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Jörg Köhlinger / Klaus Mehrens (Hrsg.)

Die IG Metall im Aufbruch?

Beiträge zur gewerkschaftlichen Standort- und Kursbestimmung von Jürgen Prott, Maike Rademaker, Ludwig Rieber, Johano Strasser, Gerhard Bäcker, Ulrich Kunz, Klaus Trautmann, Frank Deppe

120 Seiten | 2004 | EUR 11.80 | sFr 21.40
ISBN 3-89965-055-7 1

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Welchen Kurs nimmt die IG Metall? Diese Frage beschäftigt Medien und Mitglieder, vor allem ehren- und hauptamtlich Aktive. Auch nach dem Gewerkschaftstag 2003 muss die Diskussion fortgesetzt werden.


Wie werden IG Metall und Gewerkschaften in der politischen Arena wahrgenommen? Wie findet die IG Metall insbesondere in der Sozialstaats-Debatte zu einer tragfähigen Programmatik und Politik?

Dieser Band, in dem die Referate und Diskussionsbeiträge einer Tagung der IG Metall Bezirksleitung Frankfurt vom September 2003 dokumentiert werden, soll dazu beitragen, tragfähige Positionen und Programme für eine starke und gesellschaftskritische Gewerkschaft zu entwickeln.

Leseprobe 1

Jörg Köhlinger
Die IG Metall im Aufbruch? Die IG Metall im Aufbruch – wer diese Frage stellt, wer aufbrechen will, muss wissen wohin. Welchen Kurs nimmt die IG Metall? Diese Frage beschäftigte im Jahr 2003 nicht nur viele Mitglieder der IG Metall, die vielen haupt- und ehrenamtlichen Funktionärinnen und Funktionäre, sondern auch die Öffentlichkeit, die Medien in Presse, Funk und Fernsehen. Dies ist auch keine ganz leichte Frage für eine Massenorganisation, eine Einheitsgewerkschaft mit vielen Mitgliedern, also auch ganz vielen Meinungen. Eine Kursbestimmung, vielleicht auch eine Kurskorrektur vorzunehmen, ist eine schwierige Aufgabe. Die augenblickliche Situation ist für die Gewerkschaften, das kann man wohl feststellen, nicht gerade günstig. Ich will das nicht bewerten und nicht darüber lamentieren, insbesondere nicht, weil wir unseren eigenen Anteil daran haben. Und ich will auch nicht Pressevertreterinnen und -vertreter wegen ihrer Berichterstattung kritisieren. Wir müssen feststellen, wir stehen im Lichte der Öffentlichkeit im Augenblick nicht besonders gut da. Die veröffentlichte Meinung, und zwar nicht nur die der liberalen, konservativen Presse, sondern auch die Meinung der ehemals links-liberalen Publikationen und PolitikerInnen heften den Gewerkschaften und der IG Metall im Besonderen Etiketten an, die wir alle kennen: "Nein-Sager", "Blockierer", "Dinosaurier" – all das kann man fast täglich der Berichterstattung entnehmen. Das ist keineswegs alles neu, und doch: Die Schärfe und die Einheitlichkeit dieses Urteils haben neue Höchstwerte auf der offenbar nach oben offenen Richterskala erreicht und lassen uns zu Recht erschrecken. Die Gewerkschaften werden stigmatisiert, als seien sie die alleinige Ursache für wirtschaftliche Fehlentwicklungen, für Massenarbeitslosigkeit – so als sei die Blockade vermeintlich notwendiger Reformen auf dem Arbeitsmarkt die entscheidende Stellschraube zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit. Als gäbe es keinen Anlass, eine fundierte Kritik der ökonomischen Verhältnisse, in denen wir leben, vorzunehmen. Die Zustimmung vieler, auch organisierter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Sozialabbau und neoliberaler Politik mag auf Konformitätsdruck zurückzuführen sein und auf das, was man vielleicht zunehmende neoliberale Hegemonie nennen kann. Sie kann uns auf jeden Fall nicht gleichgültig sein. Klar ist: Die Gewerkschaften können und dürfen nie so werden, wie Reiner Hank von der FAZ oder Wolfgang Clement von der SPD sie gerne haben wollen. Sollen wir denn tatsächlich deren Vorstellungen vom "Umbau" des Sozialstaates zustimmen? Sollen wir "ja" sagen zu dem, was an Sozialabbau betrieben wird? Zu den Maßnahmen der Agenda 2010, zu dem, was an Umverteilung stattfindet? Erwartet irgendjemand tatsächlich, dass die IG Metall dazu "ja" sagt? Die Gewerkschaften und die IG Metall im Besonderen sind von ihrer historischen Entwicklung her soziale Bewegungen, Gegenmacht. Sie sind groß geworden durch Kritik und Veränderungen der bestehenden Verhältnisse. Daraus, und nur daraus, haben die Gewerkschaften Anerkennung, Respekt und schließlich auch institutionelle Beteiligung in der Bundesrepublik erreichen können. Zuzustimmen ist Frank Deppe, der sagt: Der Vorwurf des "Nein-Sagertums" ist außerordentlich dämlich, denn erstens gibt es ohne Opposition, die nun mal "Nein" sagt, keine Demokratie. Zweitens zeichnet sich die gesamte Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung immer wieder dadurch aus, dass "Nein" gesagt wurde zu den herrschenden Verhältnissen. Schließlich müsse drittens an die Basisprämisse aller kritischen Theorie erinnert werden: Ohne Negation bzw. Widerspruch gibt es keine Dialektik, das heißt keinen Erkenntnisfortschritt. Mit Fug und Recht sagen wir also zu bestimmten politischen Entwicklungen "Nein". Aber: Gewerkschaften sind ja keineswegs nur Nein-Sager, sondern sie sind auch das, was der frühere Vorsitzende der IG Metall vor wenigen Wochen in Berlin bei einer Veranstaltung formuliert hat: Sie sind herausragende Organisationen der Zivilgesellschaft. Ein wenig nachdenklich machen muss uns schon der Umstand, dass ausgerechnet die Protagonisten der Zivilgesellschaft quer durch alle Parteien, quer durch die gesamte Öffentlichkeit, die Gewerkschaften in einer derart fundamentalistischen Art und Weise kritisieren und dabei zu ignorieren scheinen, dass viele Tausend gewerkschaftliche Interessenvertreter, Betriebsräte und Vertrauensleute, sozusagen als Akteure der Zivilgesellschaft, auf betrieblicher oder überbetrieblicher Ebene, Wirtschaft und Gesellschaft, Arbeits- und Erwerbsleben wesentlich mitgestalten. Und ich glaube, man kann sagen, dass das durchaus nicht zum Nachteil der Menschen in diesem Land ist. Wir müssen feststellen: Die Gewerkschaften sind in der gesellschaftlichen Debatte, sie sind in der Kritik. Und: Wir haben daran selbst unseren eigenen Anteil, den wir auch mit verantworten müssen. Wir wollen versuchen, einige Dimensionen dieses Konfliktverhältnisses auszuloten: Wie werden IG Metall und Gewerkschaften in der politischen Arena wahrgenommen? Worin besteht die Kritik an ihnen? Was sind die Ursachen der drohenden politischen Isolation? Und wie begegnen wir diesen? Haben wir die falschen politischen Konzepte? Fehlen uns Bündnispartner oder sind sie uns abhanden gekommen? Diese Frage ist insbesondere bezogen auf die SPD zu stellen. Haben wir vielleicht auch nur – oder als Teil der Problematik – eine falsche, eine unzureichende Medienpräsentation? Worin besteht die Legitimation der Gewerkschaften, die ja von nicht wenigen, jedenfalls wenn es um die Wahrnehmung politischer Interessen der abhängig Beschäftigten geht, bestritten wird. Zu diesem Themenkomplex gibt es in diesem Buch Beiträge von Klaus Mehrens, Bezirksleiter des IG Metall Bezirks Frankurt, Prof. Jürgen Prott von der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP), Maike Rademaker, Redakteurin der Financial Times Deutschland und Ludwig Rieber, Landespfarrer für Sozialethik aus Düsseldorf. Die Diskussion zu diesen Beiträgen moderierte Christian Schulte vom Hessischen Rundfunk. Die Geschichte der Gewerkschaften und die Ideengeschichte der sozialen Bewegung ist auch die Geschichte von Visionen und Utopien. Visionen von sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit. Ohne Visionen hätte es keinen gesellschaftlichen Fortschritt gegeben und würde es auch zukünftig keinen geben. Vieles haben wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten erreicht: die relative Absicherung der großen Lebensrisiken durch die Sozialstaatlichkeit, die Begrenzung der Arbeitszeit, die demokratische Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, elementare Menschenrechte, wie sie im Grundgesetz oder in der Charta der Vereinten Nationen formuliert sind. Und auch das nicht zu vergessen: Wohlstand, materiellen Wohlstand. Jedenfalls in einem relativ kleinen Teil der Welt, zu dem wir glücklicherweise gehören. Vielfach wird derzeit versucht, das Rad zurückzudrehen. Können wir uns also angesichts dieser Situation auf die Schultern klopfen und alles so lassen, wie es ist? Nach dem Kanzlermotto kurz nach den Bundestagswahlen: Visionen – so hat Gerhard Schröder es formuliert – sind in einer demokratischen Gesellschaft für eine Regierung das, was man mit Regierungsmitteln auch umsetzen kann. Das kann man so sehen, das ist dann ein relativ bescheidener Begriff von politischen Visionen, dem wir nicht unbedingt folgen müssen. Können wir also unseren Frieden machen mit einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das in vielen Teilen gerade nicht die eben aufgeführten positiven Wirkungen nach sich gezogen hat, sondern in vielen Fällen, in vielen Ländern genau das Gegenteil? Anlässlich unserer Bezirkskonferenz hatten wir das Motto "Eine andere Arbeitswelt ist möglich" gewählt. Nicht ganz zufällig ist dabei die Verwandtschaft mit dem Attac-Motto, nicht ganz zufällig die Auswahl dieses Mottos, soll es doch darauf hinweisen, dass wir die gegebenen Verhältnisse für veränderbar, für reformierbar, für verbesserbar halten. Dies setzt voraus, dass wir uns vergegenwärtigen und uns miteinander darüber verständigen, welche Kritik, welche Veränderungsvorstellungen, welche Ideen und welche Visionen wir haben. Oder folgen wir möglicherweise der Führung der sozialdemokratischen Partei, die die Vision eines demokratischen Sozialismus und das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit für obsolet hält? Das ist eine strittige Diskussion, eine notwendige Diskussion, der wir uns nicht entziehen können. Dazu gibt es Beiträge von Johano Strasser, Gerhard Bäcker und von zwei betrieblichen Kollegen, Ulrich Kunz und Klaus Trautmann. Joachim Beerhorst, Leiter des Ressorts Aus- und Weiterbildung für Hauptamtliche beim Vorstand der IG Metall, moderierte die Diskussion über diese Beiträge. Der Charakter der in diesem Buch dokumentierten Veranstaltung war nicht der einer Beschlusskonferenz. Zweck dieser Veranstaltung war es vielmehr, zur Meinungsbildung innerhalb der IG Metall beizutragen. Wenn es sein muss, auch durch Streit, durch eine entsprechende Streitkultur. Ich glaube, wir haben allen Grund dazu, uns zur Meinungsvielfalt zu bekennen. Aber auch dazu, dass Meinungsvielfalt irgendwann dazu führen muss, dass wir zum gemeinsamen Handeln kommen. Das ist eigentlich der Zweck der IG Metall, das war er und das muss er auch bleiben.

Inhalt:

Vorwort
Jörg Köhlinger
Die IG Metall im Aufbruch? (Leseprobe)

Standortbestimmung


Klaus Mehrens
Die IG Metall zwischen Tradition und Moderne:
Eine Standortbestimmung

Jürgen Prott
Gewerkschaften in der gesellschaftspolitischen Debatte
Dimensionen eines Konfliktverhältnisses
Maike Rademaker
Gewerkschaften im Bild der Medien:
Gegenmacht ohne Alternativen

Ludwig Rieber
Kraftquellen wiederentdecken und erneuern
Öffentlichkeit und gewerkschaftliche Alternativen Diskussion zur politischen Standortbestimmung

Kursbestimmung


Johano Strasser
Welche Visionen und Utopien braucht die IG Metall?
Geschichte und Aktualität einer gesellschaftskritischen Orientierung
Brauchen die Gewerkschaften eine neue Utopie?
Debatte zu Johano Strasser
Gerhard Bäcker
Bewahren, ausbauen, neu konzipieren?
Das Ringen um den Sozialstaat als gewerkschaftliche Utopie
Konzepte gegen die Agenda 2010
Debatte zu Gerhard Bäcker
Ulrich Kunz
Betriebliche Utopien gegen Arbeitsstress und Sozialabbau
Klaus Trautmann
Betriebliche Debatten im IT-Bereich
Klaus Mehrens
Eine neue Balance aus Verteidigung von Bestehendem und Zukunftsgestaltung

Ein Epilog


Frank Deppe
"Eine andere Welt / eine andere Arbeitswelt ist möglich!"

Autorenreferenz

Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geb. 1947, wohnt in Düsseldorf, Professor für praxisorientierte Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, Betreuung von www.sozialpolitik-aktuell.de (Informationsportal), Veröffentlichung: (zusammen mit Reinhard Bispinck, Klaus Hofemann und Gerhard Naegele) Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, Wiesbaden 2000. Frank Deppe, Prof. Dr., geb. 1941, wohnt in Marburg, Professor für Politikwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg. Letzte Buchveröffentlichung: Politisches Denken zwischen den Weltkriegen, Hamburg 2003. Jörg Köhlinger, geb. 1963, wohnt in Frankfurt a.M., Bezirkssekretär der IG Metall im Bezirk Frankfurt. Ulrich Kunz, geb. 1954, wohnt in Eschenburg, beschäftigt bei Krupp Thyssen Nirosta in Dillenburg, Betriebsratsmitglied und Vertrauenskörper-Vorstand. Klaus Mehrens, Dr. der Volkswirtschaftslehre, geb. 1943, wohnt in Frankfurt a.M. und Hamburg, Bezirksleiter des Bezirks Frankfurt der IG Metall. Jürgen Prott, Prof. Dr., geb. 1942, wohnt in Hamburg, Professor für Industrie- und Betriebssoziologie an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP); Letzte Buchveröffentlichung: Öffentlichkeit und Gewerkschaften, Münster 2003. Maike Rademaker, geb. 1963, wohnt in Berlin, Redakteurin bei der Financial Times Deutschland, spezialisiert auf Arbeitsmarkt und Gewerkschaften. Ludwig Rieber, geb. 1941, wohnt in Düsseldorf, Landespfarrer für Sozialethik und Leiter des Amtes für Sozialethik, Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt und Ökologie. Johano Strasser, Prof. Dr., geb. 1939, wohnt in Berg am Starnberger See, Präsident des PEN-Clubs Deutschland (Unterstützungsnetzwerk für politisch verfolgte SchriftstellerInnen); Veröffentlichung: (als Herausgeber zusammen mit Günter Grass und Daniela Dahn) In einem reichen Land. Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Göttingen 2002. Klaus Trautmann, geb. 1946, wohnt in Mainz, Betriebsratsvorsitzender von IBM Speichersysteme.

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