Die Angaben zu Autor*innen, Titel, Untertitel, Umfängen und Erscheinungsterminen sowie die Umschlagabbildungen sind bis zur Veröffentlichung vorläufig, auch Änderungen der Ladenpreise müssen wir uns vorbehalten. Alle Preise enthalten die gesetzliche MwSt. Hinzu kommen ggf. Versandkosten

Hilde Wagner / Armin Schild (Hrsg.)

Der Flächentarif unter Druck

Die Folgen von Verbetrieblichung und Vermarktlichung

246 Seiten | 2003 | EUR 17.80 | sFr 31.00
ISBN 3-89965-007-7 1

Titel nicht lieferbar!

 

Wie steht es um den Flächentarifvertrag? Was soll in der Fläche geregelt werden? Was kann an die betriebliche Ebene delegiert werden? In welche Richtung sollen der Flächentarifvertrag und das Tarifsystem weiterentwickelt werden?


 

Das in über vier Jahrzehnten entwickelte deutsche Tarifsystem stand noch nie so in Frage wie heute. Wirtschaftsvertreter, die die Tarifautonomie schon immer aufheben wollten, finden heute einflussreiche Bündnispartner in Politik, Medien und Wissenschaft. Sie sehen eine Chance, durch die Auflösung des "Tarifkartells" endlich die "Macht" der Gewerkschaften in Deutschland zu demontieren.

Gleichzeitig vollziehen sich weitreichende Veränderungen in den Grundlagen der gewerkschaftlichen Tarifpolitik. Der "Markt" bestimmt nicht mehr nur die Konkurrenz zwischen den Unternehmen, sondern auch die industriellen Beziehungen in den Betrieben. Vermarktlichung und Verbetrieblichung sind die Leitlinien der Restrukturierungsprozesse.

 

 

Rationalisierung in Eigenregie, kontinuierliche Verbesserung, Hauptsache profitabel, lauten die Botschaften für die Belegschaften. Die Entgrenzung der Arbeit nimmt zu. Ist es möglich, neue Grenzen zu ziehen?

Durch Konzentration aufs Kerngeschäft werden die Unternehmen zunehmend »verschlankt«. Altbewährte Arbeits- und Entlohnungsbedingungen stehen massiv unter Druck.

Im Shareholder-Kapitalismus scheint sich die wirtschaftliche Entwicklung auszudifferenzieren. Erfordert dies künftig eine zweistufig angelegte Tarifpolitik, die sich auch an ertragsabhängigen Kennziffern orientiert?

Der Strukturwandel in Richtung Dienstleistungen ist ungebrochen. Die weißen Flecken auf der Organisationslandkarte der Gewerkschaften nehmen zu, die Reichweite und Verbindlichkeit der Flächentarifverträge hingegen ab.

 

 

 

Leseprobe 1

Vorwort

Das seit über 40 Jahren etablierte deutsche Tarifsystem stand noch nie so in Frage wie heute. Diejenigen Vertreter der Wirtschaft, die die Tarifautonomie immer schon aufheben wollten, finden heute Bündnispartner in Politik und Wissenschaft. Sie sehen eine Chance, durch die Auflösung des "Tarifkartells" endlich die Macht der Gewerkschaften in Deutschland einzudämmen. Wenn die Kritiker des Tarifsystems sich durchsetzen, ist eine Grundfunktion der Tarifverträge gefährdet: Die verbindliche Festlegung der wichtigsten Arbeits- und Einkommensbedingungen, um die Beschäftigten vor ungebremster Konkurrenz zu schützen. Diese Grundfunktion basiert letztlich auch auf dem gesellschaftlichen "common sense", dass es rational sei, einen machtpolitischen Ausgleich herzustellen zwischen kurzfristigen betriebswirtschaftlichen und langfristigen volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen. Einem "common sense", der zudem davon ausgeht, dass von den Akteuren, die vom unmittelbaren Wirtschaftsgeschehen am unmittelbarsten betroffen sind, die höchste Rationalität der politischen Willensbildung erwartet werden kann. Die inhaltliche und auch die strukturelle Reform der Tarifverträge ist und war beständige Aufgabe der Tarifparteien. Die tarifpolitischen Grundlagen, den gesellschaftlichen und machtpolitischen "common sense" über die grundsätzliche Funktion der Tarifverträge aufs Spiel zu setzen, ist aber alles andere als zukunftsweisend. Auf der Tagesordnung müsste die inhaltliche Weiterentwicklung des Tarifsystems und der Tarifverträge stehen, nicht die grundsätzliche Infragestellung ihrer Funktion. Um die Frage, wie diese Weiterentwicklung aussehen kann, geht es in diesem Buch. Wie steht es um den Flächentarifvertrag? Was soll künftig in der Fläche geregelt werden? Was kann an die betriebliche Ebene delegiert werden? In welche Richtung soll der Flächentarifvertrag und das Tarifsystem weiterentwickelt werden? – Die Diskussion über diese Fragen ist in der IG Metall nicht neu und ist dennoch so aktuell wie nie zuvor. Im letzten Jahrzehnt wurde sie unter zwei Aspekten geführt: Zum einen stand die Erneuerung der Rahmentarifverträge auf dem Programm der IG Metall. Im Ergebnis der Tarifrunde 2002 gelang es, verbindliche Eckpunkte und einen verbindlichen Zeitplan für die Einführung der neuen Tarifregelungen zu vereinbaren, die für Arbeiter und Angestellte einen gemeinsamen Rahmen zur Bewertung von Arbeit und Leistung schaffen. Dieser neue Regulierungsrahmen muss in den kommenden Jahren betrieblich mit Leben gefüllt werden. Zum zweiten ging es ab Mitte der 1990er Jahre um die Frage, ob und wie der Flächentarifvertrag auch strukturell weiterzuentwickeln sei, wie tarifpolitische "Differenzierungskonzepte" gestaltet sein könnten, ohne die Grundfunktion des Tarifvertrages in Frage zu stellen. Zentrales Ergebnis dieser Debatte innerhalb der IG Metall war, dass tarifliche Inhalts- und Strukturreformen nicht zu trennen sind. Differenzierung war dabei für die IG Metall keine abstrakte Metapher, die sich gegen das "Institut Tarifvertrag" richtet. Differenzierung ist ein realer, empirisch wahrnehmbarer Prozess, der von Normsetzungsinstanzen wie der Tarifpolitik oder der Gesetzgebung wahrgenommen werden muss. Für eine zukunftsweisende Gestaltung von Arbeit bedarf es dabei autonomer Zielsetzungen, gesellschaftlich rationaler Inhalte und verbindlicher Aushandlungen, in denen nicht nur "zur Kenntnis" genommen, sondern Einfluss genommen wird. Die Normsetzungsebene "Tarifvertrag" hat diesen Anspruch in der Vergangenheit eingelöst. Seit Beginn der letzten Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie wird die Debatte über die Erneuerung des Flächentarifvertrages zudem um die Frage geführt, ob die Tarifpolitik in Zukunft stärker zwischen ertragsstarken und ertragsschwachen Betrieben differenzieren soll. Diese Kontroverse wird unter der Überschrift "zweistufige Tarifpolitik" behandelt. Um diese Diskussion über das Für und Wider einer derartigen tarifpolitischen Weichenstellung nicht nur im kleinen (Experten-)Kreis zu führen, fand im Februar 2003 in Frankfurt die Tarifpolitische Tagung "Der Flächentarifvertrag – unter dem Druck der Verbetrieblichung und Vermarktlichung" statt. Der 20. ordentliche Gewerkschaftstag der IG Metall hat im Oktober in Hannover entschieden, diese Diskussion in den kommenden zwei Jahren ausführlich zu führen. Mit dem hier vorliegenden Buch wollen wir die Debatte anregen und unterstützen: sowohl im Hinblick auf die Klärung der enormen wirtschaftlichen, arbeitspolitischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, als auch hinsichtlich der Weiterentwicklung der Positionsbestimmungen in der IG Metall. Wir bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit und insbesondere bei Richard Detje vom VSA-Verlag, der das Entstehen dieses Bandes nicht nur redaktionell, sondern in wesentlichen Teilen auch inhaltlich begleitet hat. Frankfurt im November 2003
Hilde Wagner, Armin Schild

Leseprobe 2

Hilde Wagner
Der Flächentarifvertrag unter Druck –
die Folgen von Verbetrieblichung und Vermarktlichung Das deutsche Tarifsystem steht im Mittelpunkt der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung – stärker als in den letzten Jahrzehnten. War die "Macht" der Gewerkschaften und das dafür mitverantwortliche "Tarifkartell" immer schon ein Dorn im Auge einzelner Arbeitgeber, sind die Stimmen der Kritiker des Tarifsystems jetzt zu einem Chor angewachsen. Auch der politische Druck auf das Tarifsystem ist so massiv wie lange nicht. Die Kritiker in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft wittern offenbar eine historische Chance, das "Tarifkartell" aufzulösen und die Gestaltungsmacht der Gewerkschaften einzudämmen. Mit ihren Vorschlägen, was zu tun sei, um die Wirtschaft wieder voranzubringen, überbieten sich Arbeitgebervertreter und Politiker gegenseitig. Wenn Michael Rogowski, Präsident des BDI, die "ganzen Flächentarifverträge verbrennen" möchte, Dieter Hundt, Präsident des BDA, hingegen an ihnen festhalten will und ihre Modernisierung für eine Aufgabe der Tarifparteien hält, so treffen sie sich doch in der Forderung, dass Abweichungen vom Tarifvertrag auf Betriebsebene möglich werden müssten ohne Genehmigung der Tarifvertragsparteien. Auch die Oppositionspolitiker Friedrich Merz (CDU) und Guido Westerwelle (FDP) sind sich über die Parteigrenzen hinweg einig: Die Macht der Gewerkschaften muss gebrochen werden, der flächendeckende Tarifvertrag muss verschwinden. Neu ist, dass auch aus der Sozialdemokratie bedenkliche Stimmen kommen. Nicht nur von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der offen ein Ende der Tarifautonomie von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden fordert: "Das Verbot für Unternehmen, die Löhne ihrer Mitarbeiter selbst bestimmen zu können, gehört abgeschafft" (FAZ 20.10.2003). Sondern auch vom jetzigen Amtsinhaber Gerhard Schröder, der zwar versichert, die Tarifautonomie erhalten zu wollen, aber gleichzeitig mit dem Handeln des Gesetzgebers droht, wenn die Tarifparteien keinen "flexibleren Rahmen" schaffen und sich "auf betriebliche Bündnisse einigen" (Agenda-Rede vom 14. März 2003). Die Gesetzentwürfe von CDU/CSU und FDP zielen darauf ab, den Tarifvorrang und das Günstigkeitsprinzip aufzuheben. Abweichungen von den Standards der Flächentarifverträge nach unten soll es in Zukunft nicht nur in begründeten Notfällen, sondern generell geben können. Betriebliche Vereinbarungen sollen in erweitertem Maße ermöglicht und gegenüber tariflichen Regelungen aufgewertet werden. Damit würden aber die Beschäftigten und Betriebsräte der Marktlogik und dem Erpressungsdruck ausgeliefert. Damit würde auch die Tarifpolitik als wesentliches Handlungsfeld der Gewerkschaften entwertet und die Kraft der Gewerkschaften ausgehöhlt. Den Kritikern des Tarifsystems, die diese Stoßrichtung verfolgen, geht es nicht um dessen inhaltliche Weiterentwicklung, die sie zum Teil vordergründig einfordern und über die in den Gewerkschaften seit Jahren debattiert wird. Es geht ihnen darum, ein immer noch verbindlich geregeltes Gestaltungs- und Schutzfeld den Wettbewerbs- und Marktgesetzen zu öffnen. Eine Grundfunktion von Tarifverträgen soll außer Kraft gesetzt werden: die verbindliche Festlegung nicht unterschreitbarer Mindeststandards, um die wichtigsten Arbeits- und Einkommensbedingungen dem Marktprozess zu entziehen und damit die (Unterbietungs-) Konkurrenz zwischen den Beschäftigten zu verringern. "Das deutsche Tarifsystem in Zeiten der Krise" – so oder ähnlich lauten aber auch die Titel von Analysen, die sich jenseits von Polemik um eine ernsthafte Bestandsaufnahme der gegenwärtigen tarifpolitischen Situation bemühen. Das deutsche Tarifsystem ist nicht einfach aufgrund massiver politischer Angriffe in der Krise, sondern auch aufgrund einer abnehmenden realen Prägekraft der tariflichen Regelungen. Dabei spielen Prozesse der Vermarktlichung und der Verbetrieblichung, eine entscheidende Rolle. Sie markieren auch den Ursprung der Debatte in der IG Metall um eine stärker zweistufig angelegte Tarifpolitik. Zur Begründung der Forderung, die Tarifpolitik in Zukunft stärker zweistufig anzulegen, wird angeführt, dass die ökonomischen Unterschiede zwischen den Betrieben immer mehr zugenommen hätten und die Erwartungshaltungen der Beschäftigten an die Tarifpolitik in den letzten Jahren immer mehr auseinander gedriftet seien. Die Unterschiede seien so groß, dass wirtschaftlich günstige betriebliche Situationen nicht mehr in angemessener Form durch branchenbezogene allgemeine Tarifabschlüsse zugunsten der Arbeitnehmer eingefangen werden könnten. Sich hier zu engagieren, könne nicht den Betriebsräten alleine überlassen werden, sondern sei eine Zukunftsaufgabe der Gewerkschaften. In dieser Debatte wird die Frage des Verhältnisses von zentraler und dezentraler Regulierung und des Verhältnisses von Tarif- und Betriebspolitik ebenso aufgeworfen wie grundsätzliche Fragen einer zeitgemäßen gewerkschaftlichen Verteilungspolitik. In dieser Debatte geht es aber auch darum, inwieweit Tarifpolitik mit ihrer genuinen Aufgabe, Entgelt und Arbeitsbedingungen zu regulieren, die Entwicklungstrends, die sich aus den prägenden Strukturveränderungen des gegenwärtigen Kapitalismus ergeben, mehr als bisher nachvollziehen oder stärker begrenzen muss. Entweder/Oder-Betrachtungen greifen hier zu kurz. Zukunftstaugliche Alternativkonzepte müssen auf der Höhe der neuen Entwicklungen ansetzen, aus ihnen "Bewegungsenergien" ziehen, ohne sie zu einem Rechtsfertigungskriterium zu erheben. Im übertragenen Sinne gilt auch hier: "Die Imperative von Kapital und Markt (müssen) in den Kulturzusammenhang menschlicher Zwecke zurückgenommen"[1] werden. Strukturwandel des Kapitalismus und Flexibilisierung der Entlohnung Schon seit Jahren können wir beobachten, dass sich unter den Vorzeichen eines langsameren Wirtschaftswachstums die Konkurrenzverhältnisse auf den Märkten verschärfen und der Druck zur permanenten Kostensenkung zunimmt. Das Verhältnis von Markt und Produktion verändert sich. Der Markt wird nicht mehr der Kostenökonomie der Produktion untergeordnet, sondern wird zum entscheidenden Bezugspunkt der unternehmensinternen Prozesse. Die Unternehmen richten sich stärker an den Absatzmärkten aus. Um die daraus resultierenden vielfältigen Anforderungen bewältigen zu können, werden die Beschäftigten direkt mit den Zwängen des Marktes in Form der Interpretation dieser Zwänge durch Geschäftsleitung und Management konfrontiert. Die Konkurrenzbeziehungen und -mechanismen werden direkt in die Unternehmen hereingeholt. Steuerung findet immer mehr indirekt statt – durch scheinbar "objektive", nicht abweisbare Zwänge des Wettbewerbs und in Form von Benchmarks und Kennziffern. Die ambivalenten Auswirkungen auf die Beschäftigten sind inzwischen vielfach beschrieben worden: Einerseits steigen Verantwortung, Selbständigkeit und Selbstorganisation in der Arbeit, auf der anderen Seite nehmen Leistungsdruck und Gesundheitsgefährdungen zu (siehe den Beitrag von Dieter Sauer in diesem Band).[2] Gleichzeitig orientierten sich die Unternehmen im letzten Jahrzehnt immer stärker an den Kapital- und Finanzmärkten. Dies wird mit dem Begriff des Shareholder-Value-Kapitalismus thematisiert. Sie bauen neue unternehmensinterne und unternehmensübergreifende Kontroll- und Steuerungssysteme auf, die die Finanzverhältnisse in den Unternehmen transparent machen. Sie arbeiten mit Renditevorgaben, die nicht selten – auch aufgrund ihrer Kurzfristigkeit – mit der eingeforderten Kundenorientierung in Widerspruch geraten. Die Unternehmen versuchen die erhöhten Flexibilitätsanforderungen und Gewinnrisiken durch eine Variabilisierung bisher fixer Kosten abzufangen. Eine entscheidende – wenn auch von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich bedeutende – Rolle kommt dabei den Personalkosten und damit den Einkommen der Beschäftigten zu (vgl. den Beitrag von Antonius Engberding in diesem Band). Die angestrebte Flexibilisierung der Personalkosten hat je nach Ausgangslage verschiedene Gesichter. Hoch im Kurs steht gegenwärtig insbesondere die Flexibilisierung über prekäre Arbeitsverhältnisse (befristete Beschäftigungsverhältnisse, Leiharbeit). Nicht minder bedeutend ist aber auch die Entgrenzung und Variabilisierung der Arbeitszeiten, durch die sich seit einigen Jahren die realen Arbeitszeiten der Beschäftigten faktisch wieder erhöhen. Länger arbeiten bei gleichbleibendem Einkommen bedeutet faktisch, dass die Löhne und Gehälter gesenkt werden. Auf dem Terrain der Flexibilisierung von Arbeit und Leistung haben die Unternehmen in den 1990er Jahren erhebliche "Fortschritte" erzielt. Unter den oben beschriebenen Vorzeichen veränderte sich tendenziell der Bewertungsmaßstab für Leistung. Orientierte sich die klassische Leistungspolitik an der individuellen oder kollektiven Verausgabung von Leistung, so wird dies jetzt ersetzt durch eine Orientierung an kosten- bzw. betriebswirtschaftlichen Steuerungsgrößen oder an dem, was der Markt als solcher anerkennt.[3] Kam es früher auf das konkrete Mengen- oder Qualitätsergebnis oder den Einsatz der Beschäftigten an, spielen jetzt die Unwägbarkeiten des Marktes und die vom Management festgelegten Erfolgsmargen die entscheidende Rolle. Diese Umorientierung gibt auch die Basis dafür ab, dass die Geschäftsleitungen die Grenzen zwischen leistungs- und erfolgsabhängigen Entgelten lieber heute als morgen aufgehoben sehen wollen.[4] Der Pfad der Flexibilisierung ist in den Unternehmen auf dem Feld der Entgeltpolitik längst beschritten. Dabei spielt die Ausweitung variabler und erfolgsabhängiger Entgeltbestandteile eine bedeutende Rolle. Über den Verbreitungsgrad erfolgsabhängiger Vergütungssysteme liegen unterschiedliche Untersuchungsergebnisse vor. Das IAB-Betriebspanel stellte 1998 erstmals die Frage nach vorhandenen Erfolgs- oder Kapitalbeteiligungen in Unternehmen.[5] Danach beträgt der Anteil der Betriebe in Ost- wie in Westdeutschland mit entsprechenden Modellen fünf Prozent. Dies sind in Westdeutschland immerhin 77.000 Betriebe und in Ostdeutschland 20.000 Betriebe. Davon betroffen sind 4,35 Mio. Arbeitnehmer im Westen (15% der Beschäftigten) und 500.000 im Osten (8,5% der Beschäftigten). Nach Betriebsgrößen ergibt sich, dass fast 40% der Großbetriebe mit 2.000 und mehr Beschäftigten im Westen Gewinn- und/oder Kapitalbeteiligungen haben; bei den Betrieben mit 1000 bis 1.999 Beschäftigten sind es ca. 1/3 der Betriebe und bei der Größenklasse von 100 bis 500 Beschäftigten 15 bis 20%. Im Frühjahr 2001 wurde von Wallau/Kayser/Backes-Gellner eine Befragung von ca. 1.000 mittelständischen Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten vorgenommen, die zu 16,1% Gewinnbeteiligungen aufwiesen, Kapitalbeteiligungen wurden nur von ca. 2% genannt. Auch hier ergab sich ein deutlich höherer Anteil großer Unternehmen.[6] Die WSI-Betriebsrätebefragung[7] kommt zu einem weit höheren Verbreitungsgrad. Erfolgsabhängige Entgeltbestandteile gibt es demnach in 44% der untersuchten Betriebe. Dabei handelt es sich überwiegend, d.h. in 81% der Fälle, um erfolgsabhängige Jahressonderzahlungen. Häufig kommen diese nicht der gesamten Belegschaft, sondern nur einzelnen Gruppen zugute. Bei aller Unterschiedlichkeit der Untersuchungsanlagen und -ergebnisse ergibt sich übereinstimmend, dass in den letzten Jahren im Zusammenhang mit zunehmender Marktsteuerung erfolgsabhängige Entgeltbestandteile in den Unternehmen deutlich ausgeweitet wurden. Dies führte im Schnitt jedoch nicht zu höheren Verdienstchancen für die Beschäftigten: Denn während in den 1990er Jahren erfolgsabhängige Entgeltbestandteile ausgeweitet wurden, fand gleichzeitig ein Abbau übertariflicher Entgelte statt. In der längerfristigen Betrachtung kam es zu einer negativen Lohndrift, also zu geringeren Steigerungen der Effektivlöhne im Vergleich zu den vereinbarten Tariflohnerhöhungen (vgl. den Beitrag von Nikolaus Schmidt in diesem Band). Auf dieser Grundlage vollzog sich ein Formwandel von vormals festen, häufig betrieblich vereinbarten übertariflichen Einkommensbestandteilen hin zu ertragsabhängigen Vergütungen. Flächentarifvertrag – relative Stabilität und differenzierte Weiterentwicklung In diesem Umfeld und allen Unkenrufen zum Trotz erweist sich der Flächentarifvertrag als relativ stabil. Er ist eine tragende Säule des bundesrepublikanischen Modells der industriellen Beziehungen und der sozialstaatlichen Demokratie. Und er ist bis heute die wichtigste Grundlage für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und der Einkommen. Dem IAB Betriebspanel zufolge sind in der Metall- und Elektroindustrie in Westdeutschland 63% der Beschäftigten tarifgebunden.[8] Diese relative Stabilität zeigt, dass es auch unter schwierigen Vorzeichen immer noch gelingt, gleiche Konkurrenzbedingungen für die Unternehmen und die Beschäftigten zu definieren und damit Wettbewerb untereinander zu begrenzen. Gleichzeitig muss zur Kenntnis genommen werden, dass die Wirkungskraft und innere Reichweite der Flächentarifverträge in den letzten Jahren geringer wurde. Dies hat mehrere Gründe. Ein wesentlicher besteht darin, dass die Grundeinheiten, auf die sich die Flächentarifverträge beziehen, seit Jahren tiefgreifenden Umwälzungsprozessen unterliegen. Fortwährende Umstrukturierungsprozesse der Unternehmenslandschaften gehen einher mit einschneidenden Veränderungsprozessen der industriellen Arbeit in den Unternehmen selbst. Stichwortartig seien hier nur einige Facetten davon benannt: Die verschärften Konkurrenzverhältnisse auf den Märkten führen zu umfassenden Flexibilisierungsbestrebungen der Unternehmen. Die Arbeits- und Leistungsbedingungen sollen "entgrenzt" und flexibilisiert werden. Den Unternehmen stehen dabei – so ihre Einschätzung – die vorhandenen materiellen und qualitativen Regelungen der Flächentarifverträge im Wege. Um die Flexibilisierung zu erhöhen, werden auch neue Beschäftigungskonstellationen angestrebt, wobei feste Arbeitsverhältnisse ab- und insbesondere in so genannten prekären Bereichen Beschäftigungsverhältnisse aufgebaut werden (Leiharbeit, befristet Beschäftigte). Bis vor kurzem gab es für diese Bereiche noch keine tariflichen und damit keine verbindlichen Regelungen der Einkommens- und Arbeitsbedingungen. Erst durch die EU-Gesetzgebung mit der Vorgabe eines "equal pay" und politischer Einwirkung konnte eine Schubkraft für nationale Tarifverhandlungen über die Regulierung von Zeitarbeit geschaffen werden, die im Ergebnis einen hohen Anteil der Zeitarbeitnehmer durch vereinbarte Mindestbedingungen vor Deregulierung und Dumping schützt. Der industrielle Strukturwandel geht mit einer Zunahme der industriellen Dienstleistungstätigkeiten einher. In den verschiedenen Dienstleistungsbereichen der Industrie ist die Entgrenzung und Flexibilisierung von Arbeit und Leistung oft weiter fortgeschritten als in den Produktionsbereichen, die gewerkschaftlichen Organisationsgrade sind in der Regel niedriger. Zunehmend werden industrielle Dienstleistungsbereiche auch ausgegliedert, um den materiellen Standards der Flächentarifverträge zu entkommen. Ist die Interessenvertretung der Beschäftigten zu stark, um tarifliche Regelungen gänzlich zu umgehen, bieten die Arbeitgeber und in jüngster Zeit auch ihre Verbände großzügig niedrigere Standards bei den Einkommen und längere Arbeitszeiten an. Hier besteht die Herausforderung darin, die Vielfalt der Arbeitsverhältnisse und Interessen der Beschäftigten aufzugreifen und für eine Weiterentwicklung der Flächentarifverträge und eine Ausweitung bzw. Sicherung der Tarifbindung zu nutzen. Dies wird nur gelingen, wenn die Beschäftigten die Regelungsvorschläge als Hilfestellungen für ihren Arbeitsalltag begreifen und sich für ihre Durchsetzung stark machen. Neue Branchen und Sektoren (z.B. der ITK-Bereich) haben an Bedeutung gewonnen. Die Erfahrung zeigt, dass diese Bereiche zum Teil nur dann stärker zu organisieren und zu regulieren sind, wenn der Flächentarifvertrag durch ergänzende Regelungen erweitert wird. Betrachtet man die tarifliche Situation, ist diese heute erheblich differenzierter als gemeinhin behauptet wird. Die Tariflandschaft im Organisationsbereich der IG Metall weist nicht nur unterschiedliche Flächentarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie, Stahl, Textil und Bekleidung, Holz und Kunststoff, die Handwerks- und weitere Sonderbereiche auf, sondern auch viele Ergänzungs- und Haustarifverträge. Diese nehmen zahlenmäßig zu: Erhebungen des Tarifarchivs der IG Metall ergaben, dass im Jahr 2001 in 1.429 Firmen des Organisationsbereiches 2.182 Haus- und Anerkennungstarifverträge existierten und im Jahr 2002 in 1.396 Firmen bereits 2.454. Auch dies verweist darauf, dass das Augenmerk neu auf das Verhältnis von zentraler und dezentraler Regulierung zu richten ist. Zentrale und dezentrale Regulierung – Tarifpolitik und Betriebspolitik Kein Zweifel, die Ebene der dezentralen Regulierung hat an Bedeutung gewonnen. Und es ist nicht abzusehen, dass diese Entwicklung in Zeiten scharfen Wettbewerbsdrucks umgedreht werden könnte. Nicht nur die Anzahl der Haus- und Anerkennungstarifverträge hat zugenommen, auch die betrieblichen Handlungsspielräume, die die branchenbezogenen Tarifregelungen eröffnen, sind größer geworden und werden stärker genutzt. In der Metall- und Elektroindustrie sind das in der Regel Öffnungsklauseln für einzelne Tarifregelungen, Öffnungsklauseln für definierte betriebliche Situationen zur Beschäftigungssicherung und bei Zustimmung der Tarifparteien sowie Härtefallklauseln. Die Betriebs- und Personalrätebefragung des WSI ergab: In 35% der Betriebe werden die tariflichen Öffnungsklauseln angewendet (siehe Bispinck/Schulten in diesem Band). Die Ergebnisse dieser Befragung sind auch insoweit aufschlussreich, als sie eine weit verbreitete skeptisch-ablehnende Grundhaltung der betrieblichen Interessenvertretungen gegenüber der fortschreitenden Verbetrieblichung der Tarifpolitik ausweisen. Das Verhältnis von Tarifpolitik und Betriebspolitik ist nicht zum ersten Mal Gegenstand zugespitzter Debatten in den Gewerkschaften. Bereits Ende der 1950er Jahre stand in der IG Metall das Konzept "betriebsnaher Tarifpolitik" im Mittelpunkt gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen. Die wirtschaftliche Prosperität hatte bis Ende der 1950er Jahre nicht nur zu einem nahezu vollständigen Abbau der Arbeitslosigkeit geführt, sondern in den Industriebetrieben des Metallbereichs auch zu dem Phänomen, dass die erreichbaren Effektivverdienste den Tariflöhnen und -gehältern davoneilten. Die Spannen zwischen den Effektiv- und Tarifverdiensten gestalteten sich dabei von Betrieb zu Betrieb sehr unterschiedlich. Insbesondere Betriebsräte aus der Automobilindustrie drängten darauf, die IG Metall sollte auf betrieblicher Ebene Tarifverhandlungen aufnehmen, um in besonders ertragsstarken Betrieben die relativ hohen Effektivverdienste tariflich einzufangen. Die sich öffnende Lücke zwischen vielfach höheren übertariflichen Leistungen und geltenden Tarifstandards sollte gefüllt und damit der lohnpolitische Spielraum in einzelnen Betrieben und Branchen genutzt und erweitert werden (Einfangen der steigenden Lohndrift). An dieses Konzept waren auch weitere organisations- und betriebspolitische Ziele geknüpft. Mit ihm sollte der unbefriedigenden Mitgliederentwicklung und dem zurückgehenden Engagement in den lokalen Bereichen durch einen forcierten Aufbau gewerkschaftlicher Vertrauensleute entgegengewirkt werden. Auch die Bildungsarbeit sollte stärker betrieblich ausgerichtet werden. Die Konzeption der betriebsnahen Tarifpolitik, über die sehr leidenschaftlich debattiert wurde, fand jedoch auf mehreren Gewerkschaftstagen keine Mehrheit, sodass der Ansatz in den folgenden Jahren nicht weiter verfolgt wurde. In der Hochphase fordistischer Prosperität war betriebsnahe Tarifpolitik als Offensivkonzept gedacht. Unter den Bedingungen des flexiblen Kapitalismus vollziehen sich die Tendenzen einer "Verbetrieblichung" seit einigen Jahren jedoch in einer Defensivkonstellation. Die Rahmenbedingungen von damals sind mit den heutigen nicht vergleichbar. Das Verhältnis von Tarif- und Betriebspolitik war seit den Nachkriegsjahren immer dadurch gekennzeichnet, dass Betriebsräte wichtige Träger der Gewerkschaftsarbeit im Betrieb waren – auch bei der Umsetzung und Anwendung von Tarifverträgen. Dies gilt auch heute noch. Gleichzeitig muss zur Kenntnis genommen werden, dass unter den Bedingungen einer verschärften Wettbewerbsorientierung Belegschaften und Betriebsräte immer stärker unter Druck geraten. Markierungspunkte in diesem Prozess sind langfristige Beschäftigungssicherungs- oder Standortvereinbarungen und neue, angeblich "kostensparende" Regelungsinhalte in Betriebsvereinbarungen, z.B. in den Feldern Arbeitszeit und Leistungsbewertung. Die machtpolitischen Voraussetzungen für Tarifpolitik sind in den Betrieben prekärer geworden. Betriebspolitik als treibende Kraft für tarifpolitische Fortschritte und Erfolge hat an Wirksamkeit eingebüßt. Dies muss sich wieder ändern. Eine der wichtigsten gegenwärtigen Herausforderungen besteht darin, den tiefgreifenden Veränderungen in den Betrieben, den veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten so Rechnung zu tragen, dass daraus eine lebendige Betriebspolitik und eine aktivierte Interessenvertretung entsteht. In der IG Metall besteht Konsens, dass der Prozess der Verbetrieblichung nicht wildwüchsig und unkontrolliert verlaufen darf, sondern bewusst durch Ansätze einer neuen tariflichen Regulierung aufzufangen ist. Hierauf beziehen sich auch bezirkliche Reformkonzepte, die auf eine neue Verzahnung von Betriebs- und Tarifpolitik abzielen. Um die speziellen betrieblichen Arbeitsverhältnisse besser berücksichtigen zu können und die Mitglieder stärker als bisher in die Tarifaushandlung einzubeziehen, wird in einem Bezirk der IG Metall der Weg einer "betriebsnahen Tarifpolitik" über Ergänzungstarifverträge und betriebliche Tarifkommissionen vorgeschlagen (siehe den Beitrag von Hartmut Schulz und Uwe Zabel in diesem Band). In anderen Bezirken wurden und werden andere Konzepte einer inhaltlichen und strukturellen Weiterentwicklung des Tarifvertragssystems erarbeitet und teilweise in die Entgeltrahmenverhandlungen eingespeist. Welcher Weg auch immer favorisiert wird, in der IG Metall besteht Übereinstimmung darin, dass es darum geht, die gewerkschaftliche Interessenvertretung im Betrieb zu aktivieren und zu stärken und neue koordinierte Strukturen zwischen Betriebs- und Tarifpolitik aufzubauen. Entgeltpolitische Differenzierungskonzepte Neue Weichenstellungen in der Tarifpolitik sind erforderlich. Sie sind daran zu messen, ob sie den Flächentarifvertrag stabilisieren und weiterentwickeln – bei zusätzlicher Differenzierung hinsichtlich beschäftigungsstruktureller, betrieblicher oder branchenbezogener Besonderheiten. Dabei lassen sich verschiedene strategische Optionen unterscheiden, die auch unterschiedliche Vorstellungen beinhalten, wie das Verhältnis von Betriebs- und Tarifpolitik zukunftstauglich gestaltet werden kann. Kontrollierte Differenzierung durch konditionierte Wahlmöglichkeiten: Bei dieser Option soll die tarifvertragliche Regelungsdichte durch die Eröffnung konditionierter Wahlmöglichkeiten im Tarifvertrag erhöht werden. Es wird dabei davon ausgegangen, dass die Tarifvertragsparteien einzelne tarifliche Bausteine im Flächentarifvertrag vereinbaren, die dann je nach betrieblichen Konstellationen von den Betriebsparteien wählbar oder nicht wählbar sind. Kontrollierte Dezentralisierung: Bei diesem Modell werden Regelungstatbestände durch eine Öffnung des Flächentarifvertrages auf die Betriebsebene verlagert. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden hierfür bereits viele Formen geschaffen: Neue Tariföffnungsklauseln, tarifliche Härtefallklauseln für die ostdeutsche Metall-, Stahl- und Textilindustrie, Sanierungstarifverträge, Haus- und Ergänzungstarifverträge (siehe den Beitrag von Helga Schwitzer in diesem Band). Betriebliche Tarifpolitik durch Ergänzungstarifverträge: Bei diesem oben bereits erwähnten Modell der kontrollierten Dezentralisierung werden betriebliche Ergänzungstarifverträge als strategischer Schlüssel für eine offensive Verknüpfung von Tarifpolitik, gewerkschaftlicher Betriebspolitik und Mitgliederentwicklung betrachtet. Über betriebliche Tarifkommissionen soll die tarifpolitische Willensbildung im Betrieb ausgebaut und die tarifliche Regelungskompetenz auf Betriebsebene gestärkt werden (siehe den Beitrag von Hartmut Schulz und Uwe Zabel in diesem Band). Zweistufig angelegte Tarifpolitik: Dieses Differenzierungskonzept sieht vor, dass zusätzlich zu einem für alle Betriebe einheitlichen und verbindlichen tariflichen Erhöhungsbetrag bzw. -prozentsatz ein betriebsbezogener oder auf Betriebsebene zu regelnder Entgeltbestandteil zu vereinbaren ist. Dieses Konzept steht gegenwärtig im Mittelpunkt einer kontroversen Debatte in der IG Metall um die Weiterentwicklung des Flächentarifvertrages. Auch hierbei gibt es mehrere Varianten, wobei die beiden erstgenannten in der IG Metall-internen Diskussion gegenwärtig keine Rolle mehr spielen. – Das Modell einer definierten Bandbreite, bei dem der Tarifvertrag den Betrieben gestattet, in einem definierten Rahmen für eine bestimmte Zeit von den für alle geltenden Tarifnormen abzuweichen (wie z.B. nach oben und nach unten in der Textil- und Bekleidungsindustrie). – Ebenfalls keine bedeutende Rolle spielen zweistufige erfolgsabhängige Tarifabschlüsse, nach denen je nach Wirtschaftslage des Betriebes unterschiedlich hohe Tariferhöhungen weitergegeben werden. Danach würden alle Beschäftigten in allen Betrieben einen einheitlichen Erhöhungssatz X bekommen, darüber hinaus wäre ein zusätzlicher Prozentsatz Y abhängig vom betriebswirtschaftlichen Erfolg des jeweiligen Betriebes möglich. – Dagegen wird das Modell einer zusätzlichen "variablen Einmal- oder Sonderzahlung" gegenwärtig als mögliches Modell in der innergewerkschaftlichen Debatte der IG Metall behandelt. Es sieht entweder eine zusätzliche jährliche und betrieblich verhandelbare Einmalzahlung vor (vgl. den Beitrag von Berthold Huber und Jörg Hofmann in diesem Band), oder eine Differenzierung der Sonderzahlung (Weihnachtsgeld) nach oben (vgl. den Beitrag von Armin Schild in diesem Band). Bezogen auf die Option einer zweistufig angelegten oder nach der betrieblichen Wirtschaftskraft differenzierten Tarifpolitik entwickelte sich eine zugespitzte Kontoverse in der IG Metall. Die Delegierten des 20. ordentlichen Gewerkschaftstages formulierten im Oktober 2003 hierzu einen Auftrag an die Organisation: In den nächsten zwei Jahren sind die Voraussetzungen für eine Positionsbestimmung zu organisieren, die die IG Metall auf diesem Terrain auch in Zukunft handlungsfähig macht. