Frank Bsirske / Frank Deppe / Stephan Lindner / Sigrid Skarpelis-Sperk u.a.
Ein Anschlag auf das europäische Sozialmodell
144 Seiten | 2006 | EUR 11.80 | sFr 21.40
ISBN 3-89965-172-3 1
Kurztext: Die AutorInnen informieren über die beabsichtigten Maßnahmen der EU-Dienstleistungsrichtlinie, skizzieren die voraussichtlichen Folgen und ordnen sie in das Konzept der Lissabon-Strategie ein.
Fritz Bolkestein, der damalige EU-Binnenmarktkommissar, legte im Jahr 2004 einen Vorschlag zur Schaffung eines liberalisierten europäischen Dienstleistungsbinnenmarktes vor. Der Widerstand, der sich gegen die "Bolkestein-Richtlinie" formierte, war massiv und vereinte europäische Gewerkschaften, NGOs, Wohlfahrtsverbände und soziale Bewegungen, allen voran Attac. Insbesondere weil die Richtlinie eine Zustimmung zur EU-Verfassung in Frankreich zu gefährden drohte, ruderten die Regierungen Frankreichs und Deutschlands im ersten Halbjahr 2005 zurück. Die Franzosen stimmten ebenso wie die Niederländer trotzdem mit "Nein".
Wer gehofft hatte, dass der "Bolkestein-Hammer" damit vom Tisch wäre, wird jetzt eines Besseren belehrt. Die EU-Dienstleistungsrichtlinie hat in ihrer modifizierten Fassung inzwischen den EU-Binnenmarktausschuss passiert und wird zu Beginn des Jahres 2006 im Europäischen Parlament beraten.
Was ist die Grundregel der Richtlinie? Wer in einem anderen Land Dienste anbietet, muss sich nur an die Regeln seines eigenen halten (Herkunftslandprinzip). Diese Grundregel wird zwar durch zahlreiche Bestimmungen, die in der modifizierten Fassung erweitert wurden, eingeschränkt. Es bleibt allerdings die Befürchtung, dass mit der Liberalisierung des Dienstleistungssektors und der Festschreibung des Herkunftslandsprinzips immer mehr Arbeitsplätze in EU-Länder mit niedrigen Umwelt- und Sozialstandards verlegt werden.
Leseprobe 1
Für ein soziales Europa:
EU-Dienstleistungsrichtlinie stoppen!
Frits Bolkestein, damaliger EU-Binnenmarktkommissar, legte 2004 einen Vorschlag zur Schaffung eines liberalisierten europäischen Dienstleistungsbinnenmarkts vor. Dies war ein bis heute anhaltender Generalangriff auf öffentliche Dienstleistungen und Sozial-, Umwelt- und Qualitätsstandards.
Die Gegnerschaft, die sich gegen die "Bolkestein-Richtlinie" formierte, war massiv und vereint bis heute unterschiedlichste Gruppierungen von europäischen Gewerkschaften über soziale NGOs und Wohlfahrtsverbände bis hin zum Europäischen Verband kleiner und mittlerer Unternehmen. EU-Kommission und Regierungen, allen voran Frankreich und Deutschland, sahen sich gezwungen, verbal zurückzurudern – insbesondere da die Dienstleistungsrichtlinie eine Zustimmung zum EU-Verfassungsvertrag in Frankreich zu gefährden drohte. Frankreich sagte trotzdem "Non". Wer nun jedoch gehofft hatte, dass sich die Dienstleistungsrichtlinie damit in der vorgelegten Form erledigt hätte, sah sich getäuscht. Dem deutschen EU-Kommissar Verheugen zufolge forderte bereits Anfang Juni im EU-Wettbewerbsrat "kein einziges Land das Zurückziehen der Richtlinie". Zwar hielt sich hartnäckig das Gerücht, die Richtlinie werde überarbeitet und das parlamentarische Verfahren ausgesetzt. Dies ist jedoch mitnichten der Fall. Im Gegenteil: Der Richtlinienentwurf ist geblieben, wie er war. Mitte September 2005 bestätigten Konservative und Liberale mit ihrer Mehrheit im Parlamentsausschuss die neoliberale Substanz der Richtlinie.
Die geplante Dienstleistungsrichtlinie ordnet sich ein in die generelle Ausrichtung der EU: Liberalisierung, Deregulierung, Wettbewerb sind die alles dominierenden Ziele der Europäischen Kommission und der europäischen Regierungen.
Der riesige Bereich des Dienstleistungssektors umfasst etwa 70% der gesamten Wirtschaftstätigkeit und mehr als drei Viertel der Beschäftigung in der EU. Der Richtlinienentwurf sieht vor, dass staatliche Auflagen an Dienstleister aus dem EU-Ausland teils sofort, teils schrittweise abgeschafft werden. Um den freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr zu fördern, soll in der Regel das so genannte Herkunftslandprinzip gelten. Demnach unterliegt "der Dienstleistungserbringer einzig den Rechtsvorschriften des Landes (...), in dem er niedergelassen ist". Das Herkunftsland soll dann auch kontrollieren, ob seine im EU-Ausland tätigen Dienstleister dort die heimischen Vorschriften einhalten. Wie dies funktionieren soll, ist unklar. Schließlich haben die zuständigen Behörden in einem anderen Land keine staatlichen Hoheitsbefugnisse.
Die Folge wäre, dass im jeweiligen Mitgliedstaat kein einheitliches Recht gelten würde, was das rechtstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit beeinträchtigt. Das Recht wäre von Person zu Person, je nach Herkunft, verschieden, was die Rechtsanwendung erschwert. In jedem einzelnen Mitgliedstaat würden künftig bis zu 25 verschiedene Unternehmens-, Sozial- und Tarifrechtsysteme usw. nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren.
Eine effektive Wirtschaftsaufsicht würde in der Europäischen Union faktisch außer Kraft gesetzt. Künftig könnte sich jedes Unternehmen durch Sitzverlagerung oder die Gründung einer Briefkasten-Firma im EU-Ausland lästiger inländischer Auflagen entledigen. Örtliche Tarifverträge, Qualifikationsanforderungen, Standards und Auflagen beim Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz könnten auf einfache und billige Weise unterlaufen werden. Ein radikaler Unterbietungswettlauf wäre die Folge. Mit der Richtlinie werden die bestehenden Unterschiede zwischen öffentlichen bzw. gemeinwohlorientierten und privatwirtschaftlichen Dienstleistungen verwischt. Nur hoheitliche Aufgaben des Staates (z.B. Militär, Polizei, Gefängnisse) sollen künftig außerhalb des Geltungsbereichs der neoliberalen Marktordnung bleiben.
Nach geltendem EU-Recht sind ausschließlich die Mitgliedstaaten für die Organisation ihres Gesundheitswesens und ihrer sozialen Sicherungssysteme zuständig.
Der neue Richtlinienentwurf betrifft aber nun ausdrücklich auch Gesundheits- und Pflegedienste. Erstmals würde so mit einer Liberalisierungsrichtlinie in die nationalstaatlichen Sozialschutzsysteme eingegriffen. Der Kommissionsentwurf will z.B. Fragen der Kostenerstattung von medizinischen Behandlungen im Ausland regeln. So schafft er ein Einfallstor für einen verschärften Kostenwettbewerb der nationalstaatlichen Gesundheitssysteme.
In den nachfolgenden Beiträgen wird über die Dienstleistungsrichtline und die politischen Hintergründe informiert. Die AutorInnen kommen aus unterschiedlichen Bewegungen, die im Bündnis ihren Protest gegen die Dienstleistungsrichtlinie zum Ausdruck bringen. Sie zeigen zugleich Alternativen für einen europäischen Wirtschafts- und Sozialraum auf. In allen Positionsbestimmungen werden die BürgerInnen in Deutschland und Europa aufgefordert: Informieren Sie sich! Üben Sie Druck auf die Bundesregierung und die Vertreter des Bundesrats aus, damit die Richtlinie im Rat der Europäischen Union auf Widerstand stößt. Schreiben Sie Ihren Europaabgeordneten, und nutzen Sie sonstige Möglichkeiten, den Widerstand gegen diese neoliberale Marktordnung für Dienstleistungen zu stärken. Unterstützen Sie den Protest von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, wie z.B. Attac! Die Aushöhlung sozialer Standards und der Abbau öffentlicher Dienstleistungen darf in der EU keine Chance haben. Treten Sie mit den oppositionellen Kräften für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des europäischen Sozialmodells ein.
Inhalt:
Für ein soziales Europa:
EU-Dienstleistungsrichtlinie stoppen! (Leseprobe)
Sigrid Skarpelis-Sperk
Eine radikale Abkürzung auf dem Weg in ein marktradikales Europa
Joachim Bischoff / Frank Deppe
Der "Bolkestein-Hammer"
Die europäische Integration und der Umbau des Sozialstaates
Stephan Lindner
Arbeitnehmer-, Umwelt- und Verbraucherschutz sind in Gefahr
Dienstleistungsrichtlinie und Dienstleistungsfreiheit
Joachim Rock
Soziale Dienstleistungen sind kein Johannisbeerlikör
Mögliche Folgen einer Dienstleistungsrichtlinie im Sozial- und Gesundheitsbereich
Klaus Dräger
Sozial oder marktradikal?
Die Zukunft der Dienstleistungen im Europäischen Binnenmarkt
Frank Bsirske
Die EU-Dienstleistungsrichtlinie:
Ein Angriff auf Löhne und Arbeitskräfte
Was bisher geschah und was noch passieren soll
Chronologie der wichtigsten Ereignisse
Autorenreferenz
Joachim Bischoff ist Ökonom und Publizist in Hamburg, Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus.
Frank Bsirske ist Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di.
Frank Deppe ist Professor für Politikwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg.
Klaus Dräger ist Mitarbeiter der Parlamentsfraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament.
Stephan Lindner ist Diplom-Politologe, Mitglied im bundesweiten Koordinierungskreis von Attac, lebt in Berlin.
Joachim Rock ist Referent der Vorsitzenden des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands Gesamtverband.
Sigrid Skarpelis-Sperk war bis zum Oktober 2005 Mitglied der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages.