissions-Tomographie, Magnetresonanztomographie, Infrarot-Spektroskopie u.a.) sichtbar dargestellt werden können. Dies liefert zweifellos faszinierende und spannende Resultate. Reflektierte Neurophysiologen wissen aber auch um die Grenze ihrer Ergebnisse: Die Psyche entzieht sich dem sezierenden Zugriff. Es gibt unhintergehbare, ungelöste Probleme:
die Nicht-Reduzierbarkeit psychischer Prozesse auf neurophysiologische Analysen,
die Unterdeterminiertheit neurophysiologischer Konstellationen bezogen auf konkrete, situative Prozesse des Lernens.
Neurophysiologische Untersuchungen beschreiben nur die Rahmenbedingungen, unter denen Lernen stattfinden kann. Lernfähigkeit ist in erster Linie ein psychisches Problem. Die körperliche Verfassung schafft nur die Voraussetzungen für Wahrnehmung, Erfahrung und Aneignung beim Lernen.
Auch wenn man einmal absieht von der Konfusion der psychischen und physischen Ebene, für die die Neurophysiologie missbraucht wird, gibt es in der dominierenden Lernpsychologie (Überblick Edelmann 2000, Seel 2000, Mielke 2001), immer noch ein Nachwirken des Behaviorismus, der menschliche Aktivitäten als beobachtbares Verhalten (behavior) betrachtet. Obwohl mit dem Kognitivismus, der interne psychische Prozesse im Bewusstsein (Kognition) einbezieht, und spätestens dem Konstruktivismus, der aktive Interpretationen der Individuen (Konstruktionen) hervorhebt, gegenüber dem Behaviorismus eine erhebliche Komplexitätssteigerung (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1995) erreicht wurde, gibt es nach wie vor eine Vorherrschaft naturwissenschaftlich orientierter Ursache-Wirkungs-Ansätze, die Instruktionsansätze und entsprechende Lernarrangements stützen.
Die klassischen, in den Fachbereichen der Psychologie nach wie vor dominanten Lehrtexte über Lerntheorien sind immer noch orientiert an Definitionen etwa von Hilgard und Bower. Danach ist Lernen "Veränderung von Verhalten oder im Verhaltenspotential von Organismen in einer bestimmten Situation, die auf wiederholte Erfahrungen des Organismus in dieser Situationen zurückgeht" (Hilgard/Bower 1983: 31).
Wo ist der Haken dabei? In den Ohren vieler klingt diese Definition doch vernünftig.
Erster Kritikpunkt: Wenn alles Verändern Lernen ist, wird der Lernbegriff grenzenlos. Dann lernen nicht nur Individuen, Organismen, sondern auch Systeme, Regionen und Gesellschaften. Die ganze Welt lernt, weil sie sich verändert. Der Lernbegriff wird so inhaltsleer. Man muss also überlegen, was ändert sich eigentlich?
Der zweite Kritikpunkt ist, dass von Verhalten geredet wird. Verhalten ist ein von außen beobachtbares Phänomen. Man sieht, dass jemand sein Verhalten geändert hat, aber warum die Änderung eingetreten ist, können wir durch Außenbeobachtung nie feststellen. Allein die Beobachtung "Ein Mensch sitzt in einer Lehrveranstaltung" sagt nichts über die Gründe, warum er das tut. Vielleicht tut er das, um seine Freundin zu treffen, was auch sinnvoll sein kann. Durch die Außenbeobachtung von Verhalten sehen wir nur die Oberfläche.
Drittens wird in dem Zitat von Organismen geredet, ein Begriff, der noch nicht einmal eine Mehrzelligkeit eines Lebewesens voraussetzt. Menschliches Lernen wird gleichgesetzt mit dem Lernen von Ratten, Tauben, Waschbären, sogar von Amöben. Entfaltetes Lernen von Menschen unterscheidet sich aber von dem, was wir bei Ratten beobachten, dadurch, dass Menschen sich nicht verhalten müssen, sondern handeln können. Menschen messen ihren Aktivitäten Sinn zu; sie haben Gründe, warum sie etwas tun, und unterscheiden sich insofern deutlich von bloß reaktiven "Organismen".
Es ist verblüffend, wie auch neuere Lerntheorien, die sich als komplex und differenziert darstellen, derartig kritikwürdige Definitionen des Lernens in ihren Grundzügen weiterverwenden. Behavioristische Lerntheorien, die seit der "kognitiven Wende" als überholt gelten, gleichwohl aber, wenn man sich die Mühe macht und genau hinschaut, viele theoretische Modelle noch immer heimlich bestimmen, sind in ihrer reduzierten, auf Beobachtung und Verhalten angelegten Struktur, kaum geeignet, der Komplexität menschlichen Handelns und dem Lernen als Spezialfall des Handelns gerecht zu werden. Kognitionstheoretische Lerntheorien haben versucht, die Lücken des Behaviorismus zu füllen, und beschäftigen sich damit, wie sich Lernen im Individuum abspielt. Das Interesse gilt vorrangig den Fragen, wie Informationen aufgenommen, wie sie verarbeitet und strukturiert werden, wie Gedächtnis funktioniert und wie Problemlösestrategien entwickelt werden. Der Mensch wird als aktives Wesen gesehen. Dass er aber eingebunden ist in soziale Bezüge, dass er vor dem Hintergrund seiner (auch körperlichen) Existenz Lebensinteressen verfolgt, spielt im Rahmen kognitionstheoretischer Lernmodelle keine Rolle.
Sogar noch lerntheoretische Konzepte auf der theoretischen Basis eines "gemäßigten" Konstruktivismus (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1995), die mittlerweile dominieren (so auch Dieter Gnahs in diesem Band), stellen zwar den Menschen und seine jeweils individuellen Konstruktionen von Welt in den Mittelpunkt des Geschehens, verharren aber nichtsdestoweniger bei einem verdeckten Instruktionismus. Die Gewichtung der Aneignungsperspektive, die Wertschätzung des Individuums und die Ablehnung einer Herstellungsperspektive macht diese Theorie in einer Zeit instrumentellen Machbarkeitswahns durchaus attraktiv als Korrektiv. Es bleibt aber eine Außensicht auf die Bedingtheit des Lernens, die dann immer raffinierte, "ermöglichende" Lernarrangements anstößt. Lernende werden nicht direkt gesteuert, sondern durch komplexe Arrangements soll Lernen ermöglicht werden.
Suche nach einer angemessenen Lerntheorie
Solche Auffassungen von Lernen werden der Anforderung an eine dem menschlichen Lernen angemessene Theorie nicht gerecht. Sie beharren auf dem Außenstandpunkt des externen Beobachters und tendieren so zu externalistischen Interpretationen des Lerngeschehens. Damit verkennen sie die grundsätzliche Freiheit des menschlichen Handelns, die entsteht, weil es niemals eine vollständige externe Determination gibt. (Bieri 2003).
Entscheidend für das Wahrnehmen, Deuten und Begreifen von Prozessen ist aber die dahinterstehende wissenschaftliche Theorie. Es gilt deshalb Anforderungen und Kriterien für eine angemessene Lerntheorie zu formulieren, die geeignet ist, eigenes Lernhandeln zu begreifen und lehrendem Handeln Orientierung zu geben (Faulstich/Grotlüschen 2003):
Erstens muss eine solche Lerntheorie als Handlungstheorie aufgebaut werden, wenn es darum geht, Lernen nicht kausalistisch zu instrumentalisieren, sondern sinnverstehend zu begreifen.
Zweitens muss sie deshalb die Offenheit und Freiheit menschlichen Handelns berücksichtigen.
Drittens sollte sie anschlussfähig an bildungstheoretische Diskussionen sein.
Viertens muss sie in ihrem Kontext ein adäquates Konzept von Lehre entwickeln.
Mit diesen Anforderungen grenzt sich eine solche Theorie, die menschliches Lernen in angemessener Weise darstellen soll, ab gegen die verschiedenen Varianten einer "Ratten-Tauben-Waschbären"-Lerntheorie. Menschen lernen anders als tierische Organismen oder auch als technische Systeme. Um zu verstehen, wie Lernwiderstände entstehen, müssen wir uns mit alltäglichen und unseren eigenen Lernerfahrungen beschäftigen. Um zu begreifen, was Handlungen, auch Lernhandlungen begründet, kommen wir nicht darum herum, eine "Subjektperspektive" einzunehmen.
Vorschlag einer Lerntheorie vom "Subjektstandpunkt"
Grundzüge einer angemessenen Lerntheorie finden wir in der "subjektwissenschaftlichen" Konzeption Klaus Holzkamps (1993), wobei es um eine Denkperspektive geht, nicht um eine – wie auch immer – "fertige" Theorie. Kern ist eine methodologische Kehre: Die aus der Sinnhaftigkeit und Wahlfreiheit menschlichen Handelns resultierende Unverfügbarkeit menschlichen Entscheidens, Denkens und Handelns wird durch den Übergang vom – wie Holzkamp es nennt – "Bedingtheits-" zum "Begründungsdiskurs" vollzogen. Er vollzieht eine entscheidende Wende in der grundlegenden Denkfigur: Er redet über Lernen nicht als durch äußere Reize verursacht, also bedingt, sondern er fragt, warum Menschen lernen, also wie dies begründet ist.
Dahinter steht die Vorstellung, dass jedes "Außen" nur wichtig wird, indem es "innen" bedacht und bewertet wird. Lernbegründungen und reziprok dazu Lernwiderstände lassen sich rückbeziehen auf die Wünsche und Interessen der Personen. Wir verstehen diese, weil und insofern wir uns selbst verstehen. Dies meint nicht, dass die Interessen "kognitiv expliziert", vom Außenstandpunkt "rational" sind. Kritik vorwegnehmend schränkt Holzkamp ein: "Von uns wird lediglich angenommen, dass ich von meinem Standpunkt aus nicht begründet gegen meine eigenen Interessen (wie ich sie wahrnehme) handeln kann" (1993: 26).
Lernen ist im Begründungsdiskurs eben nicht von außen zu erklären, sondern nur über die inneren Gründe der Lernenden selbst zu verstehen und zu begreifen. Der "Begründungsdiskurs" ist notwendig immer "erste Person", impliziert also einen, wie Holzkamp es formelhaft nennt, "Subjektstandpunkt". Interessen sind, so die Übersetzung des schwierigen Begriffs, immer gebunden an Subjekte: Gründe für mein interessengeleitetes Handeln kann immer nur jeweils ich haben, aber niemals jemand anders.
Oder anders herum: Wenn ich von den Gründen eines anderen rede, dann rede ich immer von seinen Gründen für sein Handeln, nehme daher also seinen Subjektstandpunkt ein. Ich versuche ihn zu verstehen bzw. zu begreifen.
Der "Subjektstandpunkt" schließt auch ein, dass der reale Lebensprozess die zentralen Dimensionen des Weltzugangs umfasst: Wollen, Fühlen und Vorstellen. Daraus folgt eine ursprüngliche, kognitiv-volutiv-affektive Form des Verstehens von Welt – innerer und äußerer. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die lernenden "Subjekte" nicht nur Denkleistungen aneignen, sondern immer rückgebunden sind in ihre eigene Körperlichkeit. Weltzugänge lösen sich nicht auf in Denkvorgänge, sondern sind unhintergehbar bezogen auf die eigene Körperlichkeit. Alles Lernen verläuft vor dem Hintergrund eigener leiblicher Erfahrungen.
Klären einiger Grundbegrifflichkeiten über Lernen
Was heißt das nun für das Lernen? Klaus Holzkamp hat dies bei der kategorialen Explikation des Lernsubjekts auf seine standortspezifischen Bestimmungen und lebenspraktischen Bedeutungszusammenhänge (1993: 252) mit "körperlicher Situiertheit" gefasst. Gemeint ist "nämlich der Umstand, dass mein Standort und meine Perspektive an jeweils meinen sinnlich-stofflichen Körper gebunden sind" (1993: 253).
Die Situativität der Körperlichkeit ist durch Lernen nicht aufhebbar. Vielmehr ergeben sich Behinderungen, Grenzen der Verfügung, Undurchschaubarkeiten und Widerständigkeiten. Aber auch diese sind zu verstehen, weil Fühlen, Vorstellen und Wollen rückgebunden sind an die je eigene "Situiertheit": körperliche, sprachliche und biografische (Holzkamp 1939: 252ff.).
Lernen ist in einem solchen Ansatz Aneignung von Wissen und Können durch die Personen selbst. Systematisch kann man dann Lernen unterscheiden in "Mitlernen" im Zusammenhang anderer Tätigkeiten wie Arbeiten oder Spielen und in Lernen als spezifische Form menschlichen Handelns, als "intentionales Lernen".
Mit intentionalem Lernen verbinden die Lernenden das Ziel, den im primären Handlungsverlauf nicht überwindbaren Schwierigkeiten und Fragen beizukommen und zu lösen. Lernen stellt so betrachtet eine besondere Form der Handlung dar, die darauf ausgerichtet ist, Weltverfügung zu erweitern. Es geht dann um die Irritation von Routinen. Lernen wird angestoßen von Fragen, nicht von fertigen Antworten, von Problemen, nicht von Resultaten. Lernen ist grundsätzlich ergebnisoffen und wahlfrei.
Lernanlässe entstehen aus einer Diskrepanzerfahrung zwischen Intentionalität und Kompetenz. Man kann nicht so, wie man will. Aus einer Handlungsproblematik wird dann intentional eine Lernhandlung ausgegliedert; es wird eine Lernschleife eingebaut, um im primären Handlungsverlauf nicht überwindbaren Schwierigkeiten beizukommen. Daraus entstehen im jeweiligen Kontext Lernthemen, die sich aber nicht auf Lerngegenstände an und für sich, sondern auf ihre jeweilige Bedeutung für verfügungserweiterndes Lernen der Individuum beziehen. Bedeutungshaftigkeit ist der derjenige Aspekt von Welt, durch den diese für das Individuum und seine Lebensinteressen relevant und damit als Lernthematik zugänglich wird. In Bedeutungskontexten werden Wissensstrukturen und Kompetenzen aufgebaut, die eine erweiterte Weltverfügung ermöglichen.
Dies setzt eine vorausschauende Perspektive voraus. Der Lernende meint und hofft ausgehend von seinen Interessen, dass nach gelungenem Lernen seine Verfügung über den Gegenstand erhöht sein wird. Verfügungserweiterung bezeichnet hier eine aus der Sicht des Subjekts gelingende Situationsinterpretation, die neue Handlungsoptionen erschließt.
Welche der ihm in derartigen "Möglichkeitsbeziehungen" als Handlungsalternativen gegebenen Bedeutungsaspekte das Individuum im Interessenzusammenhang seiner eigenen Lebenspraxis tatsächlich in Handlungen umsetzt, hängt von den dafür sprechenden Gründen ab (Holzkamp 1995: 838). Bedeutungen von Weltgegebenheiten stellen für die Handelnden gesellschaftlich gegebene Möglichkeiten dar, zu denen sie handeln können: Sie können sie ergreifen, sie können sich ihnen offen verweigern, sie strategisch unterlaufen, sie nur teilweise umsetzen oder aber auch verändern. Es gibt vielfältige Gründe, nicht zu lernen: berechtigte Lernwiderstände.
Einordnen von Lernwiderständen: Hemmnissen und Schranken, sowie insbesondere: Gründen
Wenn man fragt, warum wir lernen, gibt es zwei Alternativen: Entweder ich treffe auf ein Problem und will es von mir aus lösen, das heißt ich will. Oder aber es wird von außen – z.B. in einem Weiterbildungsprogramm – eine Aufgabe gestellt, d.h. ich soll. Damit kann ich auch wieder in doppelter Weise umgehen: Entweder ich mache diese Aufgabe zu meinem eigenen Problem, d.h. ich will; oder ich lehne diese Aufgabe ab, beuge mich ihr aber, d.h. ich muss. Holzkamp kodiert diese Möglichkeiten mit den Begriffen "defensiv" oder "expansiv", wobei dies keine Pole, sondern Freiheitsgrade des Umgangs mit Lernproblematiken darstellt (siehe den Beitrag von Anke Grotlüschen in diesem Band).
Auf Seiten der Person bestehen also, wenn Probleme auftauchen, Gründe, zu lernen oder nicht zu lernen. Die Gründe sind mit biographischen Erfahrungen, Erwartungen, situierten Einbindungen und Interessen verbunden. Diese sind entstanden aufgrund von Hemmnissen, ausgehend von den sozialen Milieus, in denen sich die Individuen entwickelt haben (siehe dazu den Beitrag von Helmut Bremer in diesem Band), und sie sind bezogen auf Schranken, die durch den Kontext der Institutionen des Lehrens und Lernens entstehen (Dieter Gnahs in diesem Band). Hemmnisse und Schranken werden aber erst wirksam durch ihre Erfahrung, Deutung und Bewertung durch die mit Gründen handelnden Personen.
Wenn wir nach gelingendem Lernen fragen, müssen wir die Illusion einer herstellbaren optimalen Lernsituation aufgeben. In den Institutionen und beim Personal der Weiterbildung ist die Klage über Widerständigkeit, Faulheit und Widerborstigkeit der Lernenden weitverbreitet. Es wird dann nach Rezepten gefragt, nach Methoden, um solche Probleme instrumentell zu lösen. Dies ist eine Sackgasse, weil Institutionen und Personal sich in technokratische Herstellungsillusionen verrennen (siehe dazu den Beitrag von Petra Grell in diesem Band).
Wir wechseln vielmehr die Perspektive und fragen nach Lernwiderständen, die von den Lernenden selbst reflektiert werden können. Das Lernen Erwachsener ist immer schon Anschlusslernen. Erwachsene haben in ihrer Biographie Lebens- und Lernerfahrungen aufgehäuft, die neues Lernen befördern oder behindern. Es gilt also den Blick zu lenken auf Weiterbildungsabstinenz, Motivationsverluste, Lernhemmnisse und -schranken, Spaltungslinien und Hürden, kurz auf Widerstände, die keineswegs nur durch individuelle Dispositionen, sondern ebenso durch die bestehenden Strukturen der Lebenswelt, insbesondere des Beschäftigungs- wie des Weiterbildungssystems, erzeugt werden. Diese Erfahrungen, die jede Person in Auseinandersetzung mit dem ihr zugänglichen Ausschnitt der Lebenswelt macht, sind dabei rückgebunden an die sozialen Kontexte von Milieu und Gender. Daraus resultieren Lernhemmnisse durch die sozialen Strukturen und Lernschranken durch die Restriktionen der Institutionen.
Wichtig für die Klärung von Lernwiderständen ist, dass Hemmnisse und Schranken nicht direkt verursachend wirken, sondern dass sie erst "intern" bedeutsam werden, indem sie von den Lernenden erfahren werden. Die Person mit ihren Gründen, (nicht) zu lernen, trifft auf ein Lernangebot. Dies stellt Lernaufgaben, die sich beziehen lassen auf dahinterstehende Lebensinteressen – oder eben nicht. Entscheidend für die Lernerfolge ist die Art und Weise, wie die Lernaufgaben von den Lernenden selbst als Lernproblematiken aufgenommen werden. Diese unterschiedlichen Umgangsweisen können gefasst werden im Spannungsverhältnis von "expansivem" und "defensivem" Lernen.
Expansive Lernbegründungen zielen auf eine Erweiterung eigener Weltverfügung; der Lernende nimmt in diesem Fall Lernanstrengungen auf sich, um für sich selbst Aufschluss über gesellschaftliche Bedeutungszusammenhänge zu gewinnen und erweiterte Handlungsmöglichkeiten zu erreichen, die ihm bisher nicht gegeben sind und mit denen er gleichzeitig eine Entfaltung seiner Lebensqualität antizipiert.
Defensive Lernbegründungen zielen lediglich auf Abwendung von Beeinträchtigung und Bedrohung (Holzkamp 1993: 190) und im Ergebnis auf Überwindung der primären Handlungsproblematik und nicht auf die Lösung einer Lernproblematik als erweiterte gesellschaftliche Teilhabe (ebd.: 193).
Für die Untersuchung von Lernwiderständen ist wichtig, nicht in Ursache-Wirkungs-Modellen zu denken. Wenn nach Gründen gefragt wird, geht es darum, ob die Personen Lernmöglichkeiten in ihrem Lebenskontext als sinnvoll einschätzen und auf ihre Lebensinteressen beziehen. Lernhemmnisse und Lernschranken bilden den Rahmen, der aber erst vermittelt durch die individuelle Wahrnehmung, Deutung und Bewertung als Lerngründe wirksam wird.
Dies befreit auch von einem "Lehr-Lern-Kurzschluss". Ein instrumenteller Zugriff in einer Herstellungsperspektive erzwingt defensives Lernen. Prämisse "expansiven Lernens" ist die Bedeutsamkeit des Gegenstandes für die Lernenden selbst.
Lernwiderstände durch fehlende Bedeutsamkeit
Sowohl gegenüber dem Lehrpersonal – Lehrern, Ausbildern, Dozenten – als auch gegenüber den Disziplinaranstalten des Lernens – Schule, Lehrbetrieb, Weiterbildungsträger – gibt es ganz offensichtliche und oft berechtigte Widerstände. In Lernsituationen treten unterschiedliche Widerstandstaktiken zu Tage: Blockieren, Nicht-Verstehen, Müdigkeit, Initiativlosigkeit, Orientierungsverlust, Lernvermeidungsstrategien, Ablehnung der Thematik, Ignorieren oder aber Provozieren der Dozenten, Abwerten der Lehrenden, Missverstehen, Klagen über Lernsituation, inszenierte Regelverstöße, Ablenken anderer Lernenden, Umdefinieren der Lernsituation, mutwilliges oder achtloses Beschädigen von Inventar, Verbreiten permanenter Unruhe, Zuspätkommen, Pausenverlängern, Fehlzeiten, Abbruch.
Diese Phänomene des Widerstands prägen über weite Strecken die Normalität in Lehranstalten. In der eigenen Schulzeit ist mit Lernen oft die Erfahrung von Unsinnigkeit, Druck, Versagen und auch von Gewalt verbunden. Es entsteht Lernmüdigkeit, die bildungspolitisch als mangelnde "Lernfähigkeit" von "Benachteiligten" etikettiert wird. Individuelle Lernerfahrungen setzen sich strukturell fort. Lernen ist immer schon Anschlusslernen. In Verlauf der Biographie werden Lebens- und Lernerfahrungen aufgehäuft, die neues Lernen befördern oder behindern.
Lernvermitteln
Personen mit ihren Gründen zu lernen oder eben nicht zu lernen treffen auf Lernangebote in Bildungseinrichtungen. Es gibt historisch unhintergehbare Lernaufgaben, die sich auf dahinterstehende gesellschaftlich jeweils bestimmte Probleme beziehen lassen. Lerninstitutionen sind Vermittlungsagenturen kulturellen Wissens.
Entscheidend für mögliche Lernerfolge ist die Art und Weise, wie die angebotenen Thematiken von den Lernenden selbst aufgenommen werden. Dies kann begrifflich gefasst werden im Spannungsverhältnis von "expansivem" und "defensivem" Lernen, Entfaltung oder Zumutung. Nicht vorrangig Verfahren und Lernorte, sondern vor allem Inhalte sind jedoch als Gründe des Lernen wichtig (siehe den Beitrag von Anke Grotlüschen in diesem Band). Lernen ist immer bezogen auf eine Thematik. Also kommt es darauf an, wie diese mit der Intentionalität der Lernenden vermittelt ist. Ohne Selbsttätigkeit findet Lernen nicht statt. Deshalb ist für "expansives Lernen" die aktive Gestaltung des eigenen Lernens durch einen hohen Grad an Selbstbestimmung erforderlich. Es geht bei der Selbstbestimmtheit beim Lernen letztlich um Mündigkeit – ein Begriff, den man in seiner Resistenz gegenüber modischer Einfärbung kaum noch zu nennen wagt, der aber in diesem Kontext wieder stärker in den Vordergrund rückt – ebenso wie die Erkenntnis, dass Bildung nicht herstellbar ist.
Nichtsdestoweniger ist es Aufgabe der Lehrenden, die Lernenden zu unterstützen, den Prozess der Aneinung durch Vermittlung der Thematik mit der Intentionalität anzustoßen, zu erleichtern und zu begleiten. Dabei geht es nicht um Belehren, sondern um Unterrichten und Beraten (Faulstich/Zeuner 1999).
Resultat ist also, dass ohne Bedeutsamkeit für die Lernenden selbst Lernen eingezwängt ist in die Disziplin vorgegebener Ordnungen oder Anforderungen sowie kontrollierender Prüfungen, die defensives Lernen erzwingen, weil ihr Sinn fremd und somit äußerlich bleibt: Lernziele sind nicht transparent, Lerninhalte nicht nachvollziehbar und Prüfungsverfahren kontrollierend. In der Folge entziehen sich die Lernenden bzw. reagieren mit Lernwiderständen. Bei den verschiedenen Gruppen, die als so genannte Benachteiligte gefasst werden, kumulieren Lernschwierigkeiten. Die Betroffenen dürfen aber nicht ausgegrenzt, sondern müssen besonders gefördert werden.
Ansätze "subjektorientierter" Lernberatung
Sie sind einzubeziehen in Lehr-Lernstrategien, die ausgehen von den Interessen der Lernenden. Diese müssen in Lernprozesse eingebracht werden können. Lerninteressen klären sich allerdings erst im Abgleich zwischen individuell vorhandenen Motivationen und gesellschaftlich relevanten Problematiken. Dies für die Lernenden selbst offen zu legen, bedarf oft der Unterstützung. Angesichts sich ausweitender und zunehmender Unübersichtlichkeit wird Lernberatung immer wichtiger. Lernberatung verfolgt dabei unterschiedliche Reichweiten:
Informationsaspekte: das Bereitstellen von Informationen über Träger, Einrichtungen, Programme und Kurse.
Adressatenzentrierte Aspekte: Einlassen auf die Situation der Lernenden, Beziehen auf reale Konstellationen im Lebenszusammenhang z.B. von Frauen oder von Arbeitslosen.
Themenorientierte Aspekte: Gegenstandsbezogene Klärung der Interessen im Kontext der Rahmenbedingungen und der Relevanz der Aufgaben.
Kern der Beratung ist dann, gemeinsam Lernmotivationen und -strategien zu entwickeln, um individuelle Biographien durch Lernen zu gestalten. Dies geht aus von den Lebensinteressen der Lernenden (siehe die Beiträge von Ursula Herdt und Wolfgang Wittwer in diesem Band).
Bezogen auf die Notwendigkeit solcher Beratung besteht hoher Konsens. Sogar im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung wird dies benannt: "Wir werden die Vielzahl der bestehenden Weiterbildungsangebote durch die Optimierung der Bildungsberatung transparenter machen" (Koalitionsvertrag CDU, CSU, SPD – 11.11.2005). Von allen Parteien, von Arbeitgebern und Gewerkschaften wird Bildungs-, Berufs- und Weiterbildungsberatung ein hoher Stellenwert beim "Lebenslangen Lernen" eingeräumt. Angesichts gestiegener Offenheit der Lernwege wachsen die Entscheidungsspielräume der Lernenden – bis hin zur Überforderung (siehe den Beitrag von Stephanie Odenwald in diesem Band). Beratung scheint ein geeigneter Ansatz, um Selbstverantwortung zu steigern. Deutlich wird, dass dahinter divergierende Vorstellungen vom Verhältnis von Individuum und Gesellschaft stehen. Eine "subjektorientierte" Beratung ist kein individualistisches Konzept. Für die Gewerkschaften sind die Aufgaben der Bildungs-, Berufs- und Weiterbildungsberatung Teil eines erweiterten Leistungsspektrums. Angesichts der wachsenden Bedeutung einer Teilhabe am Lernen, wird dies sowohl von Seiten der Organisation als auch der Betriebsräte zunehmend zum Thema (siehe dazu Ingrid Sehrbrock/Sonja Deffner und Thomas Habenicht/Karl-Heinz Hageni in diesem Band).
Perspektiven expansiven Lernens
Auch wenn grundsätzlich immer Lernfähigkeit unterstellt werden kann, ist nicht zu leugnen, dass für bestimmte Lernende und konkrete Lernanforderungen Probleme und Schwierigkeiten entstehen können. Gleichzeitig wird deutlich, dass ein passives "pipeline model" eines Einfüllens von Wissen in leere Köpfe abwegig ist. Es ist von Anfang an klar, dass Lernende in vielfältigen Kontexten stehen, Situationen unterschiedlich wahrnehmen und in ihrer Biographie eigene Vergangenheit verarbeiten.
Lernen kommt nicht aus ohne Rückbezug auf Lebens-, besonders auf Lernerfahrungen aus Kindheit, Schule, Arbeitsplatz, Familie usw. Es ist immer Anschluss- und Deutungslernen. So gibt es zum einen eine Lernmüdigkeit, die aus negativen Vorerfahrungen resultiert und verarbeitet werden muss. Zum anderen entstehen Lernschwierigkeiten, wenn die Sinnhaftigkeit von Lernbemühungen und -anstrengungen nicht nachvollzogen wird. Als "defensives Lernen" wird "lebenslanges Lernen" zum äußeren Zwang. Es wird als Druck wahrgenommen, permanent, also "lebenslänglich", externen Anforderungen hinterher zu hetzen. Damit wird Lernen zur Entmündigung. Die Chance von Entfaltung wird kaum noch erfahrbar. Im "selbstbestimmten Lernen" könnte sie wieder aufscheinen und expansives Lernen ermöglichen.
Bei der Auseinandersetzung mit Lernwiderständen geht es also nicht um die Beseitigung eines lästigen Übels, sondern um die Klärung der berechtigten Gründe, nicht zu lernen. Wenn man die Lernenden ernst nimmt, muss man ihnen zugestehen, dass sie aus ihrer Sicht vernünftig handeln. Ohne erwartbare Lernerfolge ist Lernaufwand sinnlos. Erst wenn die Bedeutsamkeit von Lernanstrengungen deutlich wird, greifen lernförderliche Rahmenbedingungen, wie sie durch die Partizipation der Lernenden gestaltet und durch Lernzeiten und Lerngelder gesichert werden müssen.
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Leseprobe 2
Stephanie Odenwald
Eigenverantwortung contra Beratung?
Der Ausbau der Beratung ist für die Gewerkschaften Teil eines Gesamtprojekts, das darauf zielt, Bildungsbarrieren zu überwinden, lebenslanges Lernen als notwendigen Bestandteil der Biographie zu verankern, durch eine kontinuierliche Kombination von Arbeit und Lernen Beschäftigung zu sichern und auszubauen, einen Ausweg aus der Massenarbeitslosigkeit zu finden. Ob das gelingt, hängt auch davon ab, ob die Verantwortung für lebenslanges Lernen als rein individuelle oder gesellschaftliche Angelegenheit betrachtet wird. Insofern ist eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Eigenverantwortung, der nach neoliberalem Verständnis mit einem Rückzug des Staates von sozialen Aufgaben verbunden ist, unerlässlich. Wie der Begriff der Eigenverantwortung gebraucht wird, steht besonders für eine Gewerkschaft, die Beschäftigte im Bildungsbereich organisiert, zur Klärung an. Pädagogische Arbeit soll "empowerment" bewirken, Menschen zur Eigenverantwortung befähigen. "Die Menschen stärken und die Sachen klären" formulierte Hentig als Leitgedanke pädagogischer Arbeit. Eine gelungene Formulierung, weil sie den Gedanken der Aufklärung mit der Stärkung der Persönlichkeit verbindet. Urteilskraft und Eigensinn sind notwendig, um Herrschaftsmechanismen zu durchschauen, sich von Bevormundung zu befreien und selbstständig zu handeln. Diese Zielorientierung lässt sich aus gewerkschaftlicher Sicht als Befreiung von Abhängigkeit und Unterdrückung hin zu einem selbstbestimmten Leben und Arbeiten begreifen. Hegemonie für diese Ziele zu erlangen, erfordert auch das Ringen um Definitionsmacht. Es gilt deshalb, nicht denjenigen das Terrain der Begriffe zu überlassen, die den Sozialstaat für überholt halten. Die Herausforderung besteht darin, den Zusammenhang zwischen kollektiver und individueller Verantwortung aufzuzeigen und eine Beratung zu konzipieren, die auf der Würdigung der Individualität und Selbstbestimmung beruht. Die nachzuweisende These ist: Wenn Freiheitsspielräume für ein selbstbestimmtes Leben nicht nur von einer Elite genutzt werden sollen, wird ein entwickelter Sozialstaat gebraucht, der u.a. den Ausbau der Beratung beinhaltet. Eigenverantwortung und kollektive Verantwortung stehen in einem engen Zusammenhang. Wie wird das in dem aktuellen Diskurs um Eigenverantwortung berücksichtigt?
1. Der Diskurs um Eigenverantwortung
Der Begriff der Eigenverantwortung wird sozusagen als Zugpferd für den Abbau des Sozialstaates und eine verstärkte Marktorientierung eingespannt. Die damit einhergehende Tendenz ist, dass Beratung eher ab- als ausgebaut wird. So wird die Einführung von Bildungsgutscheinen, die Beratung und Zuweisung zu einer beruflichen Weiterbildung ersetzt haben, mit dem Paradigma der Eigenverantwortung begründet. Bildungsgutscheine sollen den Arbeitslosen ermöglichen, sich eine berufliche Weiterbildung auf dem Markt "frei" nach ihren Bedürfnissen auszuwählen. Auf einer Beschäftigtenversammlung der Träger in der Weiterbildung in Hamburg im Jahre 2004 wurden die negativen Auswirkungen der Bildungsgutscheine thematisiert, nämlich ein erheblicher Rückgang der TeilnehmerInnen an beruflicher Weiterbildung. Hingewiesen wurde auf die Schwierigkeiten, die viele Arbeitslose haben, sich auf einem intransparenten Weiterbildungsmarkt ohne ausreichende Beratung und Unterstützung zu orientieren. Der damalige Staatssekretär der SPD, Olaf Scholz, erklärte auf dieser Versammlung, dass man den Menschen zutrauen müsse, eigenverantwortlich zu handeln, und verglich das frühere Verfahren der Zuweisung mit einer rigiden Planwirtschaft. Diese Argumentation ist exemplarisch. Das Fehlen ausreichender Beratung wird zu einem emanzipativen Akt erklärt. Der Umbau des Sozialstaates durch Agenda 2010 und Hartz IV wird als Befreiung des Individuums von staatlicher Entmündigung ausgegeben.
Die ideologische Begründung dieser Politik trifft auf Resonanz, wenn mit staatlichen Institutionen negative Erfahrungen verbunden werden. Wenn eine Beratung im Arbeitsamt die Erfahrung vermittelt, es gehe nicht um die Interessen der ratsuchenden Person, sondern vorrangig um die aktuelle Nachfrage am regionalen Arbeitsmarkt, so sind Frustration und Misstrauen gegenüber Beratung die Folge. Keineswegs sollen hier die Verdienste vieler BeraterInnen, die engagierte Arbeit leisten, geschmälert werden. Aber das individuelle Engagement leidet darunter, wenn die Konzeption von Beratung so ausgerichtet ist, dass wirtschaftliche Interessen und kurzfristige employability den Vorrang haben. Aus gewerkschaftlicher Sicht muss sich Beratung konsequent dem Subjekt und seinen Bedürfnissen zuwenden (siehe den Beitrag von Ursula Herdt), ohne dass ein Rückzug aus der kollektiven Verantwortung stattfindet. Die Realität ist jedoch eine andere.
2. Abbau des Sozialstaates und Eigenverantwortungsrhetorik
2.1. Der Perspektivenwechsel bei der Gestaltung des Sozialstaates
In der zurückliegenden Phase der rot-grünen Regierung hat sich eine Rhetorik der Eigenverantwortung und Aktivierung mit einer Politik der Kürzungen sozialer Leistungen und Infragestellung sozialer Rechte verbunden, die von der Sozialdemokratie als Politik des "Dritten Weges" definiert wird. Diese ist nicht mit einer neoliberalen Negation des Sozialstaates gleichzusetzen, sondern dahinter verbirgt sich "ein eigenständiger Strategieentwurf für ein neues institutionelles Design sowie eine neue Sozialstaatskultur. Die Begriffe Aktivierung und Eigenverantwortung sind tragende Säulen einer neuen Wohlfahrtsarchitektur und zugleich regulative Ideen einer Umbaustrategie, die den keynesianischen Wohlfahrtsstaat dorthin führen will." (Urban 2004: 468) Die Zugangsvoraussetzungen zu sozialstaatlichen Leistungen werden verändert. Auf der normativen Ebene wird das Verhältnis von Kollektiv und Individuum neu definiert. Nach Urban wird der Umbau des Sozialstaates durch folgende Prinzipien gesteuert:
Es geht nicht mehr um Marktkorrektur, sondern um Marktförderung. Folglich wird nicht mehr ein ausgebautes System sozialstaatlichen Risikoschutzes angestrebt, sondern Hilfestellungen zur Verbesserung der individuellen Marktposition geleistet.
Die Bürger sollen unterstützt werden, sich mit den Voraussetzungen individuellen Erfolgs auszustatten, d.h. es findet eine Akzentverschiebung von der kompensatorischen zur investiven Sozialpolitik statt.
Der normative Bezug relativer sozialer Gleichheit wird durch das Ziel sozialer Inklusion ersetzt. "Inklusion im Sinne sozialer Integration wird dringlicher, da zunehmende Exklusion, insbesondere in Form eines neuen 'Subproletariats' aus Langzeitarbeitslosen, Wertschöpfungsausfälle und Sozialkosten hervorruft, die als Ballast im immer intensiver werdenden Konkurrenzkampf der Wirtschaftsstandorte wirken." (ebd.)
Der Markt wird für den Wohlfahrtsstaat aufgewertet, indem zum einen auf die Implementierung marktlicher und wettbewerblicher Steuerung gesetzt wird, zum anderen werden Leistungen in staatlichen Umlagesystemen gekürzt und in private "Wohlfahrtsmärkte" verlagert.
Die sozialstaatliche Bringschuld wird umgekehrt. Statt dass der Sozialstaat gegenüber dem Bürger verpflichtet ist, wird jetzt die Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft betont.
Das Paritätsprinzip wird durch das Prinzip der "Eigenfinanzierung" ersetzt. Der Sozialstaat wird zwar auch in Zeiten der Globalisierung als unersetzbar angesehen, aber aus Wettbewerbsgründen wird das Kapital entlastet sowie aus Motivationsgründen die so genannten gesellschaftlichen Leistungsträger. Statt dessen sollen die potenziell leistungsempfangenden Gruppen der Arbeitnehmerschaft das gewünschte Maß an Sozialstaatlichkeit selbst finanzieren. Folgen davon sind der Rückbau der solidarisch finanzierten Sozialsysteme und ein Bruch mit der paritätischen Finanzierung.
Die prekäre Niedriglohnarbeit wird ausgebaut.
Das Dilemma des neusozialdemokratischen Staatsentwurfs ist, dass vielen Menschen die Ressourcen für eine eigenverantwortliche Lebensführung entzogen werden, durch Einkommen an der Armutsgrenze und durch fehlende Investitionen in öffentliche Güter, die für Lebensqualität eine wichtige Rolle spielen. Der Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik hat weit reichende Folgen: Verarmungsprozesse, Abbau von sozialer Sicherung und von Rechten der Beschäftigten, Prekarisierung der Arbeit, Verfestigung der Bildungsbenachteiligung. Denjenigen, die zu den 25% eines Jahrgangs gehören, die Mühe beim Lesen und Verstehen von Texten haben, verschließt sich meist auch der Zugang zur Weiterbildung. Besonders bei dieser Personengruppe wird bei dem Appell an Eigenverantwortung nicht berücksichtigt, dass Kompetenzen vorausgesetzt werden, die nicht vorhanden sind.
2.2 Arbeitgeber setzen auf Eigenverantwortung
Der Begriff Eigenverantwortung findet sich auch wieder in den Ausführungen der Arbeitgeberverbände zur beruflichen Weiterbildung. Mehr und mehr wird erwartet, dass die Beschäftigten sich für ihre Weiterbildung verantwortlich fühlen, diese selbst finanzieren und ihre Freizeit dafür investieren. Das gilt sowohl für private Unternehmen als auch für den staatlichen Arbeitgeber. So wird in vielen Bundesländern die organisierte Weiterbildung von LehrerInnen abgebaut, und damit auch die Beratungsfunktion, die von den staatlichen Instituten für Lehrerfortbildung ausgeübt wurde. In Tarifverträgen vereinbarte Weiterbildungszeiten und -finanzierung sind eher Ausnahmen und werden durch die Arbeitgeber wegen der Kosten zunehmend in Frage gestellt. Ein kurzfristiges betriebswirtschaftliches Denken verdrängt die Einsicht, dass Weiterbildung einen großen Nutzen für die betriebliche Zusammenarbeit und Leistung der Beschäftigten hat. Wenn Weiterbildung eingeschmolzen wird, dann trifft das auch die Beratung.
Das Setzen auf mehr Eigeninitiative geht daran vorbei, das schon bisher ein großer Teil der Beschäftigten keinen Zugang zur Weiterbildung hatte. Im Gutachten von Timmermann (2004) wurde nachgewiesen, dass Teilnahme an der Weiterbildung vom Bildungsstand abhängig ist. Weiterhin wird im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2005 deutlich, dass diejenigen, die über wenig Geld verfügen, weniger am politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen und dass Armut nicht nur materielle Aspekte hat. Wenn Weiterbildung zunehmend selbst finanziert werden soll, wird sich die Benachteiligung weiter verschärfen. Die Vorstellung, dass die Menschen sich nur einen Ruck geben müssten, um an der Weiterbildung teilzunehmen, um eigenverantwortlich zu handeln, ist eine nicht der Realität entsprechende Idealisierung des sich selbstaktivierenden Ichs.
2.3 Die Idealisierung des Ichs
Ein Beispiel für die Idealisierung des Ichs bietet die im September 2005 angelaufene gigantische Sozialkampagne "Du bist Deutschland", an der 25 Medienunternehmen und die öffentlich-rechtlichen wie auch großen privaten Fernsehsender beteiligt sind und die unzählige Prominente zu Wort kommen lässt. Der Appell an Eigenverantwortung und Aktivierung steht im Zentrum: "Bring die beste Leistung, zu der du fähig bist", heißt die Aufforderung. "Wenn du damit fertig bist, übertriff dich selbst. Schlag mit deinen Flügeln und reiß Bäume aus. Du bist die Flügel, du bist der Baum. Du bist Deutschland." (Berliner Zeitung v. 30.9.2005) Es handelt sich dabei um einen selbstberauschenden Appell an den Leistungswillen, an die Zuversicht, an den Willen des einzelnen Menschen, Großes zu leisten, sich für die Gemeinschaft zu engagieren, Sicher, diejenigen, die nicht so schnell aufgeben, die über mentale Stärke verfügen und deren Kompetenzen nachgefragt werden, sind im Konkurrenzvorteil. Aber dieser Appell wirkt vor dem Hintergrund von 5 Millionen arbeitsloser Menschen anders, als wenn für jeden eine Chance auf Beschäftigung bestünde. Angesagt ist das "survival of the fittest". Sicher gibt es Beispiele, wie individuelle Anstrengungen zum Erfolg führen, und sie können vielleicht auch Mut machen, sich nicht aufzugeben und beharrlich seine Ziele zu verfolgen. Doch stellt sich immer noch die Frage, wie das Problem der Massenarbeitslosigkeit gelöst werden kann. Viele Menschen machen heute die Erfahrung, dass ihre Anstrengungen, jahrelange Ausbildung und Studium einschließlich Risikofreudigkeit und Flexibilität nicht dazu führen, dass sie einen Arbeitsplatz bekommen. Bei den Beschäftigten ist eher das Gefühl verbreitet, ihre Zukunft hänge nicht davon ab, wie sie sich abrackern. Im Leben vieler Menschen hat die Metapher vom Bäume ausreißen leider keinen Platz mehr. Vielmehr hat die "neue Kultur des Kapitalismus" (Sennett) eine Tendenz, persönliche Motivation für beruflichen Einsatz und den Wert von Erfahrungen in Frage zu stellen. Wer von heute auf morgen gekündigt werden kann oder nach jahrzehntelanger Zugehörigkeit zu einem Unternehmen "freigesetzt" wird, der wird nicht darin bestätigt, dass es sich lohnt, beruflich das Beste zu geben. Das bezieht sich nicht nur auf materiellen Verdienst als Ansporn für Leistung, sondern auch auf die Anerkennung persönlicher Fähigkeiten. Mühe und Selbstverpflichtung werden obsolet, wenn die Arbeitsverhältnisse immer kürzer und flüchtiger werden. Die Oberflächlichkeit der Beziehungen in einer solchen Arbeitswelt verhält sich konträr zu dem Beschwören der Gemeinschaft, wie sie in der Image-Kampagne "Du bist Deutschland" dick aufgetragen wird. Das Pathos der Gemeinschaft soll zur Leistung beflügeln und eine Leistungsspitze für Deutschland proklamieren.
Menschen zu Leistungen anzuspornen, ihre Eigenverantwortung zu aktivieren, wird dann gelingen, wenn sie eine Perspektive sehen. Realität ist jedoch, dass die Angst vor dem sozialen Absturz zu einem Massenphänomen geworden ist, bis hinein in die Mittelschichten. Die Zuversicht schwindet bei Jugendlichen, eine berufliche Perspektive zu haben, eine Ausbildung machen zu können, wie die Jugendstudien der letzten Jahre und vor kurzem die Bertelsmann-Studie ergab. Erfahrungen von Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung sind keine Ausnahme. Das hat Auswirkungen auch auf die Beratung. Wer resigniert, wird unter Umständen beratungsresistent und gibt sich auf. Wer in einem sozialen Milieu lebt, das durch Arbeitslosigkeit, Armut und Bildungsferne gekennzeichnet ist, kommt vielleicht gar nicht auf die Idee, noch einen Ausweg zu finden. Für solche Menschen mag die "Reiß-Bäume-aus" Rhetorik wie blanker Hohn klingen.
3. Eine andere Auffassung von Eigenverantwortung
3.1 Menschen brauchen Sicherheit und Unterstützung durch Institutionen
Eine Heroisierung des Ichs ist nichts Neues. Sie taucht geschichtlich immer dann auf, wenn alte Werte und Institutionen fragwürdig werden, wenn gesellschaftliche Umbrüche neue Anforderungen an die Menschen stellen und "das Alte" als Stillstand, als freiheitsberaubend empfunden wird, aber auch Verunsicherung und Ängste freigesetzt werden. In der schwärmerischen Vorstellung sprengt das heroische Ich das Gefängnis der Institutionen, wehrt sich gegen erstarrte Bürokratien, erobert sich das Reich der Freiheit. Das Hochjubeln des Heldentums kennen wir zur Genüge aus geschichtlichen Phasen wie der vor dem Ersten Weltkrieg und vor der Zeit des Faschismus, die in Katastrophen endeten, in grauenhafter Vernichtung und Zerstörung der Demokratie. Lehren aus der Geschichte zu ziehen, verlangt ein Menschenbild jenseits von Heroisierung, verlangt die Anerkennung der Bedeutung von Institutionen für das Leben von Menschen und die "Vermenschlichung" von Institutionen. Der Prozess der Zivilisation hängt damit zusammen, dass Institutionen geschaffen wurden, die für Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Absicherung im Alter sorgen. All das ist Basis für heutige Kultur, für Menschenwürde, für ein selbstbestimmtes Leben. Eine Zerschlagung von Institutionen im Sinne eines marktwirtschaftlichen Befreiungsschlages ist nach Bourdieu (1998) nicht weniger antizivilisatorisch, als würde man Kunstwerke zerstören. Allerdings müssen Institutionen immer wieder daraufhin überprüft werden, welche sozialen Interessen sie bedienen, ob sie Benachteiligungen verfestigen, wie das für unser Bildungssystem gilt und ob sie nicht etwa zu einer Zwangsjacke oder zu einer anonymen undurchschaubaren Macht über Individuen werden. Eine "Vermenschlichung von Institutionen" ist gegen Entmündigung gerichtet, subjektbezogene Unterstützung ist der leitende Grundsatz.
Sennett hat darauf hingewiesen, dass in den 1960er Jahren die neue Linke die Institutionen ins Visier genommen hat. Ihre Gesellschaftskritik beinhaltete harsche Kritik an den Institutionen, "vor allem Großunternehmen und staatliche Verwaltungen, die wegen ihrer Größe, Komplexität und Unnachgiebigkeit den Einzelnen fest im Griff zu haben schienen". Er stellt fest, dass die Geschichte zumindest teilweise diesen Wunsch erfüllt hat, doch in anderer, "perverser Form". "Die Rebellen meiner Jugendzeit glaubten, durch die Zerschlagung der Institutionen könnten sie Gemeinschaften hervorbringen: direkte zwischenmenschliche Beziehungen des Vertrauens und der Solidarität, die immer wieder neu verhandelt und verändert würden; eine gemeinschaftsorientierte Welt, in der jeder sensibel auf die Bedürfnisse der anderen reagiert. Das ist ohne Zweifel nicht geschehen. Die Fragmentierung der Großinstitutionen bedeutet für viele Menschen auch eine Fragmentierung ihres Lebens. Der Arbeitsplatz ähnelt eher einem Bahnhof als einem Dorf. Die Anforderungen der Arbeit haben eine Desorientierung mit sich gebracht. Und die Migration ist die Ikone des Globalisierungszeitalters, das uns drängt, weiter zu ziehen statt uns niederzulassen. Die Zerschlagung der Institutionen hat nicht zu mehr Gemeinschaft geführt." (2005: 8) Demnach führt die Zerschlagung von Institutionen nicht zu einem Zuwachs an Lebensqualität, vielmehr droht den Menschen Sinn und Zusammenhalt abhanden zu kommen. Statt einer Demokratisierung sind wir heute nach Sennetts Meinung mit einer neuen Zentralisierung der Macht konfrontiert sowie mit der Trennung von Macht und Autorität. Mit der Globalisierung ist ein Konzentrationsprozess von Unternehmen verbunden. Entstanden sind riesige ökonomische Machtzentren, von denen ganze Regionen abhängig sind. Unternehmenskulturen haben sich verändert, weg von dem Unternehmertypus, der Gewinnorientierung damit verbindet, dass soziale Absicherung und gute Bezahlung der Beschäftigten sich leistungsfördernd auswirken und die Bindungen an den Betrieb befördern. Für den Shareholder-Kapitalismus gelten andere Maßstäbe. Die Manager stehen selbst auf der Abschussliste, wenn sie nicht gemäß den Interessen der Aktienbesitzer um jeden Preis einen hohen Gewinn erzielen. Der Aktienkurs steigt, wenn Massenentlassungen angekündigt werden, wenn ein Unternehmen radikal "saniert" wird.
Sennett führt aus, dass in der neuen Kultur des Kapitalismus nur eine bestimmte Art von Menschen prosperiert. Dieser Idealmensch muss folgende drei Herausforderungen meistern: Erstens mit kurzfristigen Beziehungen und mit sich selbst zu Rande kommen. Zweitens, sich darauf einstellen, dass die Verfallszeit für Fertigkeiten kurzfristig ist und handwerkliche Einstellung, meisterhafte Beherrschung des Berufs nichts mehr zählt. Drittens, Gewohnheiten aufgeben, sich vom Vergangenen lösen, die beschleunigte Verfallzeit von Erfahrungen akzeptieren. Seine Schlussfolgerung ist: "Ein kurzfristig orientiertes, auf mögliche Fähigkeiten konzentriertes Ich, das vergangene Erfahrungen bereitwillig aufgibt, ist – freundlich ausgedrückt – eine ungewöhnliche Sorte von Mensch. Die meisten Menschen sind nicht von dieser Art. Sie brauchen eine durchgängige Biographie, sind stolz darauf, bestimmte Dinge gut zu können, und legen Wert auf die Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht haben. Das von den neuen Institutionen erhobene Ideal verletzt viele der in ihnen lebenden Menschen." (ebd.: 10) Wenn wir dieser Aussage von Sennett folgen, tritt die neue Kultur des Kapitalismus in einen Gegensatz zu den Bedürfnissen der meisten Menschen. Der Produktivitätsfortschritt, ein größerer gesellschaftlicher Reichtum, bringt für die meisten keine verbesserte Lebensqualität.
Vielmehr verursachen die Auswirkungen des globalisierten Kapitalismus einen hohen Leidensdruck. Das zeigt die von Sennett beschriebene Geschichte der anfänglichen "winner" der new economy. Sennett befragte die jungen Programmierer im Silicon Valley, die Tag und Nacht voller Einsatzbereitschaft arbeiteten, für die Arbeit lebten, sogar im Büro übernachteten und die er "wie trunken von den technologischen Möglichkeiten, aber auch von der Aussicht auf plötzlichen Reichtum" beschreibt. "Erst als die Dotcom-Blase 2002 platzte und größere Vorsicht im Silicon Valley Einzug hielt, entdeckten diese jungen Leute, was es wirklich hieß, in einer neuartigen Welt zu leben. Die häufigste Reaktion, die mir begegnete, war das Bekenntnis der jungen Programmierer, sich einsam zu fühlen. ›Niemand will mehr etwas von dir wissen‹, sagte mir einer von ihnen." Sennett führt weiter aus, dass sie in ihrer Einsamkeit plötzlich das Fehlen von Regeln und die Formlosigkeit der Zeit entdeckten. "Die neue Seite der Geschichte, die sie aufschlagen wollten, war leer. In dieser Vorhölle, isoliert und ohne Lebensgeschichte, entdeckten sie das wahre Scheitern."
Sennetts Hoffnung ist eine "Revolte gegen diese entkräftete Kultur". Seiner Meinung nach werden Institutionen gebraucht, die Kontinuität und Nachhaltigkeit zu bieten vermögen. Er beobachtet nicht Resignation, sondern Besorgnis, Beunruhigung und das Bedürfnis nach einer anderen Kultur: "Vor allem die Menschen, die ich im letzten Jahrzehnt befragt habe, sind nur allzu besorgt und beunruhigt und gar nicht resigniert im Blick auf ihr Schicksal unter den Bedingungen des ›Wandels‹. Sie brauchen in erster Linie einen mentalen und emotionalen Anker. Sie brauchen Werte, mit deren Hilfe sie beurteilen können, ob die Veränderungen in der Arbeit, den Privilegien und der Macht gut sind. Sie brauchen eine Kultur." (ebd.: 146) Er verweist auf innovative Versuche, das Gefühl für lebensgeschichtliche Zusammenhänge in der Arbeitswelt herzustellen, durchgeführt von Gewerkschaften in Großbritannien und den USA. Diese Versuche beinhalteten, dass Gewerkschaften "Parallelinstitutionen" geschaffen haben, indem sie als Arbeitsvermittlung oder Beschäftigungsgesellschaft fungierten und vor allem das am Arbeitsplatz fehlende Gemeinschaftserlebnis vermittelten. Diese Ansätze sind für die Ausgestaltung eines Beratungssystems interessant. Es gilt Lösungen dafür zu finden, wie in einer von prekären Beschäftigungsverhältnissen gekennzeichneten Arbeitswelt der einzelne Mensch Beratung und Unterstützung finden kann. Das Verweisen auf Eigenverantwortung nach dem Motto "Jeder ist seines Glückes Schmied" löst die Probleme nicht, mit denen z.B. die jungen Programmierer im Silicon Valley konfrontiert waren.
3.2 Relativität von Eigenverantwortung
Welchen Stellenwert hat der Begriff Eigenverantwortung für die individuelle Lebensgestaltung? Können wir Meister unseres Schicksals sein? Das Bedürfnis nach einer durchgängigen Biographie wird von Soziologen wie Sennett, die empirisch arbeiten und Menschen nach ihren Erfahrungen befragen, wiedergegeben. Menschen erzählen ihre Lebensgeschichte in den Interviews von Soziologen so, dass sie einen Anschein von Kohärenz macht. Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass Eigenverantwortung so definiert werden kann, dass jemand wie ein Puzzle seine Biographie zusammensetzt, einen Entwurf seines Lebens macht, der dann Stück für Stück planmäßig umgesetzt wird. So verweist der französische Soziologe Bourdieu (1998: 75) auf die "biographische Illusion", dass die Lebensgeschichte ein individuell gesteuerter kohärenter Prozess ist. Er sieht die biographischen Ereignisse als "Platzierungen und Platzwechsel im sozialen Raum", die abhängig sind von den insgesamt in diesem sozialen Raum wirkenden Kräften, also nicht nur vom Individuum selbst. "Der Versuch, ein Leben als eine einmalige und sich selbst genügende Abfolge von Ereignissen zu verstehen, deren einziger Zusammenhang in der Verbindung mit einem "Subjekt" besteht, dessen Konstanz nur die seines Eigennamens sein dürfte, ist ungefähr so absurd wie der Versuch, eine Fahrt mit der U-Bahn zu erklären, ohne die Struktur des Netzes zu berücksichtigen, das heißt die Matrix der objektiven Relationen zwischen den verschiedenen Stationen." (ebd. 82) Die Reichweite der Eigenverantwortung ist also begrenzt, Eigenverantwortung ersetzt nicht gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die für menschliche Entwicklung förderlich sind. Die Entscheidungsspielräume, die Menschen haben und die ihre Eigenverantwortung tangieren, sind von ihrer Umgebung, von dem sozialen und politischen System abhängig, in dem sie leben. Zum Beispiel macht es einen wesentlichen Unterschied, ob die Kinder einer Arbeiterfamilie in den 1950er, in den 1960er Jahren oder später ihren Bildungsweg begonnen haben. Erst in den 1960er Jahren war die Bildungskrise im Gespräch und es wurden Anstrengungen unternommen, auch Kindern aus Arbeiterfamilien den Besuch einer Hochschule zu ermöglichen. Veränderte gesellschaftspolitische Ziele und dementsprechende Veränderungen in den Institutionen wirken sich auf das individuelle Leben aus, wirken auf das Herkunftsmilieu ein. Wie Lebensgestaltung und der berufliche Werdegang verläuft, ist in hohem Grade abhängig von dem sozialen Netzwerk, von der Unterstützung, die den Menschen geboten wird, von ihrem "sozialen und kulturellen Kapital" (Bourdieu). Je weniger Unterstützung durch die Familie gewährleistet wird, desto mehr ist gesellschaftliche Unterstützung nötig.
Der freie Willen ist nach heutigen Erkenntnissen über den Menschen eine relative Angelegenheit, um nicht zu sagen Fiktion. Verwiesen sei auf die Ergebnisse der Hirnforschung, wie auch auf psychologische und soziologische Erkenntnisse. Menschliches Handeln ist nicht nur von bewussten, rational gesteuerten Entscheidungen abhängig, sondern auch vom Unbewussten, also auch von psychischen Strukturen, die Wahrnehmung von Eigenverantwortung einschränken und erschweren, die zu tief verwurzelten Verhaltensmustern führen.
Die Herkunft ist nichts Äußerliches, das sich wie ein Mantel abstreifen lässt, sondern sie verkörpert sich im Habitus der Menschen (Bourdieu) der sozusagen das inkorporierte, d.h. in den Körper aufgenommene soziale Milieu darstellt, nicht als willentlicher Akt, sondern als unbewusste Prägung von Geburt an. Der Begriff des Habitus umfasst sowohl die körperliche als auch die psychische Seite, also die gesamte Ausprägung der Persönlichkeit: Art und Weise des Sprechens, der Wortwahl, Bewegung, Kleidungsstil, die gesamten verbalen und nonverbalen Äußerungen einer Person. Die wichtige Erkenntnis ist, dass Menschen durch und durch soziale Wesen sind, so sehr sie sich auch den Anschein geben mögen, sie hätten alles aus eigener Kraft geschafft. In diesem Sinne wird Eigenverantwortung anders begriffen, als wenn nur die Anstrengung des vereinzelten Ichs als Maß aller Dinge genommen wird. Um bewusst und reflektiert eigenverantwortlich zu handeln, z.B. eine Entscheidung für eine berufliche Tätigkeit zu treffen, brauchen viele Menschen Stärkung und Unterstützung; umso mehr, wenn die sie umgebende Welt mit ihrer Schnelligkeit der Veränderung und der Fülle an Informationen schwerer als früher zu begreifen ist.
Die Nachfrage nach Beratung hat auch deshalb zugenommen, weil die individuelle Lebensführung eine immer komplexere Sache geworden ist. "In modernen Gesellschaften erzeugen die steigenden Anforderungen an Bildung und Ausbildung, Mobilität und Umstellungsbereitschaft einen hohen Individualisierungsdruck: Die Menschen müssen heute durchschnittlich mehr Entscheidungen treffen, mehr Informationen verarbeiten und mehr Wandel bewältigen als zu früheren Zeiten, ob sie wollen oder nicht." (Zapf 1987: Seitenzahl) Gleichzeitig gehen Beständigkeit und Verlässlichkeit früherer Orientierungen und Lebensmuster in der Familie und Gemeinde, Berufswelt und Kultur verloren. Die Erosion der Familie und der zunehmende Mobilitätsdruck lässt den sozialen Zusammenhalt schwinden. Die heute geforderte Flexibilität im Arbeitsleben mit ihren ungeregelten Arbeitszeiten und Ortswechseln hat einen hohen Preis für die Lebensgestaltung der Menschen. War es früher gang und gäbe, ein Leben lang in demselben Unternehmen zu arbeiten und eine spezielle berufliche Tätigkeit auszuüben, so wird das heute zum Ausnahmefall. Die Menschen müssen auf vielerlei Ebenen einen gesellschaftlichen Umbruch mit all seinen Anforderungen bewältigen und sind damit oft überfordert. Diese Belastungen haben Folgen, wie die Zunahme psychischer Erkrankungen zeigt. Die Kehrseite ist ein gewachsenes Bedürfnis nach Beratung, Unterstützung und Absicherung, nach sozialen Netzen, die dem einzelnen Menschen Halt bieten, Ausgrenzung und Isolation verhindern, bei der Bewältigung beruflicher und sozialer Aufgaben und Notlagen Hilfestellung geben.
4. Jugendliche nicht als ausbildungsunfähig abstempeln – frühzeitige und kontinuierliche Beratung befähigt zu Eigeninitiative
Als Jugendlicher eigenverantwortlich zu handeln, sich nach einem Ausbildungsplatz umzusehen, sich zu bewerben, Einstellungstests hinter sich zu bringen, bei Misserfolgen nicht zu resignieren, braucht Selbstvertrauen, Selbstmanagement, Informationen über die Möglichkeiten auf dem Ausbildungsmarkt und als wichtige Voraussetzung ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen. Auch durch subjektive Anstrengungen wird das Angebot an Ausbildungsplätzen nicht größer, es gelingt höchstens, die Konkurrenten zu schlagen. Es stellt einen erheblichen Angriff auf das Selbstvertrauen Jugendlicher dar, wenn sie von den Arbeitgebern für nicht ausbildungsfähig erklärt werden. Ein unverantwortlicher Umgang mit Jugendlichen macht sich breit, wenn ihnen von vornherein die Fähigkeit abgesprochen wird, sich beruflich zu qualifizieren, auf eigenen Beinen zu stehen, für ihr Leben selbst zu sorgen. Sie werden – so wie sie sind – nicht akzeptiert, sind dem latenten Vorwurf ausgesetzt, eine zu hohe Anspruchshaltung zu haben. Ihr subjektives Versagen wird beklagt. Dabei wäre es an der Zeit, endlich Lösungen dafür zu finden, wie die Schule auf gestiegene Anforderungen im Arbeitsprozess und auf die Berufswahl besser vorbereiten und wie ein Bildungssystem, das massenhaftes Scheitern produziert, verändert werden kann.
Gäbe es ein Recht auf Ausbildung und damit staatliche Verantwortung für Ausbildung, hätten es die Jugendlichen leichter, Eigenverantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Dann hätten sie ganz andere Voraussetzungen für ein eigenständiges Leben. Wie sollen sie beraten werden, welchen Beruf sie wählen oder wie sie nach beendeter Ausbildung einen Arbeitsplatz finden, wenn Ausbildungs- und Arbeitsplätze für junge Leute massenweise fehlen und berufliche Weiterbildung fortlaufend gekürzt wird? Mitte 2005 waren mehr als 500.000 junge Leute unter 25 Jahren arbeitslos gemeldet.[1] Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Die kollektive Verantwortungslosigkeit gegenüber jungen Menschen ist das Problem, das gelöst werden muss.
Beratung ist ein wichtiger Baustein in einem Gesamtkonzept, wie junge Leute in Ausbildung und Arbeit kommen können. Die Vorbereitung auf die Berufswahl weist bisher viele Mängel auf, eine Verbesserung der Beratung ist dringend notwendig. Jugendliche brauchen Unterstützung, ihre eigenen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen, ihre Berufswünsche zu formulieren. Sie brauchen einen praktischen Einblick in die Arbeitswelt und Anleitung, sich über die Fülle der Berufe selbstständig zu informieren. Aufgrund dieser Erkenntnis haben Kultusministerkonferenz und die Bundesagentur für Arbeit im Oktober 2004 eine Vereinbarung geschlossen, wie dies verbessert werden soll. Schulen können nur mit umfassender Unterstützung diesen Orientierungsprozess ermöglichen. Wenn die Agentur für Arbeit diese Aufgabe nicht mehr wahrnimmt, wird ein Vakuum entstehen. Den Lehrkräften in den Schulen wird es nicht möglich sein und sie sind nicht dafür ausgebildet, diese Aufgabe zu übernehmen.[2]
Die Erfahrung von 25 Jahren Benachteiligtenförderung hat gezeigt, dass Jugendliche eine kontinuierliche Beratung brauchen, um den Übergang in eine Ausbildung zu schaffen und Schwierigkeiten zu meistern. Jugendliche mit psychischen oder körperlichen Einschränkungen, Jugendliche ohne ausreichende Unterstützung im Elternhaus sind oft nicht in der Lage, mit den Alltagsanforderungen zurecht zu kommen. Sie brauchen eine sehr zeitintensive Beratung, den Aufbau einer stabilen persönlichen Beziehung, um zugänglich für Beratung zu sein. Wenn gute pädagogische Arbeit und intensive Beratertätigkeit nicht mehr finanziert werden und vor allem Billig-Anbieter beauftragt werden, wird das Scheitern der Jugendlichen vorprogrammiert.
Am Ende der Ausbildung werden heute viele Jugendliche nicht übernommen oder wollen aus unterschiedlichen Gründen in dem gelernten Beruf nicht arbeiten. Auch hier ist wieder Beratung erforderlich, das Bedürfnis ist gemäß meiner Erfahrung als Berufsschullehrerin groß. Viele Jugendliche kennen ihre Möglichkeiten nicht, sich weiter zu qualifizieren, unter Umständen den zweiten Bildungsweg einzuschlagen oder eine Umschulung anzusteuern. Diese Inhalte müssen zum einen in den Unterricht der Beruflichen Schulen integriert werden, zum anderen muss eine professionelle Beratung durch die dafür zuständige Institution, wie die Bundesagentur für Arbeit, angeboten werden. Das Ende der Ausbildung ist eine kritische Phase, die das Risiko enthält, dass die jungen Leute in der Arbeitslosigkeit landen.
Fazit
Im Übergang von der Schule zur Arbeitswelt wirken sich fehlende Unterstützung und Beratung nachhaltig negativ aus. Entscheidungen für eine berufliche Ausbildung und Weiterbildung sind Weichenstellungen für die Lebensgestaltung mit vielen Folgewirkungen: Zufriedenheit mit der Arbeit, sozialer Status, Verdienstmöglichkeiten, Arbeitsbedingungen, Karrierechancen, bis hin zu Freiräumen für das Zusammenleben mit Partnern, Erziehung von Kindern usw. Wenn jemand einen Beruf lernt, der ihm überhaupt nicht zusagt oder eine Warteschleife nach der anderen durchläuft, hat das mannigfaltige Auswirkungen: Persönliche Entfaltung ist eingeschränkt, wertvolle Lebenszeit vergeudet, Motivation für Lernen wird behindert. Gesellschaftliche Folgen sind, dass Bildungspotentiale unausgeschöpft bleiben, dass Bildungsressourcen ineffektiv eingesetzt werden. Gerade weil mit einer Berufsausbildung immer seltener eine sich über die gesamte Erwerbsbiographie erstreckende Verweildauer verbunden ist, wird Beratung immer dringlicher gebraucht. Es lohnt sich in Beratung zu investieren, weil sie Perspektiven vermittelt und Arbeitslosigkeit mit all ihren persönlichen Frustrationen und Verlust von Selbstwertgefühl vorbeugen kann. Damit werden hohe persönliche und gesellschaftliche Kosten – nicht nur materieller Art – vermieden. Übrigens gibt es auch bei denjenigen, die ihr Erwerbsleben aus Alters- oder gesundheitlichen Gründen hinter sich haben, ein großes Bedürfnis nach Beratung über Bildungsangebote. Ein beträchtlicher Teil der heutigen Generation der Menschen jenseits der Erwerbsphase profitiert (noch) von einem Sozialstaat, der ihnen im Alter ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung ist ein attraktives Angebot für ältere Menschen ein zunehmend wichtiges Betätigungsfeld für Erwachsenenbildung. Auch hier ist noch viel zu tun, um eine den Bedürfnissen gerecht werdende Beratung zu organisieren. Ohne Beratung sind viele Menschen überfordert, keineswegs nur diejenigen, die als bildungsfern eingestuft werden, sich über ein intransparentes Bildungsangebot zu informieren und aktiv zu werden. Beratung ersetzt nicht Eigeninitiative und Verantwortung, sondern schafft die notwendigen Voraussetzungen dafür.
Literatur
Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M.
Kühnlein, Getrud/Klein, Birgit (2003): Bildungsgutscheine: Mehr Eigenverantwortung, mehr Markt, mehr Effizienz?, Düsseldorf
Sennett, Richard (2005): Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin
Timmermann, Dieter(2004): Finanzierung Lebenslangen Lernens. Die Ergebnisse der Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens
Urban, Hans-Jürgen (2004): Eigenverantwortung und Aktivierung – Stützpfeiler einer neuen Wohlfahrtsarchitektur, in: WSI-Mitteilungen 9/2004
Zapf, W., u.a. (1987): Individualisierung und Sicherheit: Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland, München
[1] Vgl. GEW-Hauptvorstand: Fünf-Punkte-Programm zur Förderung junger Menschen, Frankfurt a.M., Juli 2005
[2] Vgl. Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung zwischen der Kultusministerkonferenz und der Bundesagentur für Arbeit, Mettlach-Orscholz, 15.10.2004
Leseprobe 3
Mechthild Bayer / Klaus Heimann
Doppelte Lernbarrieren und gewerkschaftliche Strategien
1. Bildung – eine unabweisbare Lebensaufgabe
Von der Aus-, Weiter- bis zur Altenbildung: Lernen ist zu einer unabweisbaren Lebensaufgabe geworden. "Lernen" und "Bildung" sind zentrale Kategorien in einer Gesellschaft, die auf "Wandel" und "Innovation" abstellt. Da sich der Technik- und der Personaleinsatz in den Unternehmen – angetrieben durch die Kapitalakkumulation – dynamisch und permanent verändert, ist auch überall und ständig Lernen gefordert. Die "lernende Organisation" wird propagiert.
Diesem Lernzwang können und wollen nicht alle folgen. So gibt es immer mehr Schulschwänzer; die Zahl der Ausbildungsabbrecher an den Hochschulen oder in der Berufsausbildung ist dramatisch hoch und wächst weiter. Auch für den Bereich der Weiterbildung ist festzustellen, dass es viele Menschen gibt, die deren Angebote nur selten oder nie in Anspruch nehmen und sich auf diese Weise den Lernanforderungen entziehen. Die herrschende Meinung ist allerdings immer weniger bereit, diese Weiterbildungs-Abstinenz zu dulden, wie z.B. eine Gerichtsentscheidung aus Dresden belegt: Danach müssen Langzeitarbeitslose an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen, wenn sich dadurch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern; sie dürfen die Teilnahme an einem Fortbildungslehrgang nicht verweigern. Eine Klage gegen die erzwungene Teilnahme blieb erfolglos. Derartige Kurse seien für Betroffene zumutbar. Der Lehrgang ist nach Ansicht der Richter Voraussetzung für die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Im Kurs sollten Kenntnisse in den Fächern Recht, Mathematik, Deutsch, EDV und Betriebswirtschaftslehre vermittelt werden. Die Kläger verwiesen auf ihre qualifizierten Berufsabschlüsse und hielten eine Weiterbildung für verzichtbar – vergeblich. Das Gericht hat die Klage der fünf Langzeitarbeitslosen zurückgewiesen.
Dieses Beispiel versuchter "Bildungsverweigerung" verdeutlicht, wie weit das Lerndogma inzwischen verbreitet ist. Niemand steht den Bildungsabstinenten zur Seite, insbesondere dann nicht, wenn die Bedingungen als zumutbar gelten. Verweigerung gilt als nicht adäquate Verhaltensweise – ganz besonders dann, wenn, wie im geschilderten Fall, die Kosten der Maßnahme von der Arbeitsagentur bezahlt werden. Es wird ignoriert, dass es Weiterbildungsbarrieren gibt, die Weiterbildungs-Abstinenz begründen.
2. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine entfaltete Bildungs-Kultur
Seit Beginn der 1980er Jahre setzt sich im Rahmen allgemeiner Deregulierungstrategien zunehmend ein Konzept durch, das Weiterbildung den Mechanismen des Marktes überlässt. Die Regelung des Bildungsgeschehens soll – wie bei Waren, Gütern und anderen Dienstleistungen – über Angebot und Nachfrage erfolgen. Dem Prinzip der Subsidiarität folgend wird staatliches Handeln nur in engen Grenzen als notwendig angesehen. So hat der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) die Parteien 2005 erneut davor gewarnt, in den Weiterbildungsmarkt einzugreifen. Dass die beschworenen Marktmechanismen in Wirklichkeit nicht funktionieren und Deutschland in der Weiterbildung im internationalen Vergleich dramatisch zurückgefallen ist, wird geflissentlich verschwiegen.
Ein unübersehbarer Indikator für diese negative Entwicklungstendenz ist die unterschiedliche Verteilung der Teilnahmechancen, die zu einer Verfestigung von sozialer Ausgrenzung führen. Auch der hohe und steigende Anteil privat finanzierter Weiterbildung – nach Untersuchungen des Bundesinstituts für Berufsbildung waren das im Jahr 2003 23 Milliarden Euro – verschärft die Polarisierung bei den Zugangsquoten von Führungskräften und Un- und Angelernten. Die fehlende öffentliche Zuständigkeit hat ein System mit hoher Unübersichtlichkeit hervorgebracht, das Schwächen in allen Teilbereichen und Aufgabenfeldern aufweist.
Prägend sind: zu geringe Zeit- und Geldressourcen, mangelnde Qualität, fehlende Information, Transparenz und Beratung, unzureichende Durchlässigkeit zur Erstausbildung sowie zum Arbeitsmarkt, Unterversorgung mit Angeboten, geringe Kooperation bei den Trägern und Nachfragern, unzureichende Professionalisierung des Weiterbildungspersonals, mangelnde Integration von beruflicher und politischer Weiterbildung. Motivationsverluste und Weiterbildungsabstinenz lassen sich nicht zuletzt auf diese Defizite zurückführen. Diese Zugangsbarrieren sind in den letzten Jahrzehnten keineswegs gesenkt worden. Gleichzeitig sehen sich die Individuen aber, ausgelöst durch die Prozesse ökonomischer Modernisierung, mit der Forderung nach "lebenslangem Lernen" konfrontiert. Die Frage, ob ihnen das überhaupt möglich ist, wird gar nicht erst gestellt.
Der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität wird offiziell nicht wahrgenommen und die Realität der Weiterbildungsabstinenz mehr oder weniger verdrängt als eine für eine Bildungsgesellschaft nicht adäquate Verhaltensweise. Weiterbildungsabstinenz wird individualisiert und als Irrationalität der handelnden Subjekte, die überwunden werden müsse, angeprangert.
Defizite in der Weiterbildungslandschaft werden mit der Forderung nach mehr Eigenverantwortung beantwortet: Wer es schafft, an der Welt der "neuen Lernkulturen" vielfältig teilzuhaben und sich als Leistungsträger mit hohen Kompetenzen auszustatten, der gehört zu den Gewinnern. Wer außen vor bleibt, hat eben nicht genug oder das Falsche gelernt.
3. Individuelle Bildungs-Hemmnisse und -Schranken
Aus dem Begriff des "lebenslangen Lernens" entwickelte sich das Wortspiel vom "lebenslänglichen Lernen" als sarkastische Beschreibung des neuen Zwangs, dauernd und immer wieder neu lernen zu müssen. Diese gesellschaftliche Zwangsjacke ziehen sich jedoch keineswegs alle an. Die Forschungen zum Thema Weiterbildungsabstinenz zeigen, dass ein Drittel aller Bundesbürger sich vom Thema Weiterbildung verabschiedet hat: Diese Menschen haben noch nie an einer Weiterbildungsveranstaltung, in welcher Form auch immer, teilgenommen. Bei weiteren neun Prozent liegt die letzte Weiterbildung zehn Jahre und mehr zurück. Es sind deutlich mehr Frauen als Männer, die sich der Weiterbildung verschließen. Oft auch berechtigte Widerstände gibt es sowohl gegenüber dem Lehrpersonal – Lehrern, Ausbildern, Dozenten – als auch gegenüber den Orten des Lernens – Schule, Lehrbetrieb, Weiterbildungsträger.
Die empirischen Befunde aus der Abstinenzforschung belegen, dass der Verzicht auf Weiterbildung sowohl eine Reaktion auf fehlenden subjektiven Nutzen (mangelnde Sinnhaftigkeit von Weiterbildung im Lebenszusammenhang des Einzelnen im Verhältnis zu den Kosten) als auch auf institutionelle Exklusionsmechanismen ist.
Es sind im Wesentlichen fünf Gründe, die dazu führen, dass Menschen sich gegen eine Weiterbildungsteilnahme entscheiden: (1) keine besondere Veränderungen im Beruf und bei den Arbeitsbedingungen, (2) zu hohe Belastung, (3) keine Verbesserung der Aufstiegschancen, (4) kostet zuviel Zeit und Geld und (5) die familiären Belastungen sind zu hoch. Dieses Ursachenbündel belegt, dass es sich keineswegs bloß um Irrationalitäten handelt, die der Abstinenz zugrunde liegen. Wer den Nutzen einer Bildungsaktivität nicht erkennen kann, der wird sich darauf auch nicht einlassen.
Durch die Erfahrung von Unsinnigkeit, von Druck, auch von Gewalt, und von Versagen entstehen Lernmüdigkeit und Lernwiderstände. Es gibt bei den Individuen immer konkrete Gründe, zu lernen oder nicht zu lernen. Sie sind eng an die biographischen Erfahrungen, Erwartungen und Interessen gebunden.
4. Gewerkschaftliche Ansatzpunkte
Die gewerkschaftliche Bildungs- und Weiterbildungspolitik steckt in einem doppelten Dilemma: Einerseits gibt es keine Rahmenbedingungen, die das Lernen hinreichend fördern, sondern vielfältige Belastungen; andererseits ist der Anteil der Menschen, der sich der Weiterbildung aus welchen Gründen auch immer entzieht, hoch.
Insofern muss auch eine gewerkschaftliche Strategie beide Bereiche in ihren Fokus nehmen: Sie muss die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Teilnahme verbessern und vorhandene individuelle Lernbarrieren beseitigen. Sie muss aber auch erklären, warum lebenslanges Lernen eine unabweisbare Aufgabe ist. Dazu ist es notwendig, die subjektiven Widerstände abzubauen und die objektiven Chancen zu verbessern. Denn Chancen sind nur so gut wie ihre Realisierungsmöglichkeiten. Gewerkschaften und Betriebsräte können in mindestens vier Bereichen aktiv werden:
Bedingungen für eine lernförderliche Arbeit und den Aufbau einer Lernkultur
Die Entwicklung einer betrieblichen Weiterbildungs- oder Lernkultur muss ein von allen Akteuren getragenes Unternehmensziel sein. An diesem Problem müssen Führungskräfte, Aus- und Weiterbildungspersonal und Betriebsräte gleichermaßen arbeiten. Nur wenn es zu einer Koalition der Innovatoren kommt, kann das Vorhaben Lernkultur gelingen.
In einer Reihe von Betriebs- und Personalräteseminaren wurde von KomNetz[1] nach den betrieblichen Bedingungen gefragt, die Lernen braucht, um erfolgreich wirken zu können. Heraus kamen dabei acht Kategorien, die entscheidend sind:
Lernen braucht Zeit.
Lernen braucht gutes Lern-Klima.
Lernen braucht Spaß.
Lernen braucht sozialen Rückhalt.
Lernen ist positiv, wenn es von und mit anderen geschieht.
Lernen braucht Raum für Experimente.
Lernen braucht Anreize.
Lernen braucht Transparenz.
Inzwischen hat die Weiterbildung in ihrer Bedeutung für die Praxis der Betriebsräte eine steile Karriere gemacht. Lag sie früher lediglich im Mittelfeld der die Betriebsräte beschäftigenden Probleme, steht sie jetzt auf Platz zwei der Betriebsräteagenda. Nach einer WSI-Untersuchung beschäftigen sich zwei Drittel der Betriebsräte mit dem Thema Weiterbildung.
Kompetenzorientierung und -beratung als neue gewerkschaftliche Leistung
Die Entwicklung der eigenen Berufsperspektive wird immer mehr zum zentralen Thema der Beschäftigten. Die Umwälzungen in der Arbeitsgesellschaft bzw. der Einstieg in die "Wissensgesellschaft" können beim Einzelnen erhebliche Veränderungen auslösen, die oft mit Risiken und Ängsten verbunden sind. So muss sich in Zukunft jeder darauf einstellen, mehrmals in seinem Berufsleben den Arbeitgeber oder sogar den Beruf zu wechseln.
In solchen Umbruchsphasen der Lebensbiographie brauchen die Menschen fachkompetenten Rat und Orientierung, auf die sie aber bislang nur unzureichend zurückgreifen können. Die eigene Weiterbildung aktiv zu betreiben, ist für viele Arbeitnehmer eine neue Herausforderung. Die Gewerkschaften können und sollten sich an diesen Schnittstellen zur Arbeitswelt als verlässlicher Partner für Information und Beratung aufstellen.
Aber auch die Betriebs- und Personalräte können dabei helfen, die persönlichen Weiterbildungsziele zu formulieren und zu verwirklichen. Als Weiterbildungsberater sind sie sicherlich vielfach überfordert, nicht jedoch in der Rolle des Bildungslotsen, sozusagen als erste Anlaufadresse in Sachen Weiterbildung.
Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen als Gestaltungsoption
Mit der Ausnutzung betrieblicher und tarifpolitischer Möglichkeiten wollen die Gewerkschaften und ihre Betriebs- und Personalräte das Thema Weiterbildung maßgeblich vorantreiben. Es gibt inzwischen eine Reihe von tarifvertraglichen Regelungen für Branchen, Regionen oder auch Unternehmen. Dennoch haben die Spitzenorganisationen der Arbeitgeber ihren grundsätzlichen Vorbehalt gegen tarifvertraglich abgesicherte Ansprüche von Beschäftigten nicht aufgegeben. Für sie sind dies unerwünschte Eingriffe in das Direktionsrecht der Unternehmensleitungen und in Marktprozesse.
Dem gewerkschaftlichen Engagement für Regelungen in der Weiterbildung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Deutschland mit seiner immer stärker wissensbasierten Ökonomie auf qualifizierte Arbeitsplätze setzen muss. Um diesen Weg mitgehen zu können, müssen die Beschäftigten dazu auch befähigt werden.
Die Regelungsgegenstände in den vorhandenen Tarifverträgen sind sehr unterschiedlich und spiegeln die divergierenden Interessenlagen wider. Es gibt Tarifbereiche, die die harten Fakten der beruflichen Weiterbildung, also Aufwendungen an Geld und Zeit (Arbeitszeitkonten werden als Lernzeitkonten genutzt), regeln. In anderen Verträgen wird das jährliche Qualifizierungsgespräch in den Mittelpunkt gerückt. Ein weiterer Regelungsgegenstand ist die Bedarfsermittlung. Zum Teil ist es auch gelungen, die Mitbestimmungsrechte der Tarifparteien oder Betriebsräte weiter auszubauen bzw. zu präzisieren.
Insgesamt ist festzustellen, dass Tarifverträge die Entwicklung einer Weiterbildungskultur in den Betrieben und Verwaltungen unterstützen. Sie machen das Feld der Weiterbildung zu einem kontinuierlichen Beratungsgegenstand und lösen es aus der Zufälligkeit von Einzelentscheidungen oder betrieblichen Konjunkturen. Das zeigen die Ergebnisse der Begleitforschung zur Einführung des Qualifizierungs-Tarifvertrags in Baden-Württemberg. Betriebsräte mit abstützenden Qualifizierungs-Tarifverträgen engagieren sich stärker für die berufliche Weiterbildung. Der Anteil der Betriebe, die über eine Betriebsvereinbarung verfügen, ist zwischen 2003 und 2005 von ca. 25 Prozent auf 40 Prozent gestiegen. Die Verbindlichkeit wächst. Als positive Veränderung werden v.a. beschrieben: die stärkere Einbeziehung der Beschäftigten; die bessere Ermittlung des Weiterbildungsbedarfs; eine stärkere Berücksichtigung der Weiterbildungsinteressen der gewerblichen Arbeitnehmer; aber auch die Sensibilisierung der Führungskräfte und Vorgesetzten.
Das gilt auch für das Instrument der Betriebsvereinbarungen: Auch sie sind notwendig, um eine entwickelte betriebliche Weiterbildungskultur abzusichern oder die strategischen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, zu erschließen. Sie können dabei helfen, mehr Transparenz in eine gewachsene betriebliche Praxis zu bringen.
Tarifverträge beschränken sich dabei teilweise bewusst auf generellere Regelungstatbestände und sehen dann vor, dass ergänzende betriebliche Vereinbarungen abgeschlossen werden. Nicht selten werden auch technische oder organisatorische Umstellungen begleitet von Regelungen zur Weiterbildung.
Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen zeigen positive Wirkungen bei der Förderung der Weiterbildungsaktivitäten in den Betrieben und Verwaltungen.
Bundesrahmengesetz zur beruflichen Weiterbildung als Impuls für ein gesellschaftliches Weiterbildungsklima
Eine entwickelte Weiterbildungskultur kann sich nur herausbilden als Resultat des Zusammenwirkens vieler Faktoren, als das Ergebnis eines integriertes Politikansatzes. Durch Tarif- und Betriebspolitik setzen die Tarifpartner Rahmenbedingungen, aber die tarifpolitische Gestaltung hat Grenzen. Sie wäre völlig überfordert, wollte man von ihr die Beseitigung der Defizite des Gesamtsystems Weiterbildung verlangen.
Diese setzt vielmehr eine aktive staatliche Weiterbildungspolitik voraus, die die Weiterbildungslandschaft gestaltet, also Rahmenbedingungen setzt für die Sicherung eines Rechts auf Weiterbildung, für Lernzeitansprüche sowie ausreichende Finanzierung, für mehr Beratung und Transparenz, für Zugang und ausreichendes Angebot, für bessere Qualitätssicherung und Zertifizierung.
Der weitreichendste strategische Ansatz zur Umsetzung öffentlicher Verantwortung für die berufliche Weiterbildung ist ein Bundesgesetz, mit dem der Bund die ihm zustehenden Kompetenzen praktisch wahrnehmen würde. Die seit 1998 bestehende gewerkschaftliche "Initiative für Bundesregelungen in der beruflichen Weiterbildung" hat dafür Umsetzungsstrategien formuliert. Sie wird – gestützt auf ein breites Reformbündnis – ihre Anstrengungen forcieren. Zuletzt hat die Expertenkommission zur Finanzierung lebenslangen Lernens in ihrem Abschlussbericht die Herstellung bundeseinheitlicher Rahmenbedingungen gefordert und es ist immerhin bemerkenswert, dass sich diese Forderung jetzt im Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU wiederfindet. Damit, so hoffen die Gewerkschaften, ergeben sich neue Chancen.
Eine Weiterbildungsoffensive in Deutschland braucht strukturelle Reformen, ohne die die Aufforderungen von OECD und EU, vermehrt lebenslanges Lernen zu fördern, ins Leere laufen. Bleiben sie aus, bleibt es hierzulande bei der überwiegend symbolischen Politik. Länder wie Frankreich, Schweden und Dänemark zeigen, dass mehr öffentliche Verantwortung tatsächlich Impulse geben kann.
So hat das 1971 erlassene und in den Folgejahren mehrfach ausgebaute Weiterbildungsgesetz in Frankreich zur Entstehung einer insgesamt weiterbildungsaktiven Gesellschaft beigetragen: Die aufgewandten Mittel und Teilnehmerzahlen haben sich kontinuierlich nach oben entwickelt; die geschaffenen Fonds haben das System von konjunkturellen Schwankungen unabhängiger gemacht und es gibt eine breite Akzeptanz für die gefundene Steuerung der beruflichen Weiterbildungslandschaft.
Ein "Weiterbildungsklima", das die Menschen motiviert, kann man nicht herbeireden. Es existiert erst dann wirklich, wenn Weiterbildung zum selbstverständlichen und kalkulierbaren Teil von Biographien wird. Und das wiederum setzt Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Planungssicherheit für die Menschen voraus. Unbestreitbar kann die Übernahme von mehr gesamtgesellschaftlicher Verantwortung für die Entwicklung des Weiterbildungssystems und die Regulierung der Bedingungen nicht Teilnahme garantieren. Dazu bedarf es letztlich einer Entscheidung des Einzelnen und seiner Bereitschaft zum Lernen als Anstrengung. Unbestreitbar ist aber auch, dass Menschen für eigenverantwortliches, sinnvolles Lernhandeln Unterstützung brauchen. Mehr und bessere Weiterbildung für alle – das ist eben eine neue soziale Frage.
5. Fazit
Die beschriebenen doppelten Lernbarrieren können die Gewerkschaften alleine mit ihren Mitteln nicht abbauen. Dazu bedarf es auch gesellschaftlicher Anstrengungen. Alle Akteure müssen dazu beitragen, dass Deutschland in Sachen Weiterbildung nicht noch weiter zurückfällt.
Die Gewerkschaften und Betriebsräte sind aber besonders in den Betrieben gefordert, die Weiterbildungsabstinenz von Teilen der Belegschaften abzubauen. Gerade den Interessenvertretungen der Arbeitnehmer kann es an diesem Punkt gelingen, Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie müssen vermitteln, dass für Arbeitnehmer die Lernchancen über viele Lebenschancen entscheiden:
Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft,
die Sicherheit des Arbeitsplatzes,
die Chancen auf ein gutes Einkommen,
berufliche Entwicklungsperspektiven,
die Qualität der Arbeit,
neue Erwerbschancen bei Arbeitslosigkeit,
die Innovationskraft und Zukunft des Betriebes.
Zur Aufklärungsarbeit gehört aber auch, dass liebgewordene Vorstellungen nicht mehr tragen. Dazu gehört z.B., dass jede Anstrengung in der Weiterbildung sich direkt und unmittelbar in klingender Münze auszahlt oder dass eine Aufstiegsfortbildung zum Techniker oder Meister auch sofort zu einer entsprechenden Tätigkeit führt. Einkommen und Aufstieg sind wichtig, die Beteiligung am Lernen wird aber entscheidend für alle Lebenszusammenhänge.
[1] Kompetenzentwicklung in vernetzten Lernstrukturen – Gestaltungsaufgabe für betriebliche und regionale Partner – ein gewerkschaftsübergreifendes Projekt (IG Metall, IG BCE, ver.di), finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms "Lernkultur Kompetenzentwicklung".
Inhalt:
Peter Faulstich
Lernen und Widerstände (Leseprobe)
Axel Bolder
Warum Lisa M. und Otto N. nicht weiter weitergebildet werden wollen
Helmut Bremer
Lernen, Lernwiderstände und soziale Milieus
Dieter Gnahs
Organisiertes Lernen – Organisierter Widerstand
Anke Grotlüschen
Lernwiderstände und Lerngegenstände
Petra Grell
Lernen lernen durch kritisch-reflexive Analyse
Wolfgang Wittwer
Berufliche Weiterbildungsberatung
Ursula Herdt
Bildungs-, Berufs- und Weiterbildungsberatung
Karen Schober / Bernhard Jenschke
Zukunft der Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung in Europa
Stephanie Odenwald
Eigenverantwortung contra Beratung? (Leseprobe)
Ingrid Sehrbrock / Sonja Deffner
Gewerkschaftliche Förderung der Weiterbildungsbeteiligung – Bildungscoaching
Thomas Habenicht / Karl-Heinz Hageni
Die berufliche Zukunftsberatung der IG Metall – Der Job-Navigator
Mechthild Bayer / Klaus Heimann
Doppelte Lernbarrieren und gewerkschaftliche Strategien (Leseprobe)
Anhang
Vorschläge für Bundesregelungen in der beruflichen Weiterbildung
Bisher erschienene Gutachten der Gewerkschaftlichen Initiative für Bundesregelungen in der beruflichen Weiterbildung
Autorenreferenz
Mechthild Bayer ist Referentin für Berufsbildungspolitik und Weiterbildung beim ver.di-Hauptvorstand in Berlin. Axel Bolder, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg/Essen. Helmut Bremer, PD Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg. Sonja Deffner ist Referentin der Abteilung Bildung und Qualifizierung beim DGB-Bundesvorstand. Peter Faulstich, Prof. Dr., ist Inhaber des Lehrstuhls für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg. Dieter Gnahs, PD Dr., ist Programmbereichsleiter am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung in Bonn. Petra Grell, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg. Anke Grotlüschen, Prof. Dr., ist Juniorprofessorin für Lebenslanges Lernen an der Universität Bremen. Thomas Habenicht ist Referent für Bildungs- und Qualifizierungspolitik der IGM in Frankfurt a.M. Karl-Heinz Hageni ist IT-Weiterbildungsberater für IG Metall und KIBNET in Frankfurt a.M. Klaus Heimann ist Abteilungsleiter für berufliche Bildung beim Hauptvorstand der IG Metall in Frankfurt a.M. Ursula Herdt ist langjähriges Vorstandsmitglied für berufliche Bildung und Weiterbildung der GEW in Frankfurt a.M. Bernhard Jenschke, Dr., ist Leiter der Berufsberatung und Ausbildungsvermittlung der Bundesanstalt für Arbeit in Berlin-Brandenburg und Präsident der International Association for Educational and Vocational Guidance (IAEVG) in Berlin. Stephanie Odenwald, Dr., ist Vorstandsmitglied für berufliche Bildung und Weiterbildung der GEW in Frankfurt. Ingrid Sehrbrock ist Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des DGB in Berlin. Karen Schober, Dr., ist Leiterin des Referats "Berufsberatung und Berufsorientierung" der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Wolfgang Wittwer, Prof. Dr., ist Professor für Berufsbildung und Betriebliche Bildung an der Universität Bielefeld.