EuroMemo 2002
Hrsg. von der Europäischen Memorandum-Gruppe
176 Seiten | 2003 | EUR 16.50 | sFr 29.50
ISBN 3-89965-020-4
Die Arbeitsgruppe "europäischer WirtschaftswissenschaftlerInnen für eine Alternative Wirtschaftspolitik in Europa" macht Vorschläge für den Ausbau des europäischen Sozialmodells, die von über 300 europäischen ÖkonomInnen unterstützt werden.
Seitdem der Stabilitäts- und Wachstumspakt faktisch zusammengebrochen ist, gerät der neoliberale Kurs der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik zunehmend unter Kritik. Die Geldpolitik würgt die Produktion ab, die Finanzpolitik der Mitgliedsländer steht unter dem Diktat des Haushaltsausgleichs, eine eigenständige europäische Beschäftigungspolitik gibt es nicht, und die "Modernisierung" der sozialen Sicherungssysteme läuft auf eine Privatisierung hinaus, die den Versicherten vor allem Unsicherheit bringt und nur den großen Akteuren auf den Finanzmärkten nutzt.
Das Memorandum orientiert auf den Erhalt bzw. den Ausbau eines eigenständigen demokratischen Sozialmodells für Europa. Im Zentrum stehen dabei neben einer ausführlichen Kritik an den Rentenreformen in der EU, Vorschläge zur Verteidigung und für den demokratischen Ausbau des öffentlichen Sektors, für eine fortschrittliche Finanzpolitik und die Herstellung eines europäischen Finanzmarktes, der spekulative Turbulenzen vermeidet und in eine gesamtwirtschaftliche Entwicklungsstrategie eingebunden wird.
In der Europäischen Memorandumsgruppe arbeiten u.a. mit: Miren Etxezarreta (Barcelona), John Grahl (London), Jörg Huffschmid (Bremen), Jacques Mazier (Paris)
Leseprobe 1
Zusammenfassung
1. Der faktische Zusammenbruch des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist der jüngste öffentliche Beleg für das Scheitern europäischer Wirtschaftspolitik. Die Europäische Union (EU) ist in den letzten Jahren nicht in der Lage gewesen, die problematische Entwicklung der europäischen Wirtschaft zutreffend zu beurteilen und vorauszusehen, und sie war auch unfähig, einen positiven Einfluss auf Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand auszuüben. Die Gründe für dieses politische Scheitern liegen in dem extrem engen theoretischen Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung und in den starren institutionellen Strukturen, die diesen Ansatz untermauern.
2. Die Arbeit des gegenwärtig tagenden Europäischen Konvents hat dieses Scheitern nicht zur Kenntnis genommen und versucht, die ihm zugrunde liegende Ideologie und institutionelle Struktur zu erhalten und zu befestigen. Sie steht dem Konzept eines besonderen europäischen Sozialmodells feindselig gegenüber und hat es nicht einmal auf ihre Tagesordnung gesetzt.[*] Wenn diese Tendenzen sich durchsetzen, würde das zu einer anhaltenden Schwäche der wirtschaftlichen Entwicklung und einer weiteren Demontage historischer sozialer Errungenschaften in Europa führen. Es würde auch die Integration der mittel- und osteuropäischen Länder im Rahmen einer gesamteuropäischen Entwicklungsstrategie behindern.
3. Als Alternative zu dieser unattraktiven Aussicht schlagen wir eine gründliche Reform der Wirtschafts- und Sozialpolitik vor. Ihre Hauptorientierungspunkte sollen die Ziele Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, Wohlstand und ökologische Nachhaltigkeit sein, die die Eckpunkte eines europäischen Sozialmodells darstellen. Die Konkretisierung dieser Eckpunkte müssen Gegenstand breiter öffentlicher Diskussion und eines demokratisch legitimierten Prozesses sein, in dem Prioritäten gesetzt und Irrtümer korrigiert werden.
4. Vorschläge zur stärkeren Orientierung der Wirtschaftspolitik an einem Europäischen Sozialmodell
4.1. Die Grundlagen für eine demokratischere und wirksamere gesamtwirtschaftliche Steuerung sollten gefestigt werden.
Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente sollten stärker an der wirtschaftspolitischen Koordinierung beteiligt werden. Der Aufgabenbereich der Europäischen Zentralbank sollte ausgeweitet werden und auch Vollbeschäftigung und nachhaltiges Wachstum umfassen. Der Haushalt der EU sollte bis 2007 auf 5% des Bruttoinlandsproduktes der EU steigen. Der Steuerwettbewerb sollte durch die Harmonisierung der Unternehmenssteuern und die gegenseitige Information über ausländische Kapitaleinkommen ausgeschaltet werden.
4.2. Die Grundlage für ein stärkeres europäisches Engagement für die soziale Wohlfahrt sollte geschaffen werden.
Alle Mitglieder der Gesellschaft sollten ein bedingungsloses Recht auf würdige Lebensbedingungen haben. Es sollten Mindeststandards für Sozialausgaben eingeführt werden. Die öffentlichen Systeme der sozialen Sicherheit, insbesondere das Rentensystem, sollten aufrechterhalten, ausgebaut und keinesfalls privatisiert werden.
4.3. Die öffentlichen Dienstleistungen in Europa sollten gestärkt und der neoliberalen Logik hemmungsloser Konkurrenz nicht untergeordnet werden. Wege, auf denen dies erreicht werden kann, sind die Festlegung nationaler Ausnahmen vom europäischen Wettbewerbsrecht, die Festlegung einer europäischen Rahmenrichtlinie oder die Entwicklung gemeinsamer Mindeststandards für Dienstleistungen im öffentlichen Interesse.
4.4. Bei der Regulierung der Finanzmärkte muss das öffentliche Interesse durchgesetzt werden. Das erfordert den Schutz öffentlicher und genossenschaftlicher Institute vor ruinöser Konkurrenz und die Stärkung und Konsolidierung der Aufsichtsstrukturen in der EU. Auch die Übernahmerichtlinie sollte in dem Sinne überarbeitet werden, dass sie die Interessen der Beschäftigten, der Gemeinden und der kleinen und mittleren Unternehmen berücksichtigt.
[*] In Reaktion auf diese Proteste hat der Konvent im November 2002 eine Arbeitsgruppe "Soziales Europa" eingerichtet.
Inhalt:
Autorenreferenz
Die "Arbeitsgruppe europäischer WirtschaftswissenschaftlerInnen und Wirtschaftswissenschaftler für eine alternative Wirtschaftspolitik in Europa" (Euromemorandum-Gruppe) ist ein seit 1995 bestehendes Netzwerk von WirtschaftswissenschaftlerInnen, die sich kritisch mit der vorherrschenden Wirtschaftspolitik in Europa und mit den dieser Politik zugrunde liegenden theoretischen und gesellschaftlichen Konzepten auseinandersetzen. Ein besonderer Schwerpunkt der Arbeitsgruppe besteht darin, Alternativen zu dieser neoliberalen Politik auszuarbeiten und zu verbreiten. Derartige Alternativen beziehen sich sowohl auf die unmittelbare kurzfristige Politik als auch auf die längerfristige Verbesserung der Instrumente europäischer Wirtschaftspolitik und grundlegende Reformen in den wirtschafts- und sozialpolitischen Institutionen der Europäischen Union. Die Orientierungspunkte der Alternativen sind Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Die Arbeitsgruppe hat seit 1997 vier Memoranden vorgelegt, deren Kurzfassungen jeweils von mehreren Hundert ÖkonomInnen durch Unterschrift unterstützt worden sind.
Das vorliegende Memorandum 2002 ist auf der achten Konferenz der Arbeitsgruppe vom 27.-29. September 2002 in Brüssel in seinen Grundaussagen diskutiert und verabschiedet worden und wird von über 300 WirtschaftswissenschaftlerInnen aus allen EU-Mitgliedsländern und aus osteuropäischen Beitrittsländern unterstützt.
Homepage der Arbeitsgruppe: www.memo-europe.uni-bremen.de
Kontakt
Prof. Miren Etxezarreta, Universitat Autònoma de Barcelona,
Miren.Etxezarreta@uab.es
Prof. John Grahl, University of North London Business School,
J.Grahl@unl.ac.uk
Prof. Jörg Huffschmid, Universität Bremen,
Huffschmid@ewig.uni-bremen.de
Prof. Jacques Mazier, Université de Paris Nord,
Mazier@seg.univ-paris13.fr