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Jürgen Nordmann

Der lange Marsch zum Neoliberalismus

Vom Roten Wien zum freien Markt –
Popper und Hayek im Diskurs

400 Seiten | 2005 | EUR 34.80 | sFr 60.40
ISBN 3-89965-145-6 1

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Kurztext: Eine fundierte Studie über Popper und Hayek in der Entwicklung von "Wittgensteins Wien" bis zum Neoliberalismus.


Der Neoliberalismus hat die These vom angeblichen Ende der Ideologien eindrucksvoll widerlegt. Aber wie ist seine Wirkmächtigkeit zu erklären? Das Buch von Jürgen Nordmann ist ein weiterer Baustein in der Forschung über die Entstehung, Entwicklung und Durchsetzung des Neoliberalismus sowie als politisches Projekt.

Aber wie konnte die lange Zeit randständige Gruppe neoliberaler Ökonomen um Hayek Mitte der 1970er Jahre als Gewinner aus der Krise des Keynesianismus (und des Sozialismus) hervorgehen? Nordmann entwickelt gegenüber verschwörungstheoretischen Erklärungen einen theoretisch sehr viel differenzierteren Ansatz. Er untersucht liberale Denkbewegungen bis zum Vorabend der Wende und beschreibt die Formierung neuer, um politischen Einfluss ringender Intellektuellenlager. Im Zentrum steht die Beziehung zwischen Hayek und Popper, von der gemeinsamen Herkunft aus dem "Roten Wien" der 1920er Jahre, der Kontroverse zwischen "Kritischem Rationalismus" und "Frankfurter Schule". Diese Philosophie war schon im keynesianischen Zeitalter erfolgreich und mithin ein Türöffner des radikalen Neoliberalismus.

Der Ertrag von Nordmanns Studie besteht im Nachweis einer Verengung und Vereinseitigung innerliberaler Diskurse. Insbesondere in der Frage des Staatsinterventionismus gelang es, den Keynesianismus weitestgehend von der liberalen Landkarte zu verbannen und als "sozialistisch" zu stigmatisieren. Die Radikalisierung des Liberalismus zum Neoliberalismus schloss damit jegliche Dritte Wege innerhalb des bürgerlichen Lagers aus.

Der Autor:

Jürgen Nordmann, geb. 1968, Politikwissenschaftler und Publizist in Kaiserslautern. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zu den Themenfeldern "Wirtschaftspolitische Strategien im zweiten Weltkrieg", "Rechtsliberale Intellektuellengruppen" und "Poppers Demokratieverständnis".

Rezensionen

Besprechung in TERZ, Düsseldorfer Stattmagazin 03.06 Der lange Marsch zum Neoliberalismus Über neoliberale Theorie und auch über deren Einflüsse auf die so genannte Reformpolitik ist viel geschrieben worden. Im VSA-Verlag ist sogar ein Standardwerk zum Neoliberalismus von Bernd Walpen veröffentlicht worden. In der vorliegenden Neuerscheinung, einer überarbeiteten Dissertation, steht die Frage im Vordergrund, wie der Neoliberalismus hegemonial werden konnte. Der Autor Jürgen Nordmann hat hierzu den theoretischen und politischen Werdegang von zweien der bekanntesten und bedeutendsten Vertretern der neoliberalen Schule, Karl Popper und Friedrich August von Hayek nachgezeichnet und ausgewertet. Seine Fleißarbeit bringt so manche interessante Überraschung ans Licht: So werden nicht nur die bekannten politischen Beweggründe der neoliberalen Schule gegen den Neomarxismus im so genannten Positivismusstreit der deutschen Soziologie verdeutlicht, sondern der Autor gibt auch einen interessanten Einblick in die Frühzeit des biographischen Werdegangs der neoliberalen Protagonisten. So demonstrierte etwa Popper als 17-jähriger Anhänger des Marxismus im Jahre 1919 in Wien gegen die Inhaftierung namhafter Kommunisten. Das Buch ist voll von detailreichen Erläuterungen von unterschiedlichen Entwicklungen innerhalb der neoliberalen Schule. Dies macht es zu einem Spezialwerk für LeserInnen, die an einer detaillierten Erforschung der neoliberalen Schule interessiert sind. ALEX

Leseprobe 1

Einleitung

"Tschüss Neoliberalismus!" 25 Jahre nach Margaret Thatchers Regierungsbildung in Großbritannien bröckelt die Front. Der totgesagte Keynesianismus steht vor der Rückkehr. Eine neue Ökonomengeneration verdrängt die Neoklassik aus der Politikberatung und den angestammten Positionen in den einschlägigen Wissensinstituten.[8] Dieses Szenario entwarfen die Wirtschaftsjournalisten Hannes Koch und Michaela Krause.[9] Ob sich der Trend tatsächlich an der Wirtschaftspolitik der westlichen Demokratien schon belegen lässt, ist zwar fraglich, solange selbst sozialdemokratische Regierungen in klassich neoliberaler Manier den Wohlfahrts- und Sozialstaat bekämpfen. Aber an einer großen Wende in der aktuellen Wirtschaftspolitik machen Koch und Krause das bevorstehende Ende des Neoliberalismus ohnehin nicht fest. Sie befinden, dass Neokeynesianismus nicht bedeute, dass man zu der dirigistischen Makroökonomie der Nachkriegszeit zurückkehre, sondern dass die neoklassischen Theorien mit keynesianischem Interventionismus verbunden würden.[10] Der Neoliberalismus ist also nicht am Ende, weil ein externer Gegenspieler aufgetaucht ist. Vielmehr beginnen sich innerhalb des liberalen Lagers die Gewichte zu verschieben. Die reinen neoliberalen Lehren der marktradikalen Ökonomen Friedrich August von Hayek und Milton Friedman werden laut dieser Prognose wieder aus dem Zentrum der herrschenden wirtschaftspolitischen Paradigmen verschwinden. Sie sind auf dem Weg dahin, woher sie kamen: zum Rand des liberalen Spektrums. Die große Frage, die die kritische Politikwissenschaft seit zwei Jahrzehnten beschäftigt, ist, wie es ehedem randständigen neoliberalen Fraktionen gelingen konnte, in den 1970er Jahren das keynesianische Zeitalter in den westlichen Demokratien relativ abrupt zu beenden und in der Folgezeit die Paradigmen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik weltweit zu dominieren. Einigkeit herrscht zumindest über den Ablauf des Prozesses: Die größte Ausdehnungsphase des keynesianischen Wohlfahrtsstaates unter primär sozialdemokratischer Ägide korrelierte 1973 mit der ersten einschneidenden Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Die Krise und die wenig überzeugenden Versuche, die Krise zu beheben, mündeten 1979 in Großbritannien in einen spektakulären Paradigmenwechsel der Wirtschaftspolitik. Die Vereinigten Staaten folgten ein Jahr später. Die konservativen Parteien unter Thatcher und Reagan waren in ihrem Kampf gegen den Wohlfahrtsstaat eine programmatische Liaison mit radikalen Formen des Neoliberalismus eingegangen. Dieses Bündnis erwies sich in den gesellschaftlichen Kämpfen Anfang der 1980er Jahre als schlagkräftig. Die Schwarz-Weiß-Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts – Markt oder Plan, Marktwirtschaft oder Wohlfahrtsstaat, Freiheit oder Diktatur und Liberalismus oder Sozialismus – hatten plötzlich im Westen, bezogen auf die Ideologie der herrschenden Eliten, einen eindeutigen Gewinner: den mit entschiedenen, radikalen Antworten arbeitenden Neoliberalismus. Und dem internen Sieg im Westen folgte 1989 der große Sieg des nun zumeist neoliberalen Westens in der Jahrhundertauseinandersetzung des Kalten Krieges. Der Verlierer dieser beiden großen historischen Transformationen war im Westen die korporativistische alte Sozialdemokratie mit ihrer wohlfahrtsstaatlichen Programmatik. Sie geriet unrettbar in die Defensive, wobei ihr von den neoliberalen Gegnern vor allem jedes progressive Element erfolgreich abgesprochen wurde. Warum der Neoliberalismus im Westen flächendeckend das Rennen machte und die Linke eine Kette von historischen Niederlagen erlitt, ist häufig und ausführlich diskutiert worden. Dennoch liegen wesentliche Teile der Genese des Neoliberalismus im Dunkeln. Der Neoliberalismus scheint immer noch ein schwer fassbares Phänomen zu sein, das sich durch seinen indirekten Zugang zur Macht und seine unübersichtliche globale Struktur der klaren Analyse oft entzieht. Die vorliegende Studie nähert sich der Genese des Neoliberalismus von einer bisher kaum beachteten Seite. Sie nimmt den Befund der beiden oben zitierten Wirtschaftsjournalisten ernst, dass die internen Verschiebungen im liberalen Lager die epochenbestimmenden Formationen erzeugten. Voraussetzung des weltweiten Sieges des Neoliberalismus war insofern die Durchsetzung seiner Paradigmen im eigenen Lager. Die übergeordnete Frage, auf die eine Antwort gefunden werden soll, ist demnach, wie es vor der großen Wende dem Neoliberalismus gelang, innerhalb des liberalen Lagers ins Zentrum zu gelangen. Warum war der Neoliberalismus die einzig auf den Plan tretende liberale Alternative, als der Wohlfahrtsstaat in die Krise geriet? Wie gelang es konservativ-rechtsliberalen Theoretikern, deren Schriften vorzugsweise antimoderne Elemente enthielten, den Neoliberalismus zu einer zumindest in der Außenwirkung modernen, dynamischen Ideologie umzuformen? Der Blick wird also auf die Entwicklung des liberalen Denkens bis zum Vorabend der Wende in den 1970er Jahren gerichtet. Der Liberalismus im Westen bestand in der Phase vor dem neoliberalen Durchbruch aus vielen heterogenen Gruppen, die in kontroversen Diskussionen um Positionen und Vorrang stritten. Diese Pluralität zeigt sich sogar in der neoliberalen Fraktion selbst. Der Prozess des sich neu formierenden liberalen Denkens wird in diesem Buch somit naheliegend nicht als stringente, lineare Entwicklung beschrieben, sondern als eine oft unübersichtliche, sich verschiebende Landkarte, die über die Jahrzehnte verschiedenste Strömungen und Auslegungen des Liberalismus verzeichnet. Die auf dieser Karte zu entdeckenden, hier ausgewählten Diskurse zwischen österreichisch-englischem Neoliberalismus und Kritischem Rationalismus sollen mit einer Soziologie der intellektuellen Akteure und den jeweils wirksamen politischen Koordinaten soweit kurz geschlossen werden, dass – um einen Begriff von Ludwig Wittgenstein zu verwenden – die Denkbewegungen[11] des (neo)liberalen Komplexes sichtbar werden. Dieser Ansatz soll das Spektrum der kritischen Darstellung der Genese des Neoliberalismus erweitern. Keinesfalls soll eine weitere Geschichte des Neoliberalismus geschrieben werden. Die Studie hat nicht den auf das Totale gehenden Anspruch, den Neoliberalismus in seiner Vielfältigkeit lückenlos abzubilden. Schon allein die Darstellung und Abstufung seiner ökonomischen Modelle würde den hier vorgegebenen Rahmen sprengen. Gleiches gilt zwar auch für den Kritischen Rationalismus. Weil aber der Kritische Rationalismus keine abweichenden, konkurrierenden Ansätze unter seinem Dach vereinigte, sind die in Kauf zu nehmenden Leerstellen nicht ausgeprägt. Beide Theorien oder Denkstile werden primär in Bewegung dargestellt. Der Interaktion der Theorien sowie der theoretischen Auseinandersetzung mit den sich verändernden politischen Konstellationen wird, wann immer es geht, der Vorzug gegenüber der statischen Abbildung idealtypischer Texte eingeräumt. Weil der Kritische Rationalismus aus naheliegenden Gründen mit dem Neoliberalismus zum Großteil über die Hayek-Fraktion interagierte, wird der österreichisch-englischen Ausprägung des Neoliberalismus in der Darstellung Priorität eingeräumt. Das soll natürlich weder den Ordoliberalismus noch den amerikanischen Neoliberalismus abwerten. Aber die Dynamik des Diskurses zwischen Erkenntnistheorie, politischem Liberalismus und Neoliberalismus lässt sich an eingegrenzten Analysegegenständen klarer herausarbeiten. Exemplarisch soll der hier gewählte Ausschnitt den Prozess der Verschiebung des liberalen Denkens zur Hegemonie des marktradikalen Neoliberalismus verdeutlichen. Die bisher maßgebliche kritische Darstellung der Geschichte des Neoliberalismus, Richard Cocketts "Thinking the Unthinkable",[12] legt den Fokus auf die strategische Entwicklung der Intellektuellengruppe um Hayek, die sich in den 1930er Jahren formierte, in der Nachkriegszeit unter keynesianischer Dominanz mit einer Langzeitstrategie überwinterte und über ein Netz neuartiger Wissensinstitute, den Think Tanks, in den 1970er Jahren in die beratende Nähe der Macht gelangte. Diese Beschreibung ist natürlich nicht falsch. Sie nimmt aber andere liberale Strömungen und Einflüsse nur begrenzt wahr. Genau dieser Leerstelle der Wechselwirkungen verschiedener liberaler und neoliberaler Strömungen im 20. Jahrhundert widmet sich dieses Buch. Eine Hypothese ist, dass die Vorgeschichte des Neoliberalismus ein diskursiver, oft unwahrscheinlicher Prozess war, in dem die in den 1930er und 1950er Jahren nicht im liberalen Zentrum stehende Hayek-Fraktion immer mit anderen liberalen und konservativen Strömungen verbunden war. Der marktradikale Neoliberalismus war zumindest innerhalb des liberalen Lagers keinesfalls so marginalisiert, wie es eigene Legenden und auch Cockett suggerieren. In der Zeit keynesianischer Dominanz modernisierte und formierte sich das liberale Denken. In diesem Prozess gewann der radikale Neoliberalismus innerhalb des liberalen Lagers sowohl auf der Ebene der organisierten Intellektuellengruppen als auch auf der Ebene der theoretischen Entwicklung an Boden – wobei Modernisierung und Entwicklung weniger das Verrücken von Positionen als das Erschließen von neuen Wissensfeldern bedeutete. Auf der Intellektuellenebene ragte die neoliberale Mont-Pèlerin-Society (1947 gegründet, im folgenden MPS) heraus. Der Hayeksche Neoliberalismus hatte auf dem Feld der organisierten Intellektuellenpolitik eine Vorrangstellung im liberalen Lager. Auf der theoretischen Ebene fällt über die Jahrzehnte der Versuch der Aneignung wissenschaftstheoretischer Positionen auf. Zudem ergänzte der ökonomische Neoliberalismus die reine Marktphilosophie mit politischen Positionen, die dem liberalen Diskurs um die Demokratie und dem modernen politischen Liberalismus entstammten. Liberale Wissenschaftstheorie und liberale politische Philosophie sind im 20. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa herausgehoben mit dem Namen Karl Popper und seiner Theorie des Kritischen Rationalismus zu verbinden. Die wissenschaftstheoretischen und politischen Positionen des Neoliberalismus entwickelten sich auch oft im internen Diskurs mit Popper. Schon deshalb ist es gerechtfertigt, dem Kritischen Rationalismus bei der Betrachtung der Konstellationen des Liberalismus, die den Neoliberalismus beförderten, eine Hauptrolle einzuräumen. Er ist eine hervorzuhebende liberale Schule, weil er in der Zeit der Marginalisierung der Hayek-Fraktion ein erfolgreiches liberales Theorie- und Ideologieangebot mit einem hochmodernen Image darstellte. Poppers Erfolgsgeschichte relativiert doch beträchtlich die Vorstellung, der Liberalismus sei nach dem Weltkrieg von der Bildfläche verschwunden und in den 1970er Jahren in Gestalt des Neoliberalismus wie ein Phönix aus der Asche auferstanden. Zu nah war der erfolgreiche Kritische Rationalismus in den keynesianischen Jahrzehnten mit dem Neoliberalismus verbunden. Popper war Gründungsmitglied der neoliberalen MPS, und Hayek zählte zu den wenigen Intellektuellen, die Popper nie ernsthaft kritisierte. Er verdankte Hayek im Wesentlichen seine Karriere. Hayek unterstützte Popper und billigte ihm eine Sonderposition zu. So war der Kritische Rationalismus die einzige, dem Anspruch nach eigenständige Großtheorie, die erfolgreich in der MPS neben dem Neoliberalismus existierte. Einige entscheidende Punkte bestimmten den Diskurs zwischen österreichisch-englischem Neoliberalismus und Kritischem Rationalismus. Beide Theorien waren eng an eine Person gebunden. Hayek und Popper dominierten die Diskurse ihres theoretischen Umfelds – wenn auch der österreichische Neoliberalismus heterogener war und in Hayeks Lehrer, Ludwig von Mises, einen zweiten anerkannten Großtheoretiker hervorgebracht hatte. Beide Theorien entstanden im Wien der ersten österreichischen Republik. Die Debatten zwischen Popper und Hayek beziehen ihre Besonderheit und die ungewollt kontroverse Qualität daraus, dass die Protagonisten von sehr unterschiedlichen, sehr österreichischen politischen Lagern aus zu einem neuen Liberalismusverständnis gelangten. Hayek kam von der rechtsliberalen Mises-Schule und griff von Beginn an Marxismus, Sozialismus, Sozialdemokratie und Interventionismus an. Sein Vokabular orientierte sich dabei an den Begriffen der neoklassischen Wirtschaftstheorie und des klassischen alten Liberalismus. Popper kam aus der österreichischen Sozialdemokratie, deren Vokabular er in seinen politischen Texten übernahm. Popper entkernte sozusagen von innen heraus den österreichischen Sozialismus. Entkernung hieß zunächst Anti-Marxismus und schließlich – bezogen auf die gemischte Wirtschaft – die zunehmende Einschränkung des Interventionismus. Popper gilt manchem Exegeten wegen seines Vokabulars immer noch als Verfechter des Wohlfahrtsstaates.[13] Aber gerade die Debatten mit Hayek zeigen deutlich, dass Popper sich bereits Anfang der 1940er Jahre den zentralen Positionen Hayeks annäherte. Nichtsdestotrotz blieb Popper im großen Diskurs um Wohlfahrtsstaat, gemischte Wirtschaft und Sozialismus anschlussfähiger an einen Liberalismus der Mitte und rechte sozialdemokratische Positionen. Im internen liberalen Diskurs war für ihn jedoch Hayek das selbstverständliche Maß der Dinge. Poppers Kritischer Rationalismus ist mehr eine Methode als eine ausformulierte Theorie. Sein Ideenfundus ist schmal und seine Kernaussage einfach. Der Kritische Rationalismus sieht sich als wissenschaftliche Methodenlehre. Er propagiert eine reduktive Methode,[14] die ausschließt und abgrenzt: den Historizismus von der Stückwerktechnik, die Falsifikation von der Induktion, die Wissenschaft von der Pseudowissenschaft. Popper wiederholte ein Leben lang wenige Kernthesen: Die Wissenschaft schreitet durch Falsifikation von Theorien voran; die Fehlerkorrektur im politischen Bereich ist nur in der Demokratie möglich; Abwählbarkeit der Regierung und die Verpflichtung der Politik auf Stückwerktechnik sind die Bedingungen der Demokratie. Poppers Kritischer Rationalismus ist im Kern eine Aufforderung zu solider Wissenschaft und repräsentativer Demokratie.[15] An seinen politischen Positionen – Antimarxismus, Ablehnung der Planwirtschaft, Methodendemokratie und ideengeschichtliche Auffassung der Politik – hielt Popper prinzipientreu fest. Seine Popularität beruhte zum Schluss auf seinem "dezidierten Kulturoptimismus",[16] den der ältere Popper in kurzen, einfachen Slogans wie "Alles Leben ist Problemlösen", "Die Welt ist offen" oder "Optimismus ist Pflicht" ausdrückte. Diese Slogans koppelte Popper an allgemeine Forderungen nach Bescheidenheit und Redlichkeit in Politik und Wissenschaft.[17] Dieser alte Popper verstellt in der Rückschau den Blick auf die Erfolgsbedingungen und das anfangs moderne Image des Kritischen Rationalismus.[18] Ungemein modern war der Kritische Rationalismus in den Diskursen der 1940er und 1950er Jahre. Sein radikaler Funktionalismus und seine Beschränkung auf die Methodenlehre waren seinerzeit noch nicht zu lebenspraktischen Faustregeln und Ratschlägen kondensiert, sondern Kampfbegriffe gegen linke Gesellschaftstheorien. Das radikale Ausschlussverfahren der Falsifikation war dabei ein unschlagbares Argumentationsverfahren, das kompromisslos beanspruchte, die einzig wahre Methode der Wissenschaft zu sein. Die Stoßrichtung gegen den Marxismus und das Falsifikationsverfahren waren natürlich die inhaltlichen Verbindungsstücke zum Neoliberalismus. Sie wirkten wie ein innerer Motor des Liberalismus im Kampf gegen linke Theorien. Der Kritische Rationalismus war eine ideale Methoden- und Ergänzungslehre des marktradikalen Neoliberalismus. Ein beträchtlicher Teil der neoliberalen Intellektuellen übernahm im Kern die dynamische Methodenlehre Poppers. Der Neoliberalismus verdankte ihr theoretisch zu einem nicht geringen Teil die im 20. Jahrhundert allein diskursfähig machende Qualität der Wissenschaftlichkeit, auch wenn innerhalb der MPS mit Michael Polanyi und Louis Rougier, dem Organisator des legendären Walter-Lippmann-Kolloquiums im Jahr 1938, weitere einflussreiche Wissenschaftstheoretiker diskutierten. Allerdings kam deren öffentliche Reichweite und Anerkennung nicht annähernd an Popper heran. Schulen, die sich in der Wirkung mit dem Kritischen Rationalismus messen konnten, begründeten sie nicht. Der Kritische Rationalismus war die zentrale liberale Wissenschaftstheorie des Jahrhunderts. Hayek behielt aber bei diesem Aneignungsprozess kritisch-rationaler Kernthesen die Fäden in der Hand. Auch der marginalisierte Neoliberalismus stand nicht in der Gefahr, im erfolgreichen Kritischen Rationalismus aufzugehen. Bei der Adaption von Popper-Positionen gab die Hayek-Gruppe ihre ursprünglichen Positionen nicht auf. Popper konnte sich in kontroversen Punkten gegen Hayek nie durchsetzen. In Diskussionen mit Hayek ruderte Popper immer wieder zurück. Sein Weg führte ihn damit nach rechts, und während der rechtsliberale Neoliberalismus sich mit dem Appendix einer erfolgreichen Wissenschaftstheorie modernisierte, verfiel der Kritische Rationalismus, um Paul Feyerabend zu zitieren, seinerseits in Stagnation und die "schwärzeste Reaktion".[19] Bis zum neoliberalen Paradigmenwechsel in den 1970er Jahren war also der Kritische Rationalismus eine zentrale Adresse auf der liberalen Landkarte. Seine Wissenschaftstheorie zählte im liberalen Spektrum, gemessen an der Wirkung in der Öffentlichkeit, lange zu den erfolgreichsten Ansätzen. Wer sich aus dem liberalen Lager mit Wissenschaft beschäftigte, kam an Popper schwer vorbei. Und selbst die westlichen Sozialdemokratien entdeckten in ihrem Kampf gegen links die Vorzüge von Poppers Ausschlussverfahren. Aber obwohl Popper ein herausragender intellektueller Repräsentant des Liberalismus war, berief sich die federführende Politik bei der neoliberalen Wende letztlich vor allem auf Hayeks Marktideologie und Friedmans Monetarismus. Für Poppers Kritischen Rationalismus blieb nur die Rolle eines Juniorpartners, der allenfalls in der politischen Auseinandersetzung des Kalten Kriegs als Stichwortgeber gegen den real existierenden Sozialismus von Bedeutung war. Die Gewichte und Konstellationen hatten sich im liberalen Lager verschoben. Dieser langwierige Prozess der Dynamisierung, Verschiebung und Modernisierung innerhalb des Lagers der liberalen Intellektuellen wird im Folgenden anhand der Darstellung dreier exemplarischer Diskurse beschrieben: 1. Der erste Diskurs widmet sich Hayeks und Poppers Initiierung im Kampf gegen linke Theorien. Der frühe marktradikale Neoliberalismus und der Kritische Rationalismus entstanden in den 1920er Jahren im speziellen intellektuellen und politischen Klima des roten Wiens. In einer politisch durch Weltkrieg und Revolution aufgeladenen Drucksituation bekehrten sich Hayek und Popper zum radikalen Liberalismus respektive zum Antimarxismus. Im Kampf gegen linke Theorien agitierte Hayek generell gegen alles Sozialistische, und Popper opponierte gegen den Marxismus in der Sozialdemokratie. Neoliberalismus und Kritischer Rationalismus gingen aus Auseinandersetzungen und Diskussionen mit den einschlägigen Zirkeln und Kreisen, in denen die führenden Wiener Intellektuellen organisiert waren, hervor. Hayeks Bezugspunkt war das in der Tradition der einflussreichen österreichischen Schule der Nationalökonomie argumentierende Mises-Seminar unter der Leitung des strikt antisozialistischen, rechtsliberalen Ludwig von Mises. Der Kern der späteren MPS-Ökonomen durchlief das Mises-Seminar. Inhaltlich wurde bei Mises die Grenznutzentheorie radikalisiert, der Sozialismus ökonomisch kritisiert und über die Kritik jeder Form von Planwirtschaft die sozialdemokratische Vorstellung eines "dritten Weges" ins Visier genommen. Die für Popper bedeutsamste Intellektuellengruppe in Wien war der Wiener Kreis, der die Lehren von Ernst Mach weiterentwickelte und in das Fahrwasser von Ludwig Wittgenstein geriet. Popper, der nie Mitglied des Kreises war, adaptierte einen Großteil seiner wissenschaftstheoretischen Themen aus dem Orbit des Wiener Kreises. Sein zentrales Argument des Fallibilismus entstand in direkter Auseinandersetzung mit Positionen von Otto Neurath und Rudolf Carnap, zwei führenden Intellektuellen des Kreises. Auch die Verbindung von Wissenschaftstheorie, Ökonomie und Naturwissenschaft mit Sozialwissenschaft und aktueller Politik, die Popper ab Mitte der 1930er Jahre in einem liberalen Kontext propagierte, war gängige theoretische Praxis des Wiener Kreises. Poppers wissenschaftstheoretisches Resultat der Debatten veröffentlichte er 1934 unter dem Titel "Logik der Forschung".[20] Darin verwarf und reformulierte er die Ansätze des Wiener Kreises. 2. Die eigentliche Ausformulierung der Theorien fand im Londoner respektive neuseeländischen Exil statt. Die Theoreme aus der Wiener Zeit wurden verallgemeinert und zum Teil radikalisiert. Orientierungspunkt war dabei zunächst die englische Debatte um den richtigen Weg aus der Wirtschaftskrise, wobei Keynes’ "General Theory" der Kristallisationspunkt der Lagerbildung war. Hayek emigrierte bereits 1931 und lehrte an der von den Fabiern gegründeten London School of Economics (LSE). Zusammen mit Lionel Robbins bildete er in der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung eine neoliberale Gruppe, die sich gleichermaßen gegen sozialistisch ausgerichtete LSE-Fachbereiche wie die Gruppe um Keynes in Cambridge richtete. Zu diesem Lager stieß 1936 auch Popper, der mit Hayeks Hilfe zwar nicht zu der erhofften Position an der LSE, aber zu einer sicheren Anstellung in Christchurch/Neuseeland gelangte. Als nach 1942 in England die grundsätzliche Debatte um die Nachkriegsordnung begann und die alten Diskurse um die Wirtschaftsordnung wieder aufgenommen wurden, verfassten Popper und Hayek ihre Hauptwerke. Der einschlägige gesellschaftsphilosophische Diskurs mündete bei Popper in "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde"[21] und den sozialwissenschaftlichen Grundlagenaufsatz "Das Elend des Historizismus".[22] Hayek verfasste "Der Weg zur Knechtschaft",[23] worin er rigoros gegen alle planwirtschaftlichen Konzepte agitierte und einen Großteil der britischen Intellektuellen unter Sozialismusverdacht stellte. Bei der Abfassung der Werke standen Popper und Hayek in einem intensiven Briefkontakt, der sich neben der Wissensfrage um die grundsätzliche Frage der staatlichen Intervention drehte. Hayek hatte sich zuvor verstärkt mit den Grundlagen des Wissens auseinandergesetzt, um seine These, die Planwirtschaft würde zwangsläufig scheitern, weil sie zentralisiertes, absolutes Wissen in einem Kopf erfordere, zu untermauern. Der Kritische Rationalismus und der marktradikale Neoliberalismus näherten sich in dieser Phase weitgehend an. Poppers politische Philosophie argumentierte nach den gleichen Mustern und mit den gleichen Grundpositionen wie der auf die Ökonomie und die Intellektuellen fokussierte Hayek. Die beiden analogen Werke, die aus den britischen Grundsatzdebatten hervorgingen, wurden zu den zentralen Werken des Nachkriegsliberalismus. 3. Der dritte Diskurs widmet sich der Ausdifferenzierung der formierten Gruppe Hayek/Popper in der Nachkriegszeit. Die Organisationsformen und die Intellektuellenstrategie des Nachkriegs-Neoliberalismus sowie der Aufstieg des Kritischen Rationalismus und die Marginalisierung des radikalen Neoliberalismus werden anhand ihrer Positionen zum Nachkriegskonsens im Westen analysiert. In den 1960er Jahren brach der Nachkriegskonsens auf. Exemplarisch lässt sich dieser, das Ende des Wohlfahrtsstaates befördernde Prozess am Positivismusstreit verdeutlichen. Darin trat der Kritische Rationalismus gegen den Neomarxismus in Gestalt der Kritischen Theorie an. Die Lager und die Theorien begannen sich erneut auszudifferenzieren. Wissenschaftliche Schulen wurden spätestens mit dem Epochenjahr 1968 zu politischen Lagern und radikalisierten ihre Position. Hayekscher Neoliberalismus und Kritischer Rationalismus fanden in dieser Phase über den Begriff der Evolution theoretisch wieder eng zusammen. Während sich allerdings der in den 1950er Jahren erfolgreiche Kritische Rationalismus in statischen Modellen erschöpfte, popularisierte und dynamisierte der Neoliberalismus mit Hayeks Konzepten des "Marktes als Entdeckungsverfahren" und der "Spontanen Ordnung" sein theoretisches und ideologisches Arsenal. Der Neoliberalismus rückte innerhalb des liberalen Spektrums ins Zentrum. Nach der Ausdifferenzierung der Lager und der Verschärfung des Diskurses bot er die einzige nach außen kohärente, liberale Theorie gegen den Wohlfahrtsstaat. Damit war die intellektuelle Grundkonstellation vor dem Epochenbruch in den 1970er Jahren hergestellt. Mein Dank gilt: Professor Frank Deppe für die Betreuung, der Forschungsgruppe Buena Vista Neoliberal?, respektive Dieter Plehwe für Motivation und Diskussion sowie Bernhard Walpen für kritische Lektüre und Diskussion, Leo Bieling für die Zweitkorrektur, Christoph Lieber für das Lektorat, Werner Krämer für Anregungen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die Finanzierung. Für die Ablenkung danke ich meinen Kindern Clara und Walter. Für die große Unterstützung danke ich meiner Frau Silke Steinbach-Nordmann, meiner Schwester Ute Nordmann-Wilke, meiner Mutter Elfriede Nordmann und noch einmal ganz besonders meinem verstorbenen Vater Heinz Nordmann.

[8] Hannes Koch/Michaela Krause: Tschüss Neoliberalismus. Kurswechsel in der Ökonomie, in: Die Tageszeitung 18. Juni 2004.
[9] Ebenda.
[10] Ebenda.
[11] "Die Denkbewegung in meinem Philosophieren müsste sich in der Geschichte meines Geistes, seiner Moralbegriffe & dem Verständnis meiner Lage wiederfinden lassen." In: Ludwig Wittgenstein: Denkbewegungen, Tagebücher 1930-1932 und 1936-1937, Frankfurt a.M. 1999, S. 62 (Original: Innsbruck 1997).
[12] Richard Cockett: Thinking the Unthinkable. Think-Tanks and Economic Counter-Revolution 1931-1983, London 1995.
[13] Vgl. vor allem Malachi Hacohen: Karl Popper. The Formative Years 1902-1945. Politics and Philosophy in interwar Vienna, New York 2000.
[14] Fast jedes wissenschaftliche Verfahren arbeitet mit Reduktion und Ausschlussverfahren. Vgl. Max Weber: Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 146-214. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992, S. 64-67.
[15] Über seine beiden politischen Bücher urteilte Popper in seiner Rückschau: "›Das Elend des Historizismus‹ und ›Die offene Gesellschaft‹ waren meine Versuche, einen Beitrag zum Krieg zu leisten. Ich dachte, dass das Problem der Freiheit vielleicht wieder zu einem zentralen Problem werden würde, besonders unter dem erneuten Einfluss des Marxismus und der Propagierung einer zentral gelenkten Planwirtschaft (des ›Dirigismus‹). Deshalb waren diese Bücher als eine Verteidigung der Freiheit gedacht – eine Verteidigung gegen totalitäre und autoritäre Ideen – und als eine Warnung vor den Gefahren des historizistischen Aberglaubens. Beide Bücher, besonders aber ›Die offene Gesellschaft‹ (zweifellos das wichtigere von beiden) können als Beiträge zur kritischen Philosophie der Politik bezeichnet werden. Beide wuchsen aus der Erkenntnistheorie der ›Logik der Forschung‹ heraus, und aus meiner Überzeugung, dass Ideen, deren wir uns oft gar nicht bewusst sind, wie insbesondere unsere Ideen über menschliche Erkenntnis und deren zentrale Probleme (›Was können wir wissen?‹ ›Wie gewiss ist unser Wissen?‹), für unsere Einstellung zu uns selbst und zur Politik entscheidend sind." (Karl Popper: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg 1995, S. 163. Original: Unended Quest. An Intellectual Autobiography, London/Glasgow 1974).
[16] Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 3, Stuttgart 1995, S. 292.
[17] Im Vorwort zu "Das Elend des Historizismus" schreibt Popper: "Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unsere Träume der Weltenbeglückung aufgeben. Dennoch können und sollen wir Weltverbesserer bleiben – aber bescheidene Weltverbesserer." (Karl Popper: Das Elend des Historizismus (1944/45), Tübingen 1987, S. VIII). Hayek forderte in der Einleitung seines Hauptwerkes "Die Verfassung der Freiheit" Bescheidenheit und Geduld: "Ich hoffe, dass unsere Generation eingesehen hat, dass es Perfektionismus der einen oder anderen Art war, der oft zerstört hat, was die Gesellschaft erreicht hatte. Mit begrenzteren Zielen, mehr Geduld und Bescheidenheit werden wir vielleicht weiter und schneller vorwärtskommen als unter der Führung ›eines stolzen und höchst anmaßenden Vertrauens auf die transzendente Weisheit unseres Zeitalters und seiner Urteilskraft‹ (Hayek zitiert an dieser Stelle William Wordsworth: The Excursion, Anm. J.N.)." (Friedrich August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, S. 9. Original: The Constitution of Liberty, Chicago/London 1960).
[18] Ein Großtheoretiker wie Niklas Luhmann, der "autologische" Methoden bevorzugt, spottet: "Verglichen mit den Fortschritten, die hier inzwischen erzielt sind, machen Erkenntnistheorien, die selbstreferenzaversiv gebaut sind oder die hierfür ersonnenen Figuren weiterverwenden, einen eher zweitrangigen Eindruck. Sie bleiben, wie man an Popper sehen kann, in methodologischen Ratschlägen stecken, die man natürlich immer wieder gern zur Kenntnis nimmt und zur Beachtung empfiehlt." (Niklas Luhmann: Die Wissenschaft ..., a.a.O., S. 9.)
[19] Paul Feyerabend/Hans Albert: Briefwechsel, a.a.O., S. 205-206.
[20] Karl Popper: Logik der Forschung, Tübingen 2002 (Original 1934).
[21] Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bände, Tübingen 1992, Original: The Open Society and its Enemies, London 1945, deutsche Erstausgabe 1957, in der von Popper autorisierten Übersetzung von Paul Feyerabend, die auch für diese Arbeit benutzt wird.
[22] Karl Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1987, Original: The Poverty of Historicism, London 1957, zuerst veröffentlicht in Economica 11-12, 1944/1945.
[23] Friedrich August von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, Zürich 1972, Original: The Road to Serfdom, London/Chicago 1944.

Leseprobe 2

Schluss:
Ausblick auf die reduzierte Welt

Das liberale Denken hat im 20. Jahrhundert bis zum Vorabend der neoliberalen Wende einen langen Weg hinter sich gebracht. Welche Richtung und welche innere Dynamik die Diskurse um den richtigen Liberalismus hatten, ist am Diskurs des Kritischen Rationalismus mit dem österreichisch-englischen Neoliberalismus paradigmatisch ablesbar. Mögen auch der Hayeksche Neoliberalismus und der Kritische Rationalismus Anfang der 1930er Jahre bereits im Kern ausformuliert gewesen sein. Ihre Denkbewegungen in den folgenden Jahrzehnten waren nicht einmal in Umrissen erkennbar. Unabsehbar und durch viele Zufälle und Unwahrscheinlichkeiten begünstigt, rückte der radikale Neoliberalismus ins Zentrum der liberalen Landkarte. Um kurz zu resümieren: Befördert wurde der Prozess dadurch, dass mit dem Kritischen Rationalismus in der Hochzeit wohlfahrtsstaatlicher Programmatik ein treuer Verbündeter des Neoliberalismus einen gewichtigen Punkt auf dieser Karte ausmachte. Von dem Austausch mit dem erfolgreichen Kritischen Rationalismus profitierte der Neoliberalismus. Zum einen begründete die von Popper adaptierte Theorie den im Jahrhundert der Wissenschaft notwendigen neoliberalen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit weitaus besser als die oft nicht diskursfähigen Axiome neoliberaler Ökonomen. Mit dem Kritischen Rationalismus dominierte in England und Mitteleuropa in der Nachkriegszeit eine anerkannte Wissenschaftstheorie die liberale Landkarte. Mit der Adaption kritisch-rationaler Theoreme konnten neoliberale Ökonomen ihr wissenschaftliches Profil schärfen. Das dynamische Element des Kritischen Rationalismus, der Falsifikationismus, wurde Teil der neoliberalen Theoriebildung. Anders herum hatte Hayek einen eminenten Einfluss auf die politische Ausrichtung Poppers. Sein Diskurs mit Popper Anfang der 1940er Jahre wirkte sich auf die Hauptwerke "Das Elend des Historizismus" und "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" aus. Poppers Kritischer Rationalismus schränkte mit seinem Einschwenken auf Hayeks Grundprämissen den zunächst positiv definierten Interventionsstaat weit ein. Die politische Theorie lief bei Popper im Gegensatz zur dynamischen, modernistischen Wissenschaftstheorie in eine reaktionäre Richtung. Popper bot mit seinem eingeschränkten Wohlfahrtsstaat vielleicht noch in den 1950er Jahren den konservativen Eliten eine Brücke zum Keynesianismus. Aber die Tendenz ging bei Popper stetig vom Wohlfahrtsstaat weg.[1] Auf der Ebene der Vernetzung der neoliberalen Intellektuellen war Popper eine Schlüsselfigur. Nicht, weil er innerhalb der MPS sonderlich aktiv war. Vielmehr, weil er ein prominentes Gründungsmitglied war, das in der Frühphase das verwaiste außerökonomische Feld in den neoliberalen Diskurs einbrachte. Das Spektrum des Neoliberalismus wurde durch die Wissenschaftstheorie von Popper erweitert. Und Popper führte an der LSE in seinem Fach die Arbeit fort, die Hayek und Robbins in den 1930er Jahren in der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Schule begonnen hatten. Mit Popper und Oakeshott behielt das MPS-Lager in keynesianischen Zeiten gewichtigen Einfluss an der LSE. Darüber hinaus war Poppers Lehre in den 1950er und 1960er Jahren an den Universitäten, vor allem in Großbritannien und Mitteleuropa, aber auch in den Vereinigten Staaten, überaus erfolgreich. Das an den großen Universitäten fast flächendeckend eingeführte Fach Wissenschaftstheorie sprach dafür Bände. Der Liberalismus des 20. Jahrhunderts konstituierte sich primär über die Ablehnung des Sozialismus und des Marxismus. Diese Ablehnung verband anfangs Popper, Hayek und Mises mit ihrem späteren Widerpart Keynes. Dass der radikale Neoliberalismus letztlich den Liberalismus dominierte, lag im Kern daran, dass es der Hayek-Fraktion gelang, die eigentlich erfolgreichste liberale Wirtschaftskonzeption des Jahrhunderts, den "Keynesianismus", im innerliberalen Diskurs von der liberalen Landkarte zu verbannen und als Sozialismus oder Weg zum Sozialismus zu stigmatisieren. Dies allein hätte allerdings nicht zum späteren Erfolg ausgereicht. Erst als die konservativen Eliten, die in den 1950er Jahren den Wohlfahrtsstaat im Westen initiiert hatten, von keynesianischen Modellen abrückten, war ein Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik möglich. Das Bündnis der konservativen Eliten mit einem neuen, rechtsgerichteten Liberalismus kündigte sich auf der intellektuellen Ebene bereits in den 1960er Jahren in der Auseinandersetzung mit dem Neomarxismus an. Spätestens mit 1968 ist die Ausdifferenzierung der Lagerbildung zu konstatieren, die das Koordinatensystem für die neoliberale Wende schuf. Das endgültige Abrücken der Konservativen vom Wohlfahrtsstaat vollzog sich naturgemäß zu dem Zeitpunkt, als eine gesteigerte wohlfahrtsstaatliche Rhetorik die Programmatik der sozialdemokratischen Parteien wurde. Dass neoliberale Ansätze nach dem Krieg immer eine Option für bürgerlich-kapitalistische Eliten blieben, lag nicht zuletzt darin begründet, dass weder das Fabianische Sozialismusprogramm noch die keynesianische Makroökonomie die kapitalistische Mikroökonomie einschneidend und bleibend veränderten. Der Keynesianismus war eine durch und durch kapitalistische Epoche. Das pragmatische kapitalistische Wirtschaften blieb sich in den westlichen Gesellschaften über die Epochen hinweg erstaunlich gleich. Der Neoliberalismus stärkte in diesem Geflecht das Feld der Mikroökonomie und brachte sie gegen die Makroökonomie in Stellung. Makroökonomie und Geschichtsphilosophie verbannten die neoliberalen Ökonomen und eben Popper erfolgreich von der liberalen Agenda. Der Neoliberalismus versprach, dass die Mikroökonomie von den scheinbaren Zwängen der Makroökonomie befreit werden würde. Der mit der Makroökonomie identifizierte Staat wurde nach durchaus interventionistischen Ansätzen in der Frühphase zum Widerpart des Liberalismus stilisiert. Der sich durchsetzende Neoliberalismus verlangte vom Staat nur noch, dass er die marktorientierten Mikroprozesse sanktionierte und forcierte. Der Liberalismus, der hier übrig blieb, setzte ein klares Primat der Ökonomie über die Politik. Diese Haltung musste in der Krise keynesianischer Makroökonomie zwangsläufig Anhänger unter den konservativen und wirtschaftlichen Eliten finden. Als die konservativen Parteien in den 1970er Jahren begannen, eine kritische Haltung gegen den Wohlfahrtsstaat einzunehmen, waren auf der liberalen Landkarte nur noch neoliberale Theorieangebote sowie im europäischen Diskurs der Kritische Rationalismus als Optionen vorhanden. Die politischen, großideologischen Lagerkonstellationen beförderten die Schwarz-Weiß-Programmatik der radikalen Neoliberalen um Hayek und Friedman. Die konservativen Eliten sprangen zunehmend auf den neoliberalen Zug auf, der den dritten Weg und die gemischte Wirtschaft dem Sozialismus und nicht dem Liberalismus zuschlug. Der Kritische Rationalismus bot sich dagegen in der großen Lagerauseinandersetzung nur als Hilfsideologie an, obwohl Popper Hayek auf dem Weg nach rechts sehr weit gefolgt war. Sein aus dem roten Wien stammendes Vokabular und sein technokratischer, methodenfixierter Ansatz taugte für die hochideologischen Kämpfe der 1970er Jahre nicht zur liberalen Großideologie. Als antisozialistische Kleinideologie war der Kritische Rationalismus allerdings fast in allen großen Parteien des Westens unverzichtbar – auch in rechten Kreisen der Sozialdemokratie.[2] Die Dynamik des Kritischen Rationalismus schien erschöpft. Die Gesellschaftsphilosophie des Kritischen Rationalismus ging durch Poppers Lageridentität mit Hayek im sich formierenden Neoliberalismus auf. In den 1980er Jahren verlor Popper dann ganz das Image eines Mittlers, der irgendwann in der Interventionsdebatte eine Zwischenposition eingenommen hatte. Anti-Intervention ließ sich in der Hochphase deregulierender Wirtschaftspolitik mit Popper allemal so gut begründen wie mit Hayek. Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus empfahl Popper ohne Einschränkung die freie Marktwirtschaft.[3] Er war im Prinzip im Neoliberalismus ganz angekommen und sah in einem Minimalstaat das optimale gesellschaftspolitische Modell.[4] Im September 1992 hielt Popper an der LSE eine Gedenkrede für den ein halbes Jahr zuvor gestorbenen Hayek. Darin betonte er, dass Hayek und er im Gegensatz zu Mises immer für einen Schutz durch Gesetz und Staat eingetreten seien.[5] Zu Hayeks Neoliberalismus grenzt sich Popper nicht ab. Dahrendorf feierte ihn immerhin als Vorbild für einen moderaten Umbau im Osten; mit Popper seien die krassen sozialen Verwerfungen, die an Friedman und Hayek angelehnte Crashprogramme verursachten, nicht zu erwarten.[6] Popper war in diesem Kontext so etwas wie ein Verfechter eines "linken Thatcherismus".[7] Seine politische Philosophie war zwar neoliberal zu interpretieren, aber er zählte nicht zu den Vorbildern der "neuen ›Intellektuellen‹ der Rechten ... die sich zur bedingungslosen und oft bösartigen Verteidigung des Thatcherismus"[8] berufen fühlten. Dahrendorf erkannte richtig: "Der Geist weht rechts".[9] Hayek und Friedman schwammen auf dem Scheitel dieser Welle; nur etwas tiefer war aber auch der moderate Popper mit von der Partie. Was wurde eigentlich zum ideologischen Kern des real existierenden Neoliberalismus? Das Programm wirkte in entscheidenden Punkten wie ein Mix aus radikalem Neoliberalismus und Kritischem Rationalismus. Folgende Leitsätze lassen sich in den westlichen Demokratien nach der neoliberalen Wende in den meisten wirtschaftswissenschaftlichen Texten, Programmen von bürgerlichen Parteien, Politikberatungs- sowie Regierungspapieren zur Wirtschaftspolitik wiederfinden:
1. Das selbstregulierende Marktsystem ist alternativlose Grundlage einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik.
2. Die Gesellschaft ist ein Konglomerat aus Marktbeziehungen.
3. Die auf neoklassische Modelle basierende Wirtschaftswissenschaft ist die wissenschaftliche Königsdisziplin. Sie untersucht analog ihrer Ursprünge im 18. Jahrhundert die Marktgesetze. Wirtschaftswissenschaft ist gleichfalls der Regulator der "weichen" Sozialwissenschaft.
4. Die Erzielung von Wachstumsraten ist Grundvoraussetzung für eine Diskussion über die Verteilungsproblematik.
5. Utopien, die politische Systeme grundsätzlich diskutieren, sind unwissenschaftlich und nicht problemorientiert.
6. Die marktkonforme wirtschaftliche Prognose entscheidet über politische Zukunftsmodelle.
7. Die Handlungsweise des Managements – das geschäftliche Kalkül, die Fokussierung auf ein kurzfristiges Problem-Solving – ist Maxime der Politik und Ideal der Lebensführung.[10]
8. Die Demokratie beschränkt sich auf die Garantie, dass Regierungen durch Wahlen friedlich ausgetauscht werden können. Regierungen sind der Stückwerktechnik verpflichtet, die die grundsätzliche Ordnung nicht revidiert.
9. Der soziale Status des Individuums wird über den Markt ermittelt.
10. Marktorientierte Wirtschaftspolitik heißt: Einschränkung der Macht der Gewerkschaften, Senkung der Lohnkosten, Abbau und Privatisierung des Sozialen, Preisregulierung über den Markt, Ausweitung privaten Unternehmertums, Ökonomisierung der gesellschaftlichen Institutionen, schlanker Staat, Privatisierung von Staatsbetrieben und Deregulierung von Märkten, Steuersenkungen für Konzerne und Unternehmer sowie Beschränkung der Geldmengen. Diese Maximen werden von wirtschaftlichen und politischen Eliten in öffentlichen Diskursen hartnäckig verteidigt. Die radikalen Marktdogmen dominieren weiterhin die Politikberatung, die Programme der etablierten Parteien, die Unternehmerverbände und in den vergangenen Jahren noch einmal verstärkt den Mediensektor. Auch in den Wissenschaften steht durchgehend ein marktorientierter Ökonomisierungsprozess auf der Agenda, der sich nicht zuletzt gegen die kritische Wissenschaft richtet. Fast alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche funktionieren inzwischen nach den Richtlinien der kapitalistischen Mikroökonomie. Selbst die staatliche Bürokratie reformiert nach dem Organisationsideal des flexiblen Unternehmertums. Der Staat-Markt-Antagonismus, der von neoliberaler Seite behauptet wird, ist längst zur Farce geworden. Die neoliberalen Think-Tanks und die MPS sind ungebrochen aktiv und betreiben weltweit Agenda-Setting, um ihre Nähe zur Macht zu bewahren. Und trotzdem gibt es Gegensignale. Der Kritische Rationalismus ist bereits aus dem Zentrum des liberalen Spektrums verschwunden. Gern zitiert wurde der Wissenschaftstheoretiker Popper in den 1990er Jahren allenfalls als wissenschaftliches Feigenblatt von liberalen Ökonomen und als populärwissenschaftlicher Alltagsratgeber von Managern.[11] Sein 100. Geburtstag sorgte für eine kleine Popper-Renaissance im Wissenschaftsbetrieb,12 aber schon zwei Jahre später scheint diese zarte Pflanze wieder eingegangen zu sein. Repräsentativ ist Popper noch als Verteidiger der westlichen Demokratie im Gedächtnis.[13] Popper konnte sich 1989 zu den großen Siegern des Kalten Krieges zählen.[14] Sowohl auf dem ideologisch-intellektuellen als auch auf dem ökonomischen Feld waren der von Popper bekämpfte Sozialismus leninistischer Prägung und Versuche des dritten Weges unterlegen. Aber eine Renaissance des Kritischen Rationalismus löste der Untergang des real existieren Sozialismus nicht aus. Die 1990er Jahre zeigten an, dass der Liberalismus unter der Hegemonie der neoliberalen Ideologie auf eine Krise zusteuert. Obwohl das Modell der freien Marktwirtschaft und der liberalen Demokratie einen vollständigen Sieg davon getragen und kaum noch ernstzunehmende Opponenten hatte, war unverkennbar, dass die Philosophie des Liberalismus spätestens nach 1989 einen "Burn out"[15] erlebte. Nach dem großen Sieg des Westens beschränkte sich das liberale Lager auf die gebetsmühlenhafte Vermittlung der Marktwirtschaft. Die hybriden Postulate vom "Ende der großen Erzählungen" (Lyotard)[16] und vom "Ende der Geschichte" (Fukuyama)[17] zeigen ungewollt und dennoch plastisch den paradoxen Vorgang an, dass sich der Liberalismus durch den Erfolg des Neoliberalismus als politische Theorie zum großen Teil selbst abgeschafft hat. Politische Philosophien des Liberalismus sind für Fukuyama nach ihrer Durchsetzung verzichtbar, Geschichtsmodelle in Anbetracht pragmatischer wirtschaftlicher Rationalität überflüssig geworden. Auch nach Jugoslawien-, Golf- und Terrorkriegen hält Fukuyama an seiner These fest: Die Geschichte der großen Konflikte ist zu Ende, die liberale Demokratie und die freie Marktwirtschaft sind alternativlos. Maßstab der Politik ist der Warenverkehr. Auch ist unverkennbar, dass im Spektrum des Neoliberalismus seit den 1960er Jahren keine neuen einflussreichen Theorien entstanden sind. Hayek, Mises, Popper, Becker oder Buchanan haben als "Original Thinkers" kaum Nachfolger gefunden. Die Netzwerke attackieren zwar weiterhin die Gegner der freien Marktmarktwirtschaft, aber der Neoliberalismus an der Macht entwarf keine nennenswerten Theorien, die die Negation überwanden. Hayek hatte den Markt in "Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" gegen Falsifikation immunisiert. Anders herum ist es dem Neoliberalismus in den hegemonialen Jahren nicht gelungen, den Markt positiv zu verifizieren. Obwohl der neoliberale Denkstil auf Prinzipien basiert, die sich nicht an der Wirklichkeit messen lassen, ist der anhaltende Misserfolg des Heilsversprechen Markt schwer zu übersehen. Natürlich ist der Markt in der neoliberalen Theorie unabhängig vom Ergebnis der beste aller Mechanismen. Bei schlechten Ergebnissen sind es immer Eingriffe von außen, die die segensreiche Wirkung des Marktes verhindern. Aber es ist einfach erkennbar, dass ein Spiel um knappe Ressourcen, das der Markt in der neoliberalen Theorie ist, unter dem Strich immer mehr Verlierer als Gewinner zum Ergebnis hat.[18] Verlierer sind zuerst die Menschen, die von sozialen Transferleistungen abhängig sind. Neoliberale Politik hat die soziale Sicherung zusammengestrichen, ohne dass die sensationellste Marktpolitik Lebensalternativen für Schwache bot. Zweiter markanter Verlierer ist die zentrale Gruppe einkommensabhängiger Menschen. Weil die neoliberale Ideologie das Ziel verfolgt, dass ein Volk in Kapital (Markt) und nicht in Einkommen (Sozialismus) denkt,[19] bevorzugt die radikale Marktpolitik Kapitalinhaber gegenüber abhängig arbeitenden Einkommensempfängern. Einkommensabhängige werden gezwungen, über den freien Markt ihre Existenz zu sichern. Treten sie in Konkurrenz mit Kapitalinhabern, ist das Ergebnis vorprogrammiert. Die Einkommen werden des Weiteren durch die Ausdehnung des Marktes auf möglichst alle Lebensbereiche unter Druck gesetzt, weil diese Ausdehnung im Kern bedeutet, dass bisher subventionierte oder nicht bewirtschaftete Bereiche kostenpflichtig gemacht werden. Diese Entwicklung geht mit einer schleichenden Lohnsenkung einher, weil der Faktor Arbeit im Einklang mit den Knappheitsgesetzten des Marktes wertloser wird. Damit nicht genug müssen die Einkommen überproportional den Staatshaushalt bedienen, um die Steuersenkungspolitik für Kapitalinhaber auszugleichen. So in die Zange genommen, erhöht die neoliberale Marktpolitik das Armutsrisiko weiter Teile der einkommensabhängigen Gruppen. Und eine Gesellschaft von Kapitaleignern, die große Gegenutopie der Marktradikalen, ist natürlich utopisch, so lang das Kapital nicht auf die Gesellschaft verteilt ist. Erst dann würde das ausgedehnte Spiel des Marktes Sinn machen. Aber eine solche Verteilungspolitik schließt die neoliberale Ideologie selbstverständlich prinzipiell aus. Die Heilsversprechen der Marktradikalen scheitern in diesem Kontext permanent an der Wirklichkeit. Sollten neoliberale Paradigmen weiter die Ideologie des kapitalistischen Westens dominieren, ist zu erwarten, dass sich ähnliche Gräben zwischen Ideologie und Wirklichkeit auftun wie in der Endphase des real existierenden Sozialismus. Spurlos ist diese sich anbahnende Entwicklung am liberalen Lager nicht vorüber gegangen. Es deuten sich Verschiebungen an. Keynesianische Modelle werden wieder verhandelt. Das Wort Protektionismus und die Forderung nach Zöllen tauchen in den wirtschaftspolitischen Diskursen der Eliten auf. Die Kritik am puren Ökonomismus und am ungezügelten globalen Freihandel wird selbst von Teilen der marktliberalen Eliten formuliert. Glühende Verfechter des Marktes wie die Nobelpreisträger für Ökonomie Amartya Sen und Joseph Stiglitz sowie seit Jahren der "Popperianer" George Soros fordern angesichts der Stagnation des Neoliberalismus die Inthronisierung der Politik. Diese Verschiebungen im liberalen Lager heißen aber nicht viel mehr, als dass wohlfahrtsstaatliche Elemente wieder ernsthaft diskutiert werden und in den wirtschaftlichen Beratungsgremien zuweilen ein waschechter Keynesianer auftaucht. Das mag aber kaum befriedigen. Im Rahmen dieses Buches ging es meist um den Dualismus Neoliberalismus-Wohlfahrtsstaat. Wohlfahrtsstaatliche Ansätze waren erst ungemein erfolgreich und schließlich in der Auseinandersetzung mit dem radikalen Neoliberalismus unterlegen. Eine Reaktivierung des Keynesianismus nach dem möglichen Ende einer neoliberalen Epoche wäre allerdings ein zweifelhaftes Zukunftskonzept. Die Konzepte des Wohlfahrtsstaates sind ebenso ausgereizt wie die Marktreligion der Neoliberalen. An dieser Stelle ist noch einmal an den konservativen Michael Oakeshott zu erinnern. Er wies, wie in Kapitel 4 angemerkt, auf die gern verdrängte Wahrheit hin, dass Wohlfahrtsstaat und Neoliberalismus gleichermaßen Projekte der kapitalistischen Ausbeutung sind. Nur im neoliberalen Diskurs differieren sie um das Ganze. Sicher ist es von Bedeutung, wieviele Menschen von der kapitalistischen Distribution profitieren. Und natürlich ist es ein wichtiges Thema, ob Menschen ohne Kapital zu einem Marktspiel gezwungen werden, bei dem sie als Verlierer feststehen. Aber unbenommen dieser Aspekte, denen sich noch problemlos andere hinzufügen ließen, wird der Wohlfahrtsstaat die eklatanten Probleme nicht lösen, die nach einem Vierteljahrhundert Neoliberalismus auf der Agenda stehen. Denn es sind, um es paradox auszudrücken, die ungelösten Probleme der 1970er Jahre, die die Politik bestimmen werden. Der Neoliberalismus hat keines der Hauptprobleme des Wohlfahrtsstaates und des an ihn gekoppelten Fordismus lösen können. Es sei nur – die Aufzählung ist willkürlich und unvollständig – auf die Umweltproblematik, die Armut, das Dritte-Welt-Problem, das Gesundheitsproblem, das Rohstoffproblem, die Krisenanfälligkeit der Wirtschaft, die Gerechtigkeitslücke durch kapitalistische Distribution, Krieg und Verschuldung verwiesen. Diese Probleme, die die Implosion des kapitalistischen Wohlfahrtsstaates beschleunigten, hat der radikalkapitalistische Neoliberalismus nicht nur nicht gelöst, sondern verschärft. Aber ist die neoliberale Epoche anders als durch einen innerliberalen Paradigmenwechsel der herrschenden Eliten zu beenden. Wie sieht es mit den Gegnern des Neoliberalismus aus, die nicht zum liberalen Spektrum zu zählen sind, und den Kapitalismus als Ganzes in Frage stellen? Gibt es noch so etwas wie eine sozialistische Opposition, die ernst zu nehmen ist? Auf den ersten Blick nein! Die reduzierte Weltsicht des Neoliberalismus habe "ganze Kohorten von Studenten der Geistes- und Sozialwissenschaften auf einen Analphabetismus in Sachen Geschichtsphilosophie und Politische Theorie verpflichtet", höhnen zurecht die Kritiker, die sich noch an eine prä-neoliberale Zeit erinnern.[20] Wie sich an den populären kapitalismuskritischen Werken von Antonio Negri, Slavoj Žižek und Robert Kurz ablesen lässt, ist es für die neuen Anti-Kapitalisten tatsächlich die erste Notwendigkeit, Theorie und Geschichte zu rekonstruieren. Das kapitalismuskritische Geschichts- und Theoriebewusstsein scheint in den neoliberalen Jahrzehnten unter der Tabula rasa der Geschichtsphilosophien am stärksten gelitten zu haben. Wohin die Reise linker Theorie gehen wird, ist unklar. Wichtig ist allerdings, dass sie in der intellektuellen Diskussion den Dualismus Wohlfahrtsstaat-Neoliberalismus hinter sich lässt. Schließlich werden die Probleme des Gesamtkomplexes Wohlfahrtsstaat-Neoliberalismus zu lösen sein. Des Weiteren erscheint mir wichtig, sich bei Entwürfen alternativer Wirtschaftsmodelle nicht darauf zu beschränken, die makroökonomischen Paradigmen zu ändern. Der Neoliberalismus ist erst dann besiegt, wenn sich die Linke der Mikroökonomie annimmt, und die Paradigmen des wirtschaftlichen Handels verändert werden. Erst damit würde dem Neoliberalismus das Feld, auf dem er wächst und gedeiht, dauerhaft entzogen. Ein theoretisches Defizit der Linken muss jedoch nicht zwingend von Bedeutung sein. Die Theoriediskussion krankt daran, dass die Linke inzwischen analog den (Neo-)Liberalen ein Primat der Ideen annimmt und sich anscheinend auf eine intellektuelle Langzeitstrategie versteift. Dies erscheint jedoch angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krisenerscheinungen und angesichts der Stagnation der neoliberalen Ideologie ein unnötig langer, umständlicher Weg zu sein, der noch dazu die antidemokratischen, keineswegs überzeugenden Prämissen des Gegners übernimmt. Die Linke sollte sich nicht bei einer intellektuellen Beeinflussungsstrategie aufhalten. Welche herrschenden Eliten, bei denen doch der Wind meist rechts weht, und die selbst in sozialliberalen Zeiten allenfalls in der politischen Mitte beheimatet sind, lassen sich schon von linken Intellektuellen davon überzeugen, dass der Neoliberalismus antisozial und eine solidarische Gesellschaft ein lohnendes Ziel ist. Die Linke muss, wenn sie ein Gegengewicht zum Neoliberalismus bilden will, auf die Politisierung der unzähligen Verlierer des Neoliberalismus setzen. Durch eine neue soziale Bewegung, die sich um die sozialen Interessen dieser Verlierer kümmert und ihnen selbst eine Stimme gibt, ist vielleicht eine schlagkräftige oppositionelle Plattform möglich. Außerparlamentarische Protestformen und basisdemokratische Ansätze sollten gestärkt werden, weil der beharrende, langsame Funktionsmechanismus der Parlamente neoliberale Handlungsformen und Ideologieelemente eher konserviert. Eine Politisierung über die Straße könnte das Gebäude des Neoliberalismus zumindest schneller zum Umsturz bringen als es von den optimistischsten Langzeittheoretikern prognostiziert wird. Zu allerletzt soll im Sinn dieser Arbeit die Empfehlung ausgesprochen werden, sich möglichst unvoreingenommen und selbstbewusst mit dem neoliberalen Lager zu beschäftigen. Denn ein positiver Befund bei der Forschung über die Genese des Neoliberalismus war, dass er trotz seiner anhaltenden Hegemonie kaum Aspekte hat, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, seine Stärke zu einem Mythos zu überhöhen. Es ist daran zu erinnern, dass der Keynesianismus im Moment seiner größten Ausdehnung implodierte. Deshalb ist beharrlich weiter zu kritisieren. Der neoliberale Denkstil sollte unablässig an der Wirklichkeit gemessen und seine beanspruchte Alternativlosigkeit mit offenem Denken ad absurdum geführt werden. Die Halbwertszeit dieser Ideologie ist dann begrenzt, wenn unmissverständlich deutlich wird, dass es Alternativen gibt, die der Mehrzahl der Menschen ein besseres, annehmbareres Leben ermöglichen.

[1] Dass er den Wohlfahrtsstaat im Grunde verabscheute, machte Popper in Aufsätzen immer wieder klar – am deutlichsten wohl in seinem Aufsatz "Woran glaubt der Westen?" (in: Auf der Suche nach einer besseren Welt, München 1984), in dem er den wirtschaftlichen Ehrgeiz der Individuen pries. Er sollte den Wohlfahrtsstaat überflüssig machen: "Und damit ist der neue wirtschaftliche Massenehrgeiz auch der hoffnungsvollste Weg zur Überwindung dessen, was am Wohlfahrtsstaat so fragwürdig erscheint: die Bürokratisierung und die Bevormundung des einzelnen. Denn nur der wirtschaftliche Ehrgeiz des einzelnen kann es dazu bringen, dass die Armut so selten wird, dass es schließlich unsinnig erscheinen muss, die Hauptaufgabe des Staates im Kampf gegen Armut zu sehen." (Ebenda, S. 247-248)
[2] Die zwei Bände "Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie", die Georg Lührs, Thilo Sarrazin, Frithjof Spreer und Manfred Tietzel herausgaben (Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1975), waren gegen die innerparteiliche, marxistische Opposition gerichtet. Wie sehr die Bände als Gegenprogramm der sozialdemokratischen Rechten gegen marxistische Theoriediskussionen im Zuge der Studentenbewegung verstanden werden müssen, wird in der Einleitung des Diskussionsbandes deutlich: "Vielleicht hat die Entwicklung der ›Theoriediskussion‹ ... manche einfältige Vorurteile eher bekräftigt als abgebaut, denn die Diskussion um politische Theorie war in dieser Zeit (1965-1975, Anm. J.N.), am Grade der publizistischen Präsenz gemessen, weitgehend von marxistischen Ansätzen verschiedener Provenienz dominiert. Das ist kein Vorwurf an die marxistischen Theoretiker, der Vorwurf geht an deren Gegner; denn deren mangelhafte publizistische Präsenz war für die etwas einseitige Lastenverteilung in der Theoriediskussion verantwortlich. Diese einseitige Lastenverteilung hat bei vielen Sozialdemokraten eine etwas undifferenzierte Gleichsetzung von ›Marxismus‹ und ›politischer Theorie‹ begünstigt und bei vielen aktiven Sozialdemokraten, die Nicht-Marxisten waren, einen ganz unbegründeten Schuldkomplex der ›Theorielosigkeit‹ oder gar ›Theoriefeindlichkeit‹ entstehen lassen. In unserem Sammelband ›Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie I‹ haben wir uns bemüht zu zeigen, dass die Erkenntnistheorie des Kritischen Rationalismus auch Elemente einer politischen Theorie besitzt – einer politischen Theorie, welche natürlich nicht parteigebunden ist, aber in ihren Konsequenzen eine enge Verwandtschaft mit sozialdemokratischem Gedankengut aufweist." (Georg Lührs u.a.: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie II ..., a.a.O., S. 8-9)
[3] Vgl. Vorwort "Offene Gesellschaft" 1992, in: Karl Popper: Die offene Gesellschaft ..., a.a.O., Band 1, S. X-XI.
[4] Vgl. Morgenstern/Zimmer: Karl Popper ..., a.a.O., S. 169.
[5] Vgl. Karl Popper: Tribute to the Life and Work of Friedrich Hayek. Rede an der LSE 23. September 1992, in: Stephen F. Frowen (Hrsg.): Hayek. Economist and Social Philosopher. A critical retrospect, London/New York 1997.
[6] Ralf Dahrendorf: Betrachtungen über die Revolution in Europa, Stuttgart 1990, S. 28-29, 59-60.
[7] Ebenda, S. 66.
[8] Ebenda, S. 71.
[9] Ebenda.
[10] Frank Deppe verweist bezüglich der Dominanz der "Problem-Lösungs-Theorie" auf die Untersuchungen von Robert Cox, der das Theorem schon in der Zwischenkriegszeit bei den amerikanischen Unternehmern und Sozialwissenschaftlern verbreitet sah: "Die Absichten der Problem-Lösungs-Theorie sind konservativ, da sie darauf abzielen, die Probleme, die innerhalb der verschiedenen Teile eines komplexen Ganzen entstehen, so zu lösen, dass das Ganze wieder reibungslos funktioniert." (Zitiert nach Frank Deppe: Politisches Denken zwischen den Weltkriegen, Hamburg 2003, S. 109) Deppe macht zudem darauf aufmerksam, dass die Problemlösungstheorie aus dem amerikanischen Pragmatismus hervorging. Die grundlegende Problematik der "Problem-Lösungs-Theorie" liegt darin, dass auch die so überzeugend sachlich-rational daherkommende Theorie eine Vorauswahl von zu lösenden Problemen treffen muss. Bei den Kriterien, was ein Problem ist, ist die Sachlichkeit der Diskussion dann auch kaum haltbar. Es werden sozial vermittelte Entscheidungen getroffen und recht willkürlich Probleme und Scheinprobleme getrennt: "Die organische Abgeschlossenheit jeder Denkgemeinde geht parallel einer stilgemäßen Beschränkung der zugelassenen Probleme: es müssen immer viele Probleme unbeachtet oder als unwichtig oder sinnlos abgewiesen werden. Auch die moderne Naturwissenschaft unterscheidet ›wirkliche Probleme‹ von unnützen ›Scheinproblemen‹. Daraus entsteht spezifische Wertung und charakteristische Intoleranz: gemeinsame Züge jeder abgeschlossenen Gemeinschaft." (Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung ..., a.a.O., S. 137)
[11] Es gibt eine wahre Flut von Managementbüchern und Ratgebern, die sich auf Popper berufen. Eine Brücke zwischen modernem Management, Kapitalismusanalyse und Kritischem Rationalismus ist immer wieder George Soros mit seinen Reden und Veröffentlichungen: Zuletzt erschienen auf Deutsch seine Bücher "Die Krise des globalen Kapitalismus. Die offene Gesellschaft in Gefahr" (Berlin 1998) und "Die offene Gesellschaft. Für eine Reform des globalen Kapitalismus" (Berlin 2002).
[12] Zu Poppers 100. Geburtstag gab es Wiederauflagen und Popper-Konferenzen. Herausragend war dabei sicherlich der "Karl Popper 2002 Centenary Congress" in Wien, bei der Karl Popper als der Jahrhundertphilosoph gefeiert wurde. Sein alter Mitstreiter und deutscher Statthalter des Kritischen Rationalismus, Hans Albert, hielt die Eröffnungsrede. Allerdings wurde auch klar, dass der Einfluss von Poppers Philosophie seinen Höhepunkt überschritten hat. Die Versuche, Poppers wissenschaftstheoretische Ratschläge und politische Appelle auf aktuelle Themen wie Migration und Genetik zu übertragen, blieben in Ansätzen stecken oder bezogen sich schnell auf aktuellere Forschungen, die mit Popper in keiner direkten Verbindung stehen.
[13] Vgl. Eberhard Döring: Karl R. Popper ..., a.a.O., S. 7.
[14] In einem Vorwort für eine Neuauflage der "Offenen Gesellschaft" schreibt er 1992: "Osteuropa braucht Nahrung; es ist wahr, dass nur eine Marktwirtschaft sie effizient produzieren kann; und es ist wahr, dass die Marktwirtschaft den Westen reich gemacht hat; eine Errungenschaft vieler Arbeiter und vieler politischer Denker über Hunderte von Jahren. Als Ergebnis ihrer Bemühungen (und des freien Marktes) ist die offene Gesellschaft des Westens meiner Meinung nach (und ich habe viel gesehen und gelesen) bei weitem die beste, die freieste, die fairste und die gerechteste Gesellschaft, die es jemals in der Geschichte der Menschheit gegeben hat." (Karl Popper: Die offene Gesellschaft ..., a.a.O., Band 1, S. X)
[15] Joachim Koch: Weder-Noch. Das Freiheitsversprechen der Ökonomie, Frankfurt a.M./Wien/Zürich 2001, S. 38-39. In seiner Polemik gegen die Alt-68er, die sich auf die neokonservative Seite schlugen, heißt es: "Am Ende siegt meist die Ästhetik. Auch bei solchen, die von der Moral kommen. Vorausgesetzt, sie können sich das Schöne leisten. Dann aber hat schon mancher, der im Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung so lange auf die Vernunft setzte, bis ihn die kapitalistische Phantasie alt aussehen ließ, die sogenannten Werte gewandelt. ›Burned Out‹ heißt es dann. Frei nach Gernot Böhme: Wird die Möglichkeit einer realen Umgestaltung der menschlichen Verhältnisse resignativ beurteilt, erkennt man gerne das Potential der Schönheit als Protest und Gegenbild zur Realität. Sozusagen vom Klassenkampf zum Klasseweib, vom Mieterkampf zum Eigenheim, von der Revolution zur verkehrsberuhigten Zone vor der eigenen Haustür, von der sozialistischen zur kulinarischen Internationalen." (ebenda)
[16] Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, Wien 1999 (Erstausgabe 1982), S. 96-122. Bei der Dekonstruktion der großen marxistischen und hegelianischen Gesellschaftstheorien beruft sich Lyotard explizit auf Popper, der bei Lyotard für die "Pragmatik des wissenschaftlichen Wissens" steht (vgl. ebenda, S. 76-87).
[17] Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992.
[18] Oskar Morgenstern wusste schon sehr früh, dass das Spiel des Marktes Verlierer produziert. Vgl. Oskar Morgenstern: Vollkommene Voraussicht ..., a.a.O.; Ders./John von Neumann: Theory of Games ..., a.a.O.
[19] Vgl. Friedrich August von Hayek: Alte Wahrheiten und neue Irrtümer, in: Ders.: Freiburger Studien ..., a.a.O., S. 31.
[20] Vgl. Hans-Martin Lohmanns Rezension von Hardt/Negri: Empire, Zeit-Beilage, 21.März 2002.

Leseprobe 3



Inhalt:

Einleitung (Leseprobe)
Kapitel 1:
Ideen – Epochen – Intellektuelle

1. Definitionsproblem und vergleichende Analyse

2. Epocheneinteilung: Keynesianismus-Neoliberalismus
3. Primat der Ideen
4. Denkstil und Wissenssoziologie
5. Intellektuelle und "Pressure Groups"
Kapitel 2:
Parallele Entstehungsgeschichten – Wien

1. Koordinaten der Herkunft
Popper
Hayek
2. Politische Bekehrungen
3. Rotes Wien und Stückwerktechnik
4. Wissenschaftliche Weltauffassung und Gesellschaft: Der Wiener Kreis
5. Wiener Intellektuellensoziologie
6. Der gemeinsame Feind: Otto Neurath
7. Exkurs: Der lange Schatten Ludwig Wittgensteins
Der "Tractatus" als Basistext des modernen Positivismus
Der "Tractatus" als Produkt des Wiener Liberalismus und als kulturelles Phänomen
Popper contra Wittgenstein
Wittgenstein denkt über Wissenschaftstheorie hinaus
Kapitel 3:
Formierung im Exil – London – Christchurch

1. Auf dem Weg in Hayeks Camp des Liberalismus
"Logik der Forschung" in der Rezeption der neoliberalen Wirtschaftswissenschaft
Die neoliberale Fraktion an der LSE – Opposition gegen Keynes
2. Eine Initialzündung: Walter Lippmann
3. Wissenschaft und politische Moral: Popper zitiert Lippmann
4. Popper und Hayek diskutieren fast kontrovers
5. Wie neoliberal ist "Das Elend des Historizismus"?
Gemeinsames Negativprogramm: Die Absage an die Geschichtsphilosophie
Schwer vermittelbar: Poppers Stückwerktechnik
6. Erfolgreiche Bücher im Kontext: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" und "Der Weg zur Knechtschaft"
Kapitel 4:
Neoliberaler Honoratiorenclub und "Sit in" der modernen Wissenschaftstheorie – Mont Pèlerin – Alpbach

1. Die MPS: Eine gegenintellektuelle Pressure Group?
Mit wem dürfen Liberale reden?
Die Bedeutung der MPS im Kontext
2. Das Think-Tank-Netzwerk
3. Die "Alpbacher Dorfreligion"
Popper, Hayek und der Nachkriegskonsens
Eine konservative Brücke: Michael Oakeshott
Kapitel 5:
Positivismusstreit: Gegen den Neomarxismus – Tübingen

1. Im Konsens: Akademische Schulen statt intellektuelle Lager
2. Ironische Kontroverse und Lagerbildung
3. Der intellektuell verwaiste Wohlfahrtsstaat
Kapitel 6:
Die Rückkehr der Evolution – London – Freiburg

1. Die "drei Welten"
2. Spontane Ordnung und Entdeckungsverfahren
Schluss:
Ausblick auf die reduzierte Welt
(Leseprobe)
Anmerkungen
Literatur

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