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Axel Gerntke / Werner Rätz / Claus Schäfer u.a.

Einkommen zum Auskommen

Von bedingungslosem Grundeinkommen, gesetzlichen Mindestlöhnen und anderen Verteilungsfragen
Herausgegeben von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen

112 Seiten | 2004 | EUR 9.80 | sFr 17.90
ISBN 3-89965-110-3

 

Mit diesem Buch soll die Diskussion um existenzsichernde Einkommen und Teilhabe befördert und einen Beitrag zur politischen Meinungsbildung geleistet werden.

Angesichts der absehbaren Folgen der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosen zum "Arbeitslosengeld II" (Hartz IV) vertritt ein Teil der "Erwerbslosenbewegung" offensiv die Forderung nach einem "bedingungslosen Grundeinkommen". Die Forderung wird auch vehement bei Aktionskonferenzen gegen Sozialkahlschlag und Bündnistreffen zur Vorbereitung von Protestaktivitäten vorgebracht und ruft vielfach Irritationen und Ablehnung – insbesondere bei Gewerkschaften – hervor.

Aus Sicht der Koordinierungsstelle bzw. aus Sicht der gewerkschaftlichen Arbeitsloseninitiativen kann die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen inhaltlich nicht überzeugen und sie ist kontraproduktiv für die aktuelle politische Auseinandersetzung um die Politik der Agenda 2010. Gleichwohl muss die Frage nach einem existenzsichernden Einkommen und Teilhabe geführt werden. Die Autoren dieses Buches stellen Hintergründe von Armut und Arbeitslosigkeit dar und diskutieren unterschiedliche Ansätze.

Leseprobe 1

Bernhard Jirku
Vorwort: Mindestlohn und Grundeinkommen


Wenn die Not am größten ist...
zumindest ist dann die Rettung am dringendsten. Wo sie am nächsten bzw. am sichersten ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Einige Positionen setzen auf kurz- und mittelfristige Mehrheitsfähigkeiten und Realisierungschancen. Andere Positionen gehen die Probleme grundsätzlicher und langfristiger an.

Im Kontext globaler politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen, im Zusammenhang mit der europäischen Agenda 2010 – in Deutschland auf den Punkt »Hartz IV« gebracht – hat sich die Frage von Armut und Reichtum in Deutschland erneut zugespitzt. Unter dem Sozialgesetzbuch II werden ab Januar 2005 von Langzeitarbeitslosen fast alle Tätigkeiten verrichtet werden müssen: Jobs mit 30% unter Tarif sind dann ebenso zulässig wie Arbeitsgelegenheiten für 1 Euro Mehraufwandsentschädigung pro Stunde. Das sind Arbeits- und Lohnbedingungen von denen (allein) man in der Regel nicht leben kann.

Durch das Arbeitslosengeld II werden im Januar 2005 die Haushaltseinkommen von weit mehr als einer Millionen Personen deutlich, zum Teil teilweise drastisch abgesenkt. Aussichten auf existenzsichernde Beschäftigung sind seit mehreren Jahren rückläufig. Unter den neuen Zumutbarkeitsregelungen für Jobs und den vorgesehnen Sanktionsmechanismen wird eine abgesicherte Existenz jenseits der Armutsgrenzen unwahrscheinlicher.

Durch die neue Grundsicherung für Arbeitssuchende werden in 2005 Millionen von Menschen neu in absolute Armut kommen. Das frühere Sozialhilfeniveau wurde durch Pauschalierungen neu definiert – Experten diskutieren inwieweit es beibehalten, abgesenkt oder erhöht wurde. Wie auch immer: Ein sorgloses Leben ist weder mit Niedriglöhnen noch auf einem neu definierten Sozialhilfeniveau gegeben.

Betroffene sind Arbeitslosenhilfeempfänger/innen, die sich bislang mit einer Arbeitslosenhilfe von vielleicht 750 Euro (netto) und einem Hinzuverdienst von ca. 150 Euro (netto) gut »über Wasser« halten konnten. Durch die Verkürzung von ABM auf sechs Monate, die Absenkung der ABM-Löhne und die Abschaffung der Arbeitslosenversicherung bei ABM hatten sich die Lebensbedingungen der auf dem 2. Arbeitsmarkt tätigen Langzeitarbeitslosen bereits seit Jahren verschlechtert. Nun drohen für viele Einkommenseinbußen von weit über 10%, teilweise 30%.

Betroffene sind Arbeitslose, die einen Niedriglohn-Job suchen. Aus Einstiegslöhnen 10% unter Normaltarif droht ein Minus von 30% zu werden. Ohnehin niedrige Tarife (z.B. bei der Leiharbeit) sollen für Langzeitarbeitslose unterlaufen werden können. Aus einem Tariflohn von 7,50 Euro kann ein Bruttolohn von 5,25 Eur werden.

Wenn die Not am größten ist...
ist die Suche nach Erfolgsrezepten am gefragtesten. Kaum verwunderlich, dass in dieser Lage von den Gewerkschaften auf die wirtschaftspolitischen Kontexte, jahrzehntelange Umverteilungsprozesse, tarifpolitische Ansätze verwiesen wird. Wenig erstaunlich, dass Sozialverbänden auf rechtliche Fragen und sozialpolitische Erfordernisse hinweisen. Nicht überraschend, dass in Intellektuellenkreisen Grundsatzdiskussionen zur Neuausrichtung des Sozialstaats und der Weltwirtschaftsordnung gefordert werden.

Positionen, die nebeneinander stehen? Die sich ergänzen? Die sich ausschließen? Die verschiedene Aspekte beleuchten? Die auf andere Strategien setzen? Die unterschiedliche Erfolgsaussichten haben?

Anliegen dieses Buches ist es, einige der nicht erst seit kurzem bestehenden Positionen, der kursierenden Meinungen, der verschiedenen Analysen, der unterschiedlichen Ansatzpunkte unter dem Vorzeichen einer sich verbreitenderen Verarmungsagenda zusammen- und zur Diskussion zu stellen.

Gemeinsam ist den Autoren die Suche nach aussagekräftigen Interpretationen sozio-ökonomischer Zusammenhänge und korrespondierenden probaten Handlungsoptionen, um den Verarmungstendenzen hier und andernorts entgegenzutreten. Und nicht zuletzt, um auch ärmeren Bevölkerungsschichten eine humanere Perspektive und um den Regionen eine nachhaltigere Prosperität zu geben.

Berlin, im September 2004


Leseprobe 2

Werner Rätz
Es ist wirklich genug für alle da!


Attac Deutschland hat auf seinem Ratschlag im Oktober 2003 in Aachen im Konsens die Einrichtung eines Schwerpunktes mit dem programmatischen Titel "Es ist genug für alle da" beschlossen. Das geschah in der Überzeugung, dass jeder Mensch ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und am gesellschaftlichen Leben hat – und zwar, so hatte es damals in der Begründung des Beschlussantrages geheißen, "einfach so, nur weil es ihn gibt. Das muss sich niemand verdienen, nicht durch Arbeit, nicht durch Wohlverhalten, durch nichts. Das ist ein Menschenrecht! Und wir wissen: Es ist genug für alle da!"

Im Rahmen dieses Schwerpunktes hat Attac natürlich auch zu einer Reihe von Fragen des sozialen Kahlschlags in der Bundesrepublik Stellung genommen, sich aber im Wesentlichen bemüht, deutlich herauszustellen, dass ein solcher menschenrechtlich begründeter Standpunkt auch global eingefordert werden muss. Der aktuelle Prozess der Vermarktlichung sämtlicher Lebensbereiche erfasst die ganze Welt. Ob die einzelnen Staaten nun von "Strukturanpassungsprogrammen" wie meist im Süden, der "Strategie von Lissabon" wie in der Europäischen Union oder "Agenda 2010" wie in der Bundesrepublik reden: Die neoliberale Globalisierung ist der Hintergrund, auf dem weltweit die Verarmung von immer mehr Menschen stattfindet. Dem kann nur in einer Perspektive weltbürgerlicher Solidarität begegnet werden. Das ist gemeinsame Überzeugung in Attac Deutschland.

Die Arbeitsgruppe, die den Schwerpunkt gestaltet, hat das in der Forderung nach einem Mindesteinkommen konkretisiert. In einer Gesellschaft, die die Beteiligung der Einzelnen weitgehend über Erwerbsarbeit herstellt, muss eine Erwerbstätigkeit auch die wirkliche Teilhabe am Reichtum und dem gesellschaftlichen Leben ermöglichen: Von Arbeit muss man leben können. Arbeitseinkommen sollten eine bestimmte Schwelle nicht unterschreiten dürfen. Wir fordern also einen gesetzlichen Mindestlohn. Nicht nur wegen der Massenarbeitslosigkeit, sondern auch aus den erwähnten grundsätzlichen Überlegungen müssen aber auch die abgesichert sein, die kein Arbeitseinkommen haben. Wir fordern also ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle – das in Attac-Zusammenhängen meist "Existenzgeld" genannt wird, ohne dass wir uns damit ausdrücklich auf das so benannte Modell beziehen würden, das in diesem Buch ebenfalls vorgestellt wird.

Diese gemeinsame Position der Schwerpunkt AG (Mindesteinkommen in Form von Mindestlohn und Existenzgeld) wird gegenwärtig in Gesamt-Attac diskutiert. Es gibt breite Zustimmung und die Erwartung, dass darüber beim kommenden Ratschlag Konsens hergestellt werden kann. Damit bleiben aber einige von Fragen offen. Die betreffen sowohl konkrete Aspekte der Umsetzung – etwa: Wie soll das Verhältnis von Mindestlohn und Existenzgeld sein, was würde das in Zahlen heißen, wie wird das finanziert? – als auch grundsätzliche Themen. Es gibt auch in der AG sehr verschiedene Zugänge zu der oben skizzierten gemeinsamen Überzeugung. Manche sehen vorrangig eine Verteilungsfrage, andere gehen eher von einer moralischen Verpflichtung zu solidarischer Hilfe aus, einige überlegen von einem Standpunkt wirtschaftlicher Problemlösung her.

Der vorliegende Text ist in dieser Debatte nur ein Beitrag. Ich vertrete einen Ansatz, der die Tatsache grundsätzlich hinterfragt, dass in unserer Gesellschaft Teilhabe ganz überwiegend über Erwerbsarbeit hergestellt wird. Ich denke, dass Arbeit im Kapitalismus eine ganz bestimmte Funktion hat, nämlich, verkürzt gesagt, die Integration in ein System von Ausbeutung und Herrschaft sicherzustellen. Ein auf solche Arbeit gegründetes Modell von Vergesellschaftung kann einem emanzipatorischen Anspruch prinzipiell nicht genügen. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen meine eigenen, nur von mir zu verantwortenden Überlegungen, auch wenn sie in der Attac-internen Diskussion durchaus einiges an Zustimmung erfahren.

