Gesteuerte Demokratie?
Wie neoliberale Eliten Politik und Öffentlichkeit beeinflussen
184 Seiten | 2004 | EUR 12.80 | sFr 23.20
ISBN 3-89965-100-6 1
Titel nicht lieferbar!
Kurztext: Die AutorInnen dieses Bandes nehmen die Interessen, Kanäle und Methoden der Einflussnahme neoliberaler Eliten auf die Politik unter die Lupe. Akteure und Themenfelder werden beleuchtet, Strategien analysiert und neue Ansatzpunkte für mehr Demokratie und eine kritischere Öffentlichkeit vorgestellt.
Neoliberale und wirtschaftliche Eliten nehmen immer stärkeren Einfluss auf Politik und Öffentlichkeit. In die Debatte um die "Reformen" der letzten Monate haben sie massiv neoliberal geprägte Ideen einbringen und verankern können. Auf der anderen Seite werden selbst kleine Ansätze für mehr Umweltschutz oder Gerechtigkeit von Wirtschaftsverbänden und Industrie bekämpft und blockiert, wo es nur geht.
Um Einfluss zu gewinnen, werden gezielt "Reforminitiativen" und Think Tanks gegründet, von der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" bis hin zum "Konvent für Deutschland" unter Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Diese geben sich bürgernah und überparteilich. Dass sie nur eine interessierte Minderheit und ihre Interessen vertreten, wird verschleiert. Auch die Finanzierung bleibt teilweise im Dunkeln.
Dies ist jedoch nur ein Aspekt. Die andere Tendenz ist das offensivere Vorgehen von neoliberalen Eliten in der Öffentlichkeit. So finanziert die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft die Produktion von Fernsehbeiträgen, kooperiert mit verschiedenen Medienunternehmen und platziert ihre Fürsprecher geschickt im Handelsblatt, in der Financial Times Deutschland, in FAZ und Bild.
So sollen Positionen mehrheitsfähig gemacht werden, die auf Werte wie soziale Gerechtigkeit oder Ökologie keine Rücksicht nehmen. Dieter Rickert, Initiator von "Klarheit in die Politik", sagte, dass er seine neue Stiftung als erfolgreich empfände, wenn 2006 "Soziale Gerechtigkeit" zum Unwort des Jahres gewählt würde. Dafür will er von der Wirtschaft 100 Mio. Euro einsammeln. Wie gegen solche Meinungsmacher angegangen werden kann, ist ebenfalls Thema dieses Buches.
Die Herausgeber:
Ulrich Müller ist Politikwissenschaftler und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation FIAN; Sven Giegold ist Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied im Koordinierungskreis von Attac; Malte Arhelger studiert Politikwissenschaft.
Die Beiträge dieses Bandes gehen zum Teil zurück auf die Ergebnisse des Kongresses "Gesteuerte Demokratie?", der von der "Bewegungsakademie e.V." vom 25.-27.6.2004 in Frankfurt a.M. durchgeführt wurde.
Rezensionen
WOZ vom 26.01.2006 - Ressort Wissen "Gesteuerte Demokratie"
Der Kampf um die Köpfe
Von Pit Wuhrer
Wer bewegt welche Ideen? Woher kommt es, dass der Geist rechts steht? Und wie gehen die LobbyistInnen heute mit den Medien um? Der Dialog hatte es in sich. Eine Frau sucht einen Job und bewirbt sich am Telefon. Der Mann am anderen Ende der Leitung gibt den Tarif durch: "Wir sind im Moment ganz besonders auf das Engagement unserer Mitarbeiter angewiesen, Flexibilität steht bei uns an oberster Stelle." Sie: "Ja, vielleicht könnte ich erst mal auf Zwanzig-Stunden-Basis ..." Er: "Oh, das tut mir Leid. Wie gesagt, wir sind ein junges Unternehmen, von einer Fünfzig-Stunden-Woche müssen Sie erst mal schon ausgehen, zumindest am Anfang."
Dieses Gespräch war Teil der Folge Nummer 1936 der ARD-Fernsehserie "Marienhof". Bezahlt hat den Dialog die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Sie liess sich den Eingriff in das Drehbuch dieser und sechs weiterer Folgen 58 000 Euro kosten, ein vergleichsweise günstiger Preis für die Themensetzung (mehr Flexibilität, längere Arbeitszeiten) in einer populären TV-Reihe. Dass sie dadurch unzulässigerweise das Programm eines öffentlich-rechtlichen Senders manipuliert und mit Werbung vermischt hatte, kümmerte die Initiative wenig - schliesslich hat die Organisation mit dem harmlos klingenden Namen und dem bürgernahen Anstrich noch ganz andere Tricks auf Lager.
Die Initiative - sie wurde im Oktober 2000 gegründet - ist ein Kind des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall der deutschen Metall- und Elektroindustrie, der sie mit 8,8 Millionen Euro im Jahr auch finanziert. Ziel der INSM ist nach eigenem Bekunden, "die Menschen in Deutschland für marktwirtschaftliche Reformen" zu gewinnen. Und das tut sie auf allen Ebenen. Sie beschäftigt eine Reihe von PR-Agenturen, lanciert Medienspektakel wie den jährlich vergebenen Preis "Reformer des Jahres", kooperiert mit Zeitungen und Zeitschriften wie dem "Handelsblatt", der "Financial Times Deutschland", der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und der "HörZu", platziert auch in Regionalblättern Texte, schickt fertig produzierte Beiträge an TV-Anstalten, vermittelt InterviewpartnerInnen und Talkshow-Gäste. Im wohl wichtigsten TV-Polit-Talk "Sabine Christiansen" argumentieren oft gleichzeitig mehrere INSM-Mitglieder für diesselbe Sache.
Die Initiative bietet LehrerInnen Unterrichtsmaterial an, organisiert Veranstaltungen an Kinder-Unis und verfügt über eine Garde von prominenten "Kuratoren" und "Botschaftern". Die Bandbreite reicht vom grünen Finanzexperten Oswald Metzger bis zum ehemaligen SPD-Minister Klaus von Dohnanyi, von Lord Ralf Dahrendorf bis zum Historiker Arnuld Baring. Und alle sagen stets dasselbe: Der Staat muss zusammengestutzt werden und die Steuern senken. Der Arbeitsmarkt gehört dereguliert, der Kündigungsschutz gelockert. Die Löhne und die Lohnnebenkosten sind viel zu hoch. Wer soziale Sicherung will, muss selber vorsorgen. Mehr Wettbewerb, mehr Effizienz, mehr Tempo im Bildungsbereich. Und sie prägt Slogans. Das INSM-Schlagwort "Sozial ist, was Arbeit schafft" haben im Wahlkampf 2005 Angela Merkel (CDU), Edmund Stoiber (CSU) und Guido Westerwelle (FDP) nachgeplappert.
Vorbild dieser Initiative und ähnlich gestrickter Vereinigungen wie des Bürgerkonvents und des Konvents für Deutschland ist die 1947 von Friedrich August von Hayek, Karl Popper, Milton Friedman und anderen gegründete Mont-Pelerin-Gesellschaft, ein Netz von neoliberalen Intellektuellen, Thinktanks, Stiftungen und Verbänden, dem auch Gerhard Schwarz, Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion, angehört.
"Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hatten Lobbyisten so viele Einflussmöglichkeiten wie heute, nie zuvor sind sie so offensiv in der politischen und öffentlichen Arena aufgetreten", schreibt Thomas Leif von der JournalistInnen-Organisation Netzwerk Recherche in seinem Beitrag des Buches "Gesteuerte Demokratie?". Und das, so führt er fort, hat auch mit "der inneren Verfassung der Medien", der Verleger-Struktur und dem "veränderten Selbstbild der Journalisten" zu tun, die sich "als Textmanager statt als selbständig recherchierende Reporter" verstehen. Anstelle des Hinterfragens, Nachhakens und der Debattenkultur sei das Tina-Prinzip getreten: "There is no alternative", lautete der Lieblingsspruch der früheren britischen Premierministerin Margaret Thatcher, den inzwischen viele verinnerlicht haben: Es gibt keine Alternative. Dieses Prinzip, so Leif, "ist einer der Hauptgründe für den durchschlagenden Erfolg neoliberaler Ideologie in Wissenschaft und Medien."
Diesen Fehler macht der lesenswerte Sammelband des VSA-Verlags nicht. Neben Beiträgen über die Geschichte neoliberaler Einflussnahme auf das Denken der Menschen, konkreten Fallschilderungen über das Vorgehen von Unternehmerlobbys etwa im Bildungs-, Umwelt- und Gesundheitsbereich und detaillierten Untersuchungen über die Umdeutung von Begriffen ("Reform-Speech") enthält das Buch auch eine Reihe von Texten, die sich mit Strategien gegen die neoliberale Hegemonie beschäftigen.
"Gesteuerte Demokratie? Wie neoliberale Eliten Politik und Öffentlichkeit beeinflussen"
Leseprobe 1
U. Müller / S. Giegold / M. Arhelger
Neoliberale Einflussnahme und gesteuerte Demokratie?
Eine Einführung
Dieser Band versammelt Beiträge des Kongresses "Gesteuerte Demokratie? Wie neoliberale Eliten die Politik beeinflussen", der vom 25. bis 27. Juni 2004 stattfand. Hauptträger des Kongresses war die Bewegungsakademie, ein kritischer Bildungsträger für soziale Bewegungen.[1] Zahlreiche weitere Organisationen unterstützten den Kongress, zu dem 180 TeilnehmerInnen nach Frankfurt a.M. kamen.[2] Erstmals wurde das Thema neuer Einflussnahmen neoliberaler Interessensgruppen öffentlich in der ganzen Breite diskutiert. Zweieinhalb Tage voller spannender Vorträge und Diskussionen – diese Atmosphäre kann dieses Buch nicht wiedergeben. Es ist keine 1:1 Abbildung des Kongresses: Einige Beiträge konnten nicht berücksichtigt werden, andere haben veränderte Schwerpunkte. Allerdings haben wir versucht, die Kernthemen und wichtigsten Beiträge des Kongresses zu dokumentieren.
Gesteuerte Demokratie? – das ist zuerst eine provokante Frage. Wer soll wen oder was steuern? Ausgangspunkt des Kongresses waren Beobachtungen: Erstens nehmen neoliberale und wirtschaftliche Eliten immer stärkeren Einfluss auf Politik und Öffentlichkeit – erkennbar an der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der letzten Monate und Jahre. Zweitens werden Ansätze für mehr Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit von Wirtschaftsverbänden und Industrie bekämpft und blockiert – sei es die EU-Chemikalienpolitik, die Bürgerversicherung oder strikte Vorgaben für den Emissionshandel.
Von diesen Beobachtungen ausgehend kommen verschiedene Akteure und ihre Strategien in den Blick. Welche Rolle spielen neoliberale Think Tanks? Welchen Einfluss haben die neuen neoliberalen bis konservativen "Reforminitiativen" und Kampagnen, die sich in den letzten Jahren Kampagnen gegründet haben? Mit welchen Instrumenten sichern sie sich ihren Einfluss? Welche Rolle spielen die Medien, PR-Agenturen – aber auch die klassischen Verbände? Wie geht die Wirtschaft mit kritischen Stimmen um? Die AutorInnen beleuchten diese Fragen in verschiedenen Politikfeldern und aus verschiedenen Hintergründen, da diese Entwicklungen Umwelt- und Sozialverbände, Gewerkschaften, entwicklungspolitische Organisationen, Medien usw. betreffen.[3]
Dabei geht es immer auch um die Frage, welche Auswirkungen das auf Politik und Gesellschaft hat. Wenn beispielsweise Kampagnen der Arbeitgeberverbände sich als bürgernahe Initiativen geben, wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, verzerrt das die öffentliche Debatte. Wenn Kommissionen, Think Tanks und Lobbyverbände entscheidende Funktionen bei der Politikentwicklung übernehmen und am Ende die unbeteiligte Öffentlichkeit nur noch richtig über die Ergebnisse belehrt werden soll, hat das mit Demokratie wenig zu tun.