Wir leben in einer Gesellschaft, die über Reichtum in niemals gekannter Größe verfügt. Das gilt durchaus weltweit. Die Mittel, um allen Menschen ein halbwegs ordentliches Leben zu sichern, sind vorhanden. Ernährung, Basisgesundheitsversorgung, Schulbildung, Wohnung und Mobilität für alle wären mit den vorhandenen Mitteln durchaus organisierbar. Heute schon werden erheblich mehr Lebensmittel erzeugt, als Menschen zum Sattwerden brauchten. Es gibt genügend Ärztinnen und Lehrer, ausreichend Wissen darum, wie man ressourcenschonend Wohnungen bauen und Nahverkehrssysteme errichten kann. Daraus kann aber lediglich geschlossen werden, dass es grundsätzlich möglich ist, genug für alle herzustellen. Keineswegs reicht es, nur den politischen Willen aufzubringen und die Dinge richtig zu verteilen, und alles wäre in bester Ordnung. Vielmehr ist die Unordnung nicht zufällig, sondern hat systematische Ursachen.

Der Kapitalismus definiert Ökonomie als die Verwaltung von Knappheit. Reichtum heißt unter dieser Voraussetzung, dass ich mir einen möglichst großen Anteil des Gesamtkuchens sichere. Das bedeutet kleinere Anteile der anderen Beteiligten. So gibt es Reichtum immer nur durch und wegen Armut. Anders ausgedrückt muss das einzelne Kapital wachsen, also, wenn es einmal investiert wurde, daraus als ein größeres wieder hervorgehen. Zunehmend gibt es Anzeichen dafür, dass diese erweiterte Reproduktion des Gesamtkapitals nicht mehr erfolgreich stattfinden kann. So wird, was für das Einzelkapital als Verschärfung der Konkurrenz erscheint, für den Kapitalismus zu einer Krise des gesamten fordistischen Reproduktionsregimes.

Zu dessen Gelingen war es unerlässlich, dass die Nachfrage auf den Märkten in der Regel in der Lage war, das gesamte Ergebnis kapitalistischer Produktion zu kaufen. Nur unter dieser Voraussetzung war Vollbeschäftigung überhaupt möglich. Nun wächst aber die Arbeitsproduktivität seit längerer Zeit schneller als die kaufkräftige Nachfrage. Diese kann nicht, wie es manchen (neo)keynesianischen Ökonomen vorzuschweben scheint, willkürlich erhöht werden, indem man den Leuten mehr Geld gibt. Vielmehr müsste eine Krisenlösung innerhalb des Kapitalismus eine Antwort darauf finden, wie im großen Rahmen Arbeitskraft in die Produktion von Gütern und Dienstleistungen neu eingebunden und ihre Produkte erfolgreich am Markt abgesetzt werden könnten. Die Märkte müssten also deutlich schneller wachsen als die Arbeitsproduktivität. Die technologischen Entwicklungen der Gegenwart lassen eine solche Lösung zumindest nicht unmittelbar erwarten.

Dabei muss Produktivität deutlich vom kapitalistischen Wachstumsbegriff unterschieden werden. Hier geht es darum, dass wirklicher Reichtum geschaffen, benutzbare Produkte hergestellt, notwendige Verrichtungen getätigt werden. Die Arbeitszeit, Kraft, Fantasie, die darauf in der Vergangenheit verwandt wurden, sind nicht einfach verloren, sondern haben materielle Gestalt angenommen. Sie existieren in Maschinen, Verfahren, Wissen nach wie vor. Dieser ganze Fundus geht in jeden neuen Arbeits- und Produktionszyklus ein und wächst kontinuierlich. Im gesellschaftlichen Gesamtprodukt stellt er heute den mit Abstand größeren Anteil gegenüber der jeweiligen neuen Wertschöpfung durch neu verausgabte Arbeit.

Die kapitalistische Bewertung ist dagegen lediglich eine monetäre Berechnung. Im Bruttoinlandsprodukt (BIP) erscheint der Bau einer Fabrik ebenso wie ihre Vernichtung als Geldausdruck. Deshalb können auch alle Versuche, durch Umverteilung von Geldern innerhalb des Systems soziale Verwerfungen anzugehen, keine Antwort auf die umfassende Krise des fordistischen Reproduktionsregimes und damit die soziale Frage geben. Wenn es Ernst wird, kann man Geld eben nicht essen. Damit darf natürlich nicht übersehen werden, dass solche Umverteilungen für die Betroffenen zu erheblichen Verbesserungen ihrer Lage führen können.

Alle tatsächlichen Krisenlösungsversuche gehen denn auch in eine andere Richtung und stellen den fordistischen Klassenkompromiss in Frage. Man versucht seit langem durch Verdichtung der Arbeit oder das Ergattern von Extraprofiten in Form von Rationalisierungsvorteilen und staatlichen Subventionen den Profit zu erhöhen. Unternehmenszusammenschlüsse und -übernahmen erzielen – Personaleinsparungen in neuen Größenordnungen sind die Folge. Zunehmend werden auch neue Instrumente wichtig. Die Investition in immer neue Finanzprodukte gehört ebenso dazu wie die Verwandlung bisher nicht kapitalisierter Sphären in Waren. Hiervon ist der Bereich des Sozialen überall unmittelbar betroffen, etwa in den bisher umlagefinanzierten Sozialsystemen oder anderen Bereichen öffentlich organisierter Daseinsvorsorge wie z.B. der Wasserversorgung.

Zentraler Punkt bleibt, dass die Steigerung der Arbeitsproduktivität dazu führt, dass der gesamte gesellschaftliche Reichtum mit weniger Arbeitskraft hergestellt werden kann. Eine – rational nahe liegende – entsprechende Verkürzung der Arbeitszeit der einzelnen ProduzentInnen ist in einer Konkurrenzökonomie nicht möglich. Sie würde zulasten der Gewinne gehen. Da dennoch der Arbeitsbedarf sinkt, entsteht Massenarbeitslosigkeit als dauerhaftes Phänomen. Das wiederum ermöglicht erfolgreiche Bemühungen um die Senkung des Preises der Arbeitskraft. Die marktschreierische Debatte um die "Lohnnebenkosten" war ja erkennbar nur der Anfang von Lohnsenkungen auf breiter Front. Damit allerdings entsteht das Dilemma, dass das zu lösende Problem durch die angewandten Mittel verschärft wird. Immer größere Kapitalmassen können ihre erweiterte Reproduktion kaum sichern, weil ihre Produkte von den Märkten nicht aufgenommen werden können. Die steigende Arbeitsproduktivität verringert die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Herstellung des Gesamtprodukts kontinuierlich. Die Maßnahmen der Einzelkapitale zur Krisenbewältigung führen zu einem sinkenden Anteil des variablen Kapitals, also der Arbeitskraft, die aber die Quelle des Mehrwerts, also des Profits, bleibt.

Weltweit werden so immer weniger Menschen halbwegs dauerhaft in die kapitalistische Verwertung eingebunden. Das drückt sich übrigens nicht nur in Massenarbeitslosigkeit aus, sondern auch darin, dass nicht nur Einzelne oder kriminelle Banden, sondern auch Großgruppen und tendenziell ganze Gesellschaften in Raub- und Kriegsökonomien einen persönlichen Überlebensweg suchen. Der Zerfall von Staatlichkeit, die Unterordnung aller gesellschaftlichen Abläufe unter die Notwendigkeiten des Krieges von der Rekrutierung von Kindern zu Kämpfern und Prostituierten bis hin zum Verzicht auf jegliche Produktion sind das Ergebnis. Auch das Phänomen des Terrorismus hat damit zu tun, dass es eine Vielzahl von Menschen gibt, für die es keine sinnvollen Orte in einer funktionierenden Ökonomie zu geben scheint.

So wird das kapitalistische Konkurrenzprinzip ins Verhalten von Individuen und Gruppen übernommen. Von der Herrschaftsseite her bedeutet das, dass es kein Versprechen der sozialen Integration mehr gibt, sondern nur eines der angeblichen "Sicherheit": Wenn ihr euch fügt, einpasst, nicht aufbegehrt, dann halten wir euch die Mafia und die Terroristen vom Hals. Aber nicht einmal darauf kann sich jemand verlassen. Die US- und EU-Definitionen von "Terrorismus" sind so vage gehalten, dass sie tatsächlich auch umfassende soziale Proteste meinen könnten. Die Beherrschten haben es nur bedingt in der Hand, durch eigenes Wohlverhalten auf der sicheren Seite zu sein. Letztlich bestimmen die Herrschenden alleine, was einpassen und aufbegehren bedeutet. Wirklich sicher ist niemand, eigentlich gilt auch da nur das Konkurrenzprinzip des "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns".

Der alte Sozialstaat war dagegen ja durchaus beides, Herrschafts- und Integrationsmodell. Wer sich wirklich einpasste, wer seine Arbeitskraft verkaufte, die Regeln einhielt, nicht allzu sehr aufmuckte, hatte eine faire Chance auf ein rein wirtschaftlich gesehen anständiges Leben. Selbstverständlich galt das real nur für kleine Teile der Welt und unter bestimmten Kräfteverhältnissen, also im Wesentlichen für die in unmittelbarer Systemkonkurrenz zur Sowjetunion stehenden kapitalistischen Staaten. Aber es war als Versprechen überall auf der Welt präsent. Die Metapher von der "Entwicklung" drückt ja genau das aus: Alles und alle wollten sich selbst "entwickeln" und sollten "entwickelt" werden. Daran waren alle beteiligt, die Kirchen, die Zivilgesellschaft, die sozialistischen Staaten, die Solidaritätsbewegung, die kapitalistischen Regierungen, die "Entwicklungsländer", selbst die Linke. Dabei war "Entwicklung" immer gedacht als Übernahme des westlichen Konsum- und Produktionsmodells, die eben nur schneller als in den kapitalistischen Kernländern vollzogen werden sollte.

Die Frage nach Ressourcen und Ökologie sei hier einmal ausgeblendet, obwohl völlig klar ist, dass auch unter diesem Gesichtspunkt eine solche "Entwicklung" undenkbar ist. Mir geht es hier um eine Betrachtung des Sozialstaates da, wo seine Versprechen regional und zeitlich begrenzt Wirklichkeit wurden. Dabei spielen die Kräfteverhältnisse und die Systemkonkurrenz durchaus eine Rolle, sollten aber nicht überbewertet werden.

Es ist keineswegs richtig, wie oft behauptet wird, dass alle sozialstaatlichen Regelungen erkämpfte Errungenschaften wären. Natürlich ist für vieles gekämpft worden, von Arbeitszeitreglungen bis hin zu sozialen Sicherheiten. Aber so manches wurde auch bewusst von oben etabliert, um möglichen weitergehenden Forderungen vorzubeugen. Einiges davon stellt sich durchaus als positiv und nach wie vor auch unter emanzipatorischen Ansprüchen sinnvoll heraus. Das Umlageverfahren in der (deutschen) Sozialversicherung beispielsweise wurde nicht erkämpft, sondern von einer CDU-Regierung 1957 eingeführt, weil Adenauer die ökonomische Macht eines Fonds fürchtete, der die gesamten Rentengelder der BRD verwaltet hätte. Bei einem heutigen Auszahlungsvolumen von jährlich annähernd 250 Milliarden Euro – was muss das für ein Kapitalstock sein, der das erwirtschaftet! – kann man dem Mann nur dankbar sein. Auch die relative Staatsferne einer solchen Umlageversicherung ist sicherlich zu begrüßen. Es geht mir also keineswegs um die Denunziation einzelner sozialstaatlicher Regeln.

Vielmehr ist der Hinweis von Bedeutung, dass viele dieser Regelungen durchaus auch im Interesse der Regierungen und des Kapitals waren. Manchmal sogar so sehr, dass sie die "Begünstigten" glaubten zu ihrem Glück zwingen zu müssen. Auch die Systemkonkurrenz war selbstverständlich Bestandteil der Gesamtsituation, in der Sozialstaatlichkeit den Herrschenden selbst in einem bestimmten Rahmen sinnvoll und nützlich erschien. Aber auch der "reale Sozialismus" war aus herrschender Sicht nicht nur bedrohliche Alternative für die Beherrschten, sondern auch nützlicher Vorwand zur Herstellung nationaler Geschlossenheit. Die Identifikation mit der BRD geschah nicht nur über das "Wirtschaftswunder", sondern ganz wesentlich auch über den Antikommunismus.

Die sozialstaatliche Integration gab es nur bei Unterwerfung unter den allgemeinen Anspruch der "Arbeit". Die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum wurde praktisch durchgängig über die Teilhabe an der kapitalistischen Erwerbsarbeit geregelt. Wer dauerhaft nicht arbeiten konnte oder wollte, wurde zum Objekt repressiver Fürsorge. Wer nicht arbeiten sollte, blieb trotzdem von der Arbeit anderer abhängig: Die alten und kranken "Arbeitskräfte" von den jungen und gesunden, die Kinder von den Vätern und die Frauen von den Männern. Alles, jeder Anspruch war über die Arbeit geregelt, Arbeitszwang wie Arbeitsverbot waren umfassend. Noch bis in die 1970er Jahre hinein bedurften verheiratete Frauen zur Aufnahme von Erwerbsarbeit der schriftlichen Zustimmung ihrer Ehemänner.

Überhaupt hat die spezifische geschlechtsspezifische Arbeitsteilung eine überragende Bedeutung in der Gestaltung des fordistischen Sozialstaats. Als "Arbeit" gilt im Kapitalismus systematisch nur, was ökonomischen "Wert" hervorbringt oder umverteilt. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Produkte und Dienstleistungen einen gesellschaftlichen Sinn haben, ob die geleistete Arbeit notwendig und unverzichtbar ist oder nicht. Die Produktion von schädlichen oder nutzlosen Dingen ist in diesem Sinne "Arbeit", wenn sie sich auf dem Markt verkaufen lassen. Die Erziehung von Kindern, die Pflege von kranken Angehörigen, das Putzen der Wohnung oder das Kochen eines Mittagessens sind es nicht. Das ist in sich logisch, weil an dem einen Vorgang jemand beteiligt ist, der dabei verdient, bei dem anderen nicht. Da aber entlang dieser Grenze ein Großteil der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung läuft, wird so die Tätigkeit von Frauen systematisch entwertet. Den fordistischen Klassenkompromiss gab es nur auf der Basis der Ungleichheit der Geschlechter. Er bedeutete die Einbindung der Frauen in die Rolle der "Reservearmee", deren Arbeitskraft nach und bei Bedarf abgerufen werden konnte, aber systematisch entwertet blieb. Sie waren von der Erwerbstätigkeit ebenso wie von Ansprüchen an die Sozialsysteme zumindest aus eigenem Recht weitgehend ausgeschlossen und zuständig für die – natürlich unbezahlte – soziale Reproduktion.

Im Fortgang der Geschichte ergab sich daraus eine weitere wesentliche Rolle von Frauen in der kapitalistischen Ökonomie: Da sie im alten Sozialstaat lediglich "zuverdienten" zum "Hauptverdiener", arbeiteten sie für wenig Geld. In dieser Rolle blieben sie bis heute und ebneten damit den Weg zum allgemeinen Billiglohn, der vielleicht gerade mal, vielleicht auch nicht die Kosten der eigenen Reproduktion deckt. Dieser Aspekt verstärkt sich übrigens nochmals, wenn man ihn unter einem globalen Gesichtspunkt sieht. Weltweit hat ein ungleicher Ressourcentransfer dazu beigetragen, dass das nördliche Wohlstandmodell möglich wurde. Wie zwischen Männern und Frauen im entwickelten Kapitalismus blieb zwischen Nord und Süd die Arbeit ungleich gewichtet und war von Ein- und Ausschlüssen gekennzeichnet. Und wie dort, so wird auch hier über partielle Einschlüsse der Weg in die allgemeine, weltumspannende Prekarität geebnet. Die Arbeitsbedingungen von meist weiblichen Beschäftigten in den Weltmarkfabriken in Mittelamerika oder Asien sind heute das Vorbild, nach dem sich der neoliberale Umbau genau mit dem Argument der Integration richtet. Der weiße Ernährer-Ehemann ist durchaus paradigmatischer Träger beider Ausschluss- und monetär nicht bewerteter Ausbeutungsebenen, der innergesellschaftlich-geschlechtlichen und der global-rassistischen.

So wächst aus dem Sozialstaat organisch der postfordistische Wettbewerbsstaat und benutzt dabei gegensätzliche Bewegungen von Betroffenen: Im Süden gab und gibt es nicht selten Situationen, in denen Menschen auf bestimmte Notsituationen mit eigenen Initiativen reagieren. So taten sich etwa in Chile Frauen zusammen, als nach dem Militärputsch allmählich die gesellschaftlichen Möglichkeiten sozialer Sicherung abgebaut wurden. Sie entwickelten verschiedene Instrumente zum Überleben, meist in der informellen Ökonomie, mit Kunsthandwerk oder Essensverkauf oder Ähnlichem. Heute sind oft genau diese Frauen die Basis des neoliberalen Modells, weil sie aus Not gelernt haben, auf dem Markt zu überleben. Nicht nur, aber vor allem in den Industrieländern gab es während der Blütezeit des Fordismus eine erkleckliche Zahl von Menschen, die sich dem allgemeinen Arbeitszwang nicht unterwerfen wollten. Sie wollten nicht acht Stunden täglich in die Fabrik oder ins Büro. Der Kampf gegen das "Stechuhrsystem" war durchaus populär. Die freie Bestimmung über die eigene Zeit war vielen wichtiger als der Umfang ihrer freien Zeit. Sie nahmen dafür so mancherlei Nachteile auch an Einkommen und Sicherheit hin. Auch dieses Bedürfnis wird heute neoliberal integriert und den Arbeitenden aufgezwungen. So wird die Reintegration der notgedrungen Herausgefallenen wie der freiwillig Ausgestiegenen in das fordistische Arbeitsmodell zu einem Schritt bei seiner eigenen Beseitigung.

Das ist verursacht durch den inneren Zwang zur Kostensenkung in einer immer produktiveren und kaum noch wachsenden Ökonomie. Zwar ist die Produktivität menschlicher Arbeit schon lange gestiegen, auch schon in vorkapitalistischen Zeiten, aber im traditionellen Sozialstaat existiert ein spezieller Motor für diese Entwicklung. Der Tauschhandel zwischen Kapital- und Arbeitskraftbesitzern sah so aus, dass Integration, soziale und materielle Teilhabe gegen fleißiges und ruhiges Arbeiten gegeben wurde. Die innere Rationalität dieses Deals ergab sich für die Kapitalseite daraus, dass so die Produktivität schneller steigen konnte als im Fall einer aufsässigen Arbeiterschaft. Dieser Produktivitätsfortschritt machte Arbeitskraft frei, die während der fordistischen Phase zuerst weitgehend dafür eingesetzt wurde, mehr Produkte für ungesättigte oder neu geschaffene Märkte herzustellen. Nach und nach aber trat ein Zustand ein, in dem die Produktivität systematisch und kontinuierlich schneller wuchs als die Märkte. Damit mussten die Arbeitskräfte in die "Freizeit" freigesetzt werden.

Konkret hieß das: in die Arbeitslosigkeit. Grundsätzlich hätten sie auch in bezahlte Freizeit freigesetzt werden können, also in kürzere Arbeitszeit, und das geschah auch teilweise. Aber es hätte der Rationalität des Systems widersprochen, das in vollem Umfang zu tun. Die Leute sollten ja in kürzerer Zeit mehr produzieren, damit die Gewinne schneller stiegen als bei der Konkurrenz. Dass sie von diesem Zusatzgewinn etwas abbekämen, war Gegenstand des Sozialstaatsversprechens. Hätte man ihnen das alles zukommen lassen, hätte das Ganze für die Unternehmerseite schon rein finanziell keinen Sinn ergeben.

Es wäre damit aber auch eine gefährliche Entwicklung in Gang gesetzt worden: Die Menschen hätten aus eigenem Erleben wahrgenommen, dass der Reichtum in der Gesellschaft mit immer weniger Arbeit herstellbar ist. Bei kürzerer Arbeitszeit wäre nicht nur der allgemeine Reichtum gleich geblieben – den kann ich ja nicht unmittelbar sehen, auch wenn er mich in Form von Sozialsystemen, Infrastruktur etc. durchaus betrifft. Auch mein eigener Lebensstandard hätte nicht abgenommen. Die Lust und Bereitschaft zu unsinnigen, schweren, gefährlichen, entwürdigenden Arbeiten hätten ab-, das Selbstbewusstsein und die Aufsässigkeit der Arbeitenden zugenommen. Wenn also die Integration in das sozialstaatliche Versprechen in einer halbwegs produktiven Ökonomie erfolgreich ist, dann kann am Ende nur dabei herauskommen, dass diese Integration widerrufen werden muss. Deshalb gibt es nicht nur kein Zurück zum alten Sozialstaat mehr, wir dürfen das auch nicht mehr wollen. Denn es ist durchaus konsequent, dass der fordistische Klassenkompromiss im neoliberalen Umbau landet.

Wenn Sozialstaatlichkeit gelingt, d.h. wenn Klassenkämpfe vermieden werden und eine beschleunigte Steigerung der Produktivität stattfindet, wird unvermeidlich Arbeitskraft frei. Das kann Arbeits- und Einkommenslosigkeit bedeuten wie heutzutage überall auf der Welt. Dann sind verschärfte Repression, Ausbau von Sicherheitsapparaten und andere Maßnahmen gegen Überlebensstrategien ohne Arbeit unvermeidlich. Kein Staat kann hinnehmen, dass einige erfolgreich vorleben, wie man ohne Arbeit gut leben kann, wenn er gleichzeitig durchsetzen will, dass andere für miese Bezahlung Scheißarbeit machen. Wer weiterhin daran festhält, dass Menschen vor allem arbeiten sollen, obwohl es offenbar keine Notwendigkeit dafür gibt, um den gesellschaftlichen Reichtum zu schaffen, landet fast selbstverständlich bei Arbeitszwang, Billiglohn, Sozialkahlschlag. Es hat eine gewisse Logik, dass ausgerechnet diejenigen politischen Kräfte, die historisch für den Sozialstaat stehen – also im Wesentlichen die Sozialdemokraten unterschiedlicher Parteizugehörigkeit – heute weltweit diejenigen sind, die den Sozialabbau besonders verbissen und selbstzerstörerisch betreiben. So wie sich der Sozialstaat aus seiner inneren Logik heraus selbst irgendwann unmöglich macht, macht sich seine politische Vertretung irgendwann überflüssig.

Es war in sich stimmig, als Bundeskanzler Schröder 1999 aufhörte, Arbeitsplätze schaffen zu wollen und stattdessen die Arbeitslosen als "Faulenzer" beschimpfte. Wozu hätten Arbeitsplätze denn dienen sollen? Was hätte dort hergestellt, welche Dienstleistung angeboten werden sollen, die sich am Markt verkauft hätte? Was zu verkaufen war, wurde ohnehin angeboten. Die Abschaffung der Arbeitslosen statt der Arbeitslosigkeit ist systemrational. Im Sinne einer Marktlogik sind die Arbeitslosen weltweit tatsächlich zu nichts nütze. Sie sind zum Erzielen von Gewinnen überflüssig. Der Begriff "Überbevölkerung" bekommt hier global einen besonderen, drohenden Beiklang.

Eben weil genug für alle da ist, so lautet also das Fazit der bisherigen Überlegung, kann das im Kapitalismus nur bedeuten, dass wenige zu viel, viele nicht genug und einige gar nichts bekommen. Die Alternative kann nur sein, die beschriebene Entwicklung zu Kenntnis zu nehmen und von ihr ausgehend etwas vollständig Neues zu entwickeln. Das bedeutet einen radikalen und bedingungslosen Bruch mit der bisherigen Arbeitsvergesellschaftung. Der Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum, zum gesellschaftlichen Leben darf in keiner Weise mehr vom Arbeitszwang abhängen.

Der Ausgangspunkt ist: Es müssen nur noch relativ wenige Arbeitsstunden geleistet werden, um den gesellschaftlichen Reichtum zu schaffen. Es ist nur noch sehr bedingt nötig Menschen zur herkömmlichen Produktionsarbeit zu zwingen. Der vorhandene Reichtum reicht für alle. Jeder Mensch sollte ohne jede weitere Bedingung ein ausreichendes Einkommen erhalten, ob er im herkömmlichen Sinne Erwerbsarbeit leistet oder nicht. Diese würde sich ohnehin erheblich verändern. Wenn erst mal niemand mehr gezwungen ist, jede unsinnige Arbeit anzunehmen, dann werden unsinnige Arbeiten tendenziell abgeschafft werden. Soweit das nicht geht, weil die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums natürlich nach wie vor sichergestellt werden muss, werden sie eben besser bezahlt.

Grundsätzlich ändert sich das Motiv, auf das eine solche Gesellschaft setzen würde, damit Menschen arbeiten. Im alten Sozialstaat war das Motiv Teilhabe, heute ist es zunehmend purer Zwang, dann wäre es Lust auf die Auseinandersetzung mit Umwelt und Gesellschaft. Immer schon haben Menschen viele Dinge getan, ohne Geld dafür zu bekommen, weil sie ihnen sinnvoll, angenehm oder nötig erschienen: Kunst, Kindererziehung, Weitergabe von Wissen, Begreifen der Welt, Sorge für andere, Ausbildung eigener Fähigkeiten, Politik, Sterngucken, Ertrinkende aus dem Wasser retten. Man könnte sich z. B. nur einmal vorstellen, was geschähe, wenn ErfinderInnen einfach so, nur weil sie etwas erfinden wollten, ein ausreichendes Einkommen bekämen und das nicht über die Vermarktung ihrer Erfindungen erzielen müssten. Wie bisher würden die Leute Unnützes und Sinnvolles erfinden. Aber sie brauchten keine Patentämter und Gerichte mehr zu beschäftigen. Brauchbares fände sicher auch weiterhin den Weg zur Anwendung. Niemand könnte mit Patentgebühren abgeschreckt, mit Patentaufkauf ausgebremst werden. Verbreitung von und Zugriff auf gute Ideen würde einfacher, Kreativität und Spaß an der Arbeit und dem Ausprobieren von Ideen könnten sich entfalten. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Produktivität der in einer Gesellschaft angewandten Arbeit sinken würde.

Diese Entfaltung von Produktivität, die Freisetzung von Zeit zur kreativen Gestaltung liegt auch schon als Möglichkeit im alten Sozialstaat. Aber eben nur als eine Möglichkeit, die eine Voraussetzung hat, nämlich dass die private Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums beendet wird. Diejenigen, die das geschichtlich wollten, also die alte Arbeiterbewegung, haben sich vor vor etwa hundert Jahren in "Reformer" und "Revolutionäre" gespalten. Die einen sagten, diese freien Entfaltungsmöglichkeiten seien nur innerhalb des Systems durch Reformen zu erreichen. Sie erfanden den Sozialstaat und reformieren ihn heute nur noch mit dem Zweck seiner repressiven Erhaltung. Ganz nebenbei rückt der Inhalt des sozialstaatlichen Versprechens in unerreichbare Ferne. Die anderen wollten nach dem Sturz des Kapitalismus dessen Produktivitätsentwicklung ein- und überholen. Auch daraus wurde bekanntlich nichts. Das ist nicht wirklich verwunderlich, da Produktivität davon abhängt, dass die in Wissen, Verfahren, Produkten geronnene vergangene Arbeit genutzt wird.

Wir sollten uns von dieser unfruchtbaren Kontroverse abwenden. Es geht durchaus darum, die historischen Leistungen des Sozialstaats zur Kenntnis zu nehmen. Erstmals im Kapitalismus wurde grundsätzlich anerkannt, dass alle Menschen ein Recht auf ein gutes Leben haben, auch wenn es nur zeitlich und räumlich begrenzt und in der Sache eingeschränkt Wirklichkeit wurde. Es gab und gibt immer noch einzelne Aspekte, die das Leben von Menschen erleichtern und angenehm machen. Die gilt es unbedingt zu verteidigen. Niemals kann es richtig sein, mangelhafte heutige Regelungen für eine ungewisse Zukunft aufzugeben. Der Kampf gegen den Sozialkahlschlag ist richtig und notwendig. Aber er sollte nicht mit dem illusionären Ziel geführt werden, den alten fordistischen Klassenkompromiss wieder herstellen zu können.

Eine neue Gesellschaft kann nur von den Rändern her gedacht werden. Diese Ränder finden sich nicht im fordistischen Normalarbeitsverhältnis. Es ist auch längst nicht mehr die "Norm". Die Norm ist inzwischen vielmehr Prekarität, die Unsicherheit aller Lebensverhältnisse, die Unsicherheit des Einkommens, die Unsicherheit, ob du überhaupt gebraucht wirst in der Gesellschaft. Diese Unsicherheit findet sich überall auf der Welt und lässt sich nur weltweit bekämpfen und aufheben, weil sie durch den globalen Kapitalismus verursacht ist. Damit das gelingen kann, bedarf es allerdings der Anerkennung, dass erstens genug für alle da ist, dass zweitens das alle auch kriegen sollen, real, hier und jetzt, ohne Arbeit und ohne Zwang und dass drittens das nicht nur gerecht ist, sondern gerade auch Kraft, Freude, Produktivität, Lust am Tätigsein freisetzt.


Leseprobe 3



Inhalt:

Bernhard Jirku
Vorwort: Mindestlohn und Grundeinkommen (Leseprobe)

Gabriele Peter / Jörg Wiedemuth
Tarifliche und gesetzliche Standards für ein Mindesteinkommen

Joachim Rock
Armut im Anzug
Anmerkungen zur Notwendigkeit einer bedarfsorientierten Grundsicherung

Claus Schäfer
Öffentliche Finanzpolitik und Armut

Harald Rein
Das Ende der Bescheidenheit...
Existenzgeld, eine Forderung von Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen

Axel Gerntke
Erwerbsarbeit demokratisieren statt ignorieren!

Martin Künkler
Wer bei Arbeitslosen kürzt, drückt auch die Löhne
Grundeinkommen ist keine Alternative zum Verarmungsprogramm Arbeitslosengeld II

Werner Rätz
Es ist wirklich genug für alle da! (Leseprobe)

Kurt Nikolaus / Peter Heller / Helmut Angelbeck
Bedingungslos garantiertes Grundeinkommen oder "nur" eine bedingte soziale Grundsicherung?
Gewerkschaftliche Antwort auf eine Frage, die sich so nicht stellt

Autorenreferenz

Helmut Angelbeck (Darmstadt) ist der Vertreter der Erwerbslosen im Bundestarifausschuss (BTA) von ver.di.

Axel Gerntke ist Gewerkschaftssekretär und arbeitet beim IG Metall Vorstand, Funktionsbereich Gesellschaftspolitik / Grundsatzfragen.

Peter Heller (Leipzig) ist seit 2003 Vorsitzender des Vorstands des Bundeserwerbslosenausschusses (BEA) von ver.di.

Bernhard Jirku ist Vorsitzender des Fördervereins für gewerkschaftliche Arbeitslosenarbeit.

Martin Künkler ist politischer Referent der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen.

Dr. Gabriele Peter, Juristin, Referatsleiterin Arbeitsrecht und Mitbestimmung beim Hauptvorstand der Gewerkschaft NGG, mehrere Veröffentlichungen zum Thema "Gesetzlicher Mindestlohn".

Kurt Nikolaus (Berlin) war von 2001 bis 2003 der erste Vorsitzende des Bundeserwerbslosenausschusses (BEA) von ver.di und Vertreter der Erwerbslosen im ver.di-BTA.

Werner Rätz ist Mitglied im Koordinierungskreis von Attac-Deutschland und der Schwerpunkt AG "Genug für alle".

Harald Rein, Runder Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen, routierend erwerbslos und prekär beschäftigt, tätig als Chemiearbeiter, seit 15 Jahren als Sozialarbeiter im Frankfurter Arbeitslosenzentrum, Mitarbeit: Landeserwerbslosenausschuss ver.di Hessen, Rhein-Main-Bündnis.

Joachim Rock arbeitet als Referent der Vorsitzenden des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und ist Doktorand an der Universität Kassel.

Dr. Claus Schäfer, Referatsleiter für die Verteilungsanalyse von Lebenslagen im WSI in der Hans-Böckler-Stiftung.

Jörg Wiedemuth, Bereichsleiter Tarifpolitische Grundsatzabteilung ver.di Bundesvorstand.

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