Dabei soll der Titel "Gesteuerte Demokratie?" nicht bedeuten, dass am Ende irgendeine kleine Gruppe die Politik steuert.[4] Es gibt keine Zirkel von Industriebossen oder anderen Strippenziehern, die die Fäden in der Hand halten. Es geht um lose verbundene Akteure und Strategien, die sich überlappen, kreuzen und an manchen Stellen auch gegenläufig sind – die in ihrer Gesamtheit allerdings gesellschaftliche Spielräume weiter verengen, Machtasymmetrien verstärken und kritische Stimmen marginalisieren. Diese Tendenzen sind mit der Frage "Gesteuerte Demokratie?" angesprochen. Dabei ist das Fragezeigen durchaus ernst gemeint. Denn der Einfluss von Think Tanks und wirtschaftsnahen Reforminitiativen nimmt zu, hat aber auch Grenzen. Zugleich gibt es gesellschaftliche Widerstände und Ansatzpunkte für mehr Demokratie und Transparenz.[5]
"Neoliberale Eliten"
Wer ist nun mit den "neoliberalen Eliten" gemeint? Wir verstehen diese Formulierung im Sinne von neoliberal geprägt. Sie bezieht sich auf all jene Eliten, die für marktliberale Lösungen eintreten und staatlichen Eingriffen in Wirtschaft und Gesellschaft zu Gunsten von sozialer Gerechtigkeit, Umweltschutz und ähnlichen Werten skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen (siehe den Beitrag von Ralf Ptak in diesem Band). Damit ist eine weite, vielfältige Sammlung von Organisationen und Personen erfasst: Sie reicht von wissenschaftlichen Instituten und ideologisch motivierten Denkfabriken wie der Stiftung Marktwirtschaft über Wirtschaftsverbände und neoliberal geprägte JournalistInnen bis hin zu den neuen "Reforminitiativen" und Kampagnen wie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft oder dem Bürgerkonvent. Diese Eliten können in sich durchaus widersprüchlich sein. So ist es wichtig, zwischen interessegeleiteten Akteuren wie Wirtschaftsverbänden und eigenmotivierten Neoliberalen zu unterscheiden, deren Antrieb aus ihrerWeltanschauung kommt. An manchen Stellen verbinden sich diese Akteure und Interessen, an anderen Stellen kann es durchaus zu Konflikten kommen.
"Elite" ist nicht als normativer Begriff gebraucht, im Sinne einer "Leistungselite", die etwas besonderes geleistet hätte, also anders als in der Debatte um geistige Eliten oder Elite-Universitäten. Wir gebrauchen ihn als Bezeichnung für diejenigen, die über besonderen Einfluss verfügen – über viel "Kapital", sei es Kapital im finanziellen Sinn oder soziales oder kulturelles Kapital. Dabei ist klar, dass "Elite" ein umstrittener Begriff ist Dies ist zum einen historisch bedingt durch den Nationalsozialismus und die Elitetheorien zu Anfang des 20. Jahrhunderts, die von einer naturgemäßen Spaltung in Elite und Masse ausgingen.[6] Zum anderen liegt das Problem darin, dass in der Verwendung des Begriffs oft die beiden skizzierten Bedeutungen verwischen oder zusammenfallen, d.h. dass ein möglicher Zusammenhang zwischen einer gesellschaftlich ausgezeichneten Stellung und persönlicher Leistung in dem Begriff mitschwingt. Ein derartiger Zusammenhang wird hier nicht behauptet – im Gegenteil sogar deutlich verneint. Das eigene "Kapital" wird stark durch soziale und familiäre Faktoren beeinflusst (vgl. Hartmann 2002).
Neoliberale Hegemonie: Ideen, Kommunikation und Organisationen
Allerdings haben neoliberale Eliten durchaus ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein und sehen sich als Leistungselite und Vorreiter/Vordenker. Dies gilt sowohl für Hayeks Überlegungen zur Hegemonie (siehe Dieter Plehwe in diesem Band) wie auch für den Stil der neuen Reforminitiativen. Roland Berger, selbst bei der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und dem Konvent für Deutschland aktiv, Anteilseigner der umstrittenen PR-Agentur WMP Eurocom,[7] Mitglied in Regierungskommissionen und Auftragnehmer bei der Umsetzung von Reformen, formuliert dies offen: "Die Tatsache, dass es Eliten sind, die Dinge in Bewegung bringen, ist doch nicht neu. Es gibt keine Revolution, die nicht von der Elite ausging. Auch Lenin war Elite." (zitiert nach Grill 2003)
Demgegenüber erscheint die breite Bevölkerung als aufzuklärende Masse. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung wird damit zu einem wesentlichen Baustein, um die gesellschaftliche Hegemonie zu erreichen. Mit Hegemonie ist die Vormachtstellung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder die Dominanz bestimmter Ideen gemeint, die sich nicht nur auf Zwangsmittel stützt, sondern letztlich auf eine zumindest passive Akzeptanz der Beherrschten.
Die Entwicklung von Ideen und Konzepten und ihre Verbreitung werden damit zu strategischen Herausforderungen. Neoliberale haben dies von Anfang an systematisch betrieben. Sie haben Forschungsinstitute und forschungsorientierte Think Tanks gegründet, die die neoliberale Theorien, aber auch ihre Umsetzung in konkrete politische Konzepte vorantrieben. Andere Organisationen und Zeitschriften wandten sich stärker der Popularisierung neoliberalen Gedankengutes zu. Sie entwickelten Textformate, die kurz und bündig neoliberale Konzepte vermittelten, unterstützten die Vermittlung neoliberaler Experten an die Medien etc. Dazu kommen gezielte Kampagnen wie "Die Waage" in den 1950ern oder die neueren Reforminitiativen, wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Organisationen wie die Mont Pèlerin-Gesellschaft oder die Atlas Foundation unterstützten die Vernetzung und die Gründung neuer Organisationen (siehe den Beitrag von Dieter Plehwe).
Ideenentwicklung, offensive Kommunikation und gezielter Organisationsaufbau sind wesentliche strategische Erfolgsfaktoren der Neoliberalen gewesen, wobei zielgerichtetes Vorgehen nicht mit zentraler Steuerung gleichzusetzen ist. Es gab und gibt keine kleine Gruppe, die den neoliberalen Kurs bestimmt. Vielmehr besteht die Eigendynamik der Neoliberalen gerade darin, dezentral und durchaus vielfältig zu agieren. Mehr oder weniger zusammengehalten, wenn auch nicht vereinheitlicht, wurde das neoliberale Spektrum durch Organisationen, die die Vernetzung und eine ähnliche Weltanschauung förderten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die unterschiedlichen Zeithorizonte neoliberaler und wirtschaftlicher Einflussnahme. Sie reichen von kurzfristigen Instrumenten wie Kampagnen und Lobbying zu konkreten politischen Projekten bis hin zu langfristigen Komponenten wie der Gründung von Think Tanks und der gezielten Förderung neoliberaler Wissenschaft, um neoliberale Ideen als dominante Strömung zu verankern. Dementsprechend muss die Beschäftigung mit neoliberaler und wirtschaftlicher Einflussnahme viele Instrumente in den Blick nehmen, die oft nicht zusammen betrachtet werden. Dabei sind nicht alle Einflussnahmen oder Einflussmechanismen, auf die hingewiesen wird, im engeren Sinne neoliberal. An manchen Stellen ist der Rahmen weiter gesteckt, um einzelne Instrumente genauer darstellen zu können –. so z.B. bei der einfach ökonomisch motivierten, aber oft neoliberal unterfütterten Gegenwehr gegen soziale oder ökologische Standards, wie die EU-Chemikalienpolitik (siehe den Beitrag von Ulrike Kallee).
Gefährdung der Demokratie
Interessenvertretung ist ein legitimes demokratisches Mittel, was aber nicht bedeutet, dass alle Formen der Einflussnahme legitim sind. Wir sehen in vielen von ihnen massive Probleme und Gefahren für dieDemokratie.
Das offensichtlichste Problemfeld ist die Nutzung illegitimer Mittel zur Einflussnahme. Dabei geht es nicht nur um Korruption.[8] Korruption ist nur ein (illegaler) Mechanismus, um politische Entscheidungen zu beeinflussen. Darüber hinaus gibt es eine große Grauzone von Einflussstrategien, die nicht unbedingt illegal sind, aber zutiefst fragwürdig und problematisch. Sie zielen darauf, die öffentliche Debatte zu dominieren und andere Positionen auszuschließen. Dazu gehören Verschleierungstaktiken oder manipulativer Umgang mit Daten und Fakten. Dass dieses Problemfeld offensichtlich ist, heißt keineswegs, dass es auch tatsächlich thematisiert wird oder entsprechende Sensibilität herrscht. Medien thematisieren oft nicht die Hintergründe einzelner Kampagnen oder Think Tanks, wenn sie über sie berichten oder sogar mit ihnen kooperieren.
Ein zweites grundsätzliches Problem sind die Ungleichgewichte unterschiedlicher Interessen an Ressourcen und Macht(mitteln). Vorgefertigte Fernsehbeiträge, großangelegte Anzeigenkampagnen und Medienkooperationen etc. stehen nicht allen Akteuren offen. Diese Problematik ist in der (schwach ausgeprägten) Verbände- und Lobbyforschung durchaus bekannt (vgl. die Diskussion bei Leif/Speth 2003: 10ff.). In der politischen Praxis, den Medien oder der öffentlichen Debatte gibt es aber wenig Anzeichen für eine konkrete Thematisierung des Problems oder gar Gegenmaßnahmen. Man kann zu dem Schluss kommen, dass diese Machtungleichgewichte nur durch umfassende gesellschaftliche Veränderungen beseitig werden können. Aber es gibt auch im Kleinen durchaus Ansatzpunkte: mehr Transparenz, Schranken für mächtige Interessengruppen oder Gegengewichte schaffen. Ein Gegengewicht sollten u.a. die Medien sein, insbesondere die öffentlich-rechtlichen. Umso problematischer ist es, wenn öffentlich-rechtliche Sender sich (neoliberal geprägte) Beiträge von neoliberalen Initiativen ko-finanzieren lassen und damit finanzstarken Interessen den Zugang zur Öffentlichkeit weiter erleichtern (vgl. den Beitrag von Volker Lilienthal).
Schwieriger noch wird die Frage nach der Legitimität bei der erfolgreichen neoliberalen Personalpolitik und Phänomenen diskursiver Hegemonie. Ist das einfach nur erfolgreiche, legitime Einflussnahme – aufgrund besserer Argumente oder raffinierterer Strategien? Zumindest wenn öffentliche Gremien oder öffentlich unterstützte Gremien nicht mehr ausgewogen besetzt werden, wenn in den Talkshows auch der öffentlich-rechtlichen Sender vor allem eine Seite Gehör findet, wird es problematisch.[9]
Die Diskussion über diese Fragen steckt noch in den Kinderschuhen. Sie ist aber dringend notwendig. Dabei geht es um Analysen und Bewertungen – nicht um eine einfache Verurteilung. Sonst ist die Gefahr groß, bei einer strukturell folgenlosen Skandalisierung einzelner Fälle und Affären stehen zu bleiben.
Allerdings geht es auch darum, Perspektiven und Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Wie kann einseitige Einflussnahme begrenzt werden? Es ist klar, dass diese Frage Antworten in verschiedenen Feldern von Politik und Gesellschaft erfordern. Es geht um politische Regeln, die den Einfluss starker Lobbygruppen begrenzen und den Einfluss einzelner BürgerInnen stärken, es geht um die Förderung einer offenen und kritischen Öffentlichkeit, es geht aber auch um die Schaffung von Gegengewichten in der Gesellschaft und den sozialen Bewegungen. Während es in den USA bereits eine große Zahl an Initiativen gibt, die sich mit den Beeinflussungsmethoden neoliberaler Eliten befassen, steckt dieser Bereich in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Diese Entwicklung zu fördern, ist einer der Ansprüche dieses Buches. Wir hoffen, dass es dazu Anregungen und Impulse liefert.[10]
Literatur
Grill, Markus (2003): Revolution von oben. In: Stern vom 17.12.2003, http://www.stern.de/wirtschaft/unternehmen/magazin/index.html?id=517691 (Stand: 25.8.2004)
Hartmann, Michael (2002): Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und der Wissenschaft. Frankfurt a.M.
Leif, Thomas / Speth, Rudolf (2003): Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland. Wiesbaden.
[1] Mehr Informationen gibt es erhalten Sie im Internet unter www.bewegungsakademie.de.
[2] Hierzu gehören u.a. Attac Deutschland, die BUKO Pharma-Kampagne, Business Crime Control, die KCoordination gegen Bayer-Gefahren, der Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre, die GEW Hessen, Transparency International und viele andere. Die komplette Liste der Unterstützer sowie das Programm des Kongresses steht im Netz finden Sie unter www.gesteuerte-demokratie.de.
[3] Dementsprechend spiegeln die Beiträge oder Positionen nicht unbedingt die Auffassungen der Herausgeber wider.
[4] Nebenbei bemerkt: der Titel bezieht sich nicht auf Putins Regierungsstil, den er selbst "guided democracy" nannte. Die "gelenkte Demokratie" beschränkt zentralistisch und willkürlich die Rechte und Freiheiten der russischen Bürger und geht direkt vom Amt des Präsidenten aus.
[5] Die AutorInnen haben keine einheitliche Idealvorstellung von Demokratie, Transparenz oder Selbstbestimmung. Und wir können natürlich auch nicht in Anspruch nehmen, alle gesellschaftlichen, ökonomischen oder politischen Machtverhältnisse in den Blick zu nehmen.
[6] Vgl. zur Entwicklung des Elitebegriffs auch Hartmann 2002, S. 10ff.
[7] WMP Eurocom war die Agentur, die die Bundesagentur für Arbeit für Millionenbeträge bei der Kommunikation unterstützen sollte – die Auftragsvergabe war Auslöser der sogenannten "Gerster-Affäre" von Ende 2003.
[8] In manchen Fällen kreist ist die ist es sogar ein Problem, dass die öffentlich Debatte zu schnell um Fragen der Korruption kreist. Damit geraten grundsätzlichere strukturelle Fragen in den Hintergrund und die öffentliche Debatte dreht sich v.a. um das Fehlverhalten einzelner Personen.
[9] Beispiele aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt es viele, z.B. wenn Roman Herzog und Klaus von Dohnanyi auf Phoenix zu zweit über Föderalismusreform ""diskutieren"", beide aber Vertreter des "Konvents für Deutschland sind".
[10] Als Plattform dazu kann die Webseite www.gesteuerte-demokratie.de genutzt werden.
Inhalt:
U. Müller / S. Giegold / M. Arhelger
Gesteuerte Demokratie? (Leseprobe)
Eine Einführung
Netzwerke
Ralf Ptak´
Neoliberalismus: Geschichte, Konzeption und Praxis
Dieter Plehwe
Internationale Vorbilder und transnationale Organisation deutscher Neoliberaler
Akteure
Ulrich Müller
"Reform"initiativen
Werner Rügemer
Schlanker Staat, fette Berater
Politikfelder
Oliver Schöller
Gestiftete Bildung
Das Centrum für Hochschulentwicklung
Ulrike Kallee
Wie die Industrie eine Umweltverordnung weichspült
EU-Chemikalienpolitik: Ein Drama in drei Akten
Anke Martiny
Gesundheitssystem – wer steuert wie?
Intransparente Lobby-Strukturen fördern Betrug und Korruption
Instrumente
Thomas Leif
Wer bewegt welche Ideen?
Medien und Lobbyismus in Deutschland
Manuel Lianos
Gesteuerte Hauptstadt?
Die Berliner Lobbyszene
Stephan Hebel
Reform-Sprech
Wie sich der Neoliberalismus seine Begriffe sichert
Claudia Peter
Astroturf und andere Tricks der Konzerne
Volker Lilienthal
Formierte Öffentlichkeit
Wie die Industrie programmprägend wirkt
Perspektiven
Laura Miller
Verdeckte Einflussnahme und PR-Kampagnen entlarven
Gerald Häfner
Direkte Demokratie erkämpfen
Von der gesteuerten Demokratie zum Kampf um das Steuerruder
Christiane Leidinger / Ulrich Müller
Initiativen für eine kritische Öffentlichkeit
Christiane Zerfaß
Wir müssen dauerhaft aus der Defensive heraus
Thomas Seibert
Abbruch und Neubeginn
Perspektiven sozialer Bewegung in postfordistischer Zeit
Sven Giegold
Alternativen zur neoliberalen Vorherrschaft
Neun Herausforderungen
Ulrich Müller
Neoliberaler Einflussnahme entgegensteuern
Ausblick
Links
Literatur
Autorenreferenz
Malte Arhelger, studiert Politikwissenschaft am Institut d'études politique de Paris in Nancy. Sven Giegold, Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied im Koordinierungskreis von Attac Deutschland. Gerald Häfner, Publizist, Gründer und Vorstandssprecher von Mehr Demokratie e.V., ehemaliges Mitglied des Bundestages für die Fraktion Bündnis90/Die Grünen. Stephan Hebel, stellvertretender Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau", Mitherausgeber des Buches "Zukunft sozial: Wege zu mehr Gerechtigkeit". Ulrike Kallee, Umweltwissenschaftlerin, Mitarbeiterin des BUND im Projekt Chemikalienpolitik. Dr. Thomas Leif, Journalist. Dr. Christiane Leidinger, Politologin, seit 1997 Lehrbeauftragte für Politische und (lesbisch-)feministische Theorie und Geschichte an der Freien Universität und der Humboldt-Universität in Berlin. Manuel Lianos, stellvertretender Chefredakteur der Fachzeitschrift "politik&kommunikation". Dr. Volker Lilienthal, Medienjournalist, stellvertretender Ressortleiter epd medien und Fachautor für Medienthemen. Dr. Anke Martiny, stellvertretende Vorsitzende von Transparency International in Deutschland, ehemaliges Mitglied des Bundestages für die SPD-Fraktion. Laura Miller, PR-Kritikerin, Mitarbeiterin des Center for Media & Democracy, der Trägerorganisation von PR Watch in den USA. Ulrich Müller, Politikwissenschaftler, organisierte mit der Bewegungsakademie den Kongress "Gesteuerte Demokratie?". Er arbeitet zudem für die Menschenrechtsorganisation FIAN Deutschland. Claudia Peter, freie Journalistin, Autorin des Buches "Deckmantel Ökologie" (1995). Dr. Dieter Plehwe, Wissenschaftszentrum Berlin/International Center for Advanced Studies (New York University) und Mit-Initiator der Forschungsgruppe Buena Vista Neoliberal zu neoliberalen Think Tanks. Dr. Ralf Ptak, Hochschullehrer für Volkswirtschaftslehre am Seminar für Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Dr. Werner Rügemer, Publizist und Berater, Mitglied des Vorstandes von Business Crime Control. Dr. Oliver Schöller, Wissenschaftszentrum Berlin und Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität in Berlin, Mitglied der Forschungsgruppe Buena Vista Neoliberal. Dr. Thomas Seibert, Philosoph, Mitarbeiter von medico international Dr. Christiane Zerfaß, Leiterin der Abteilung "Strategische Planung" des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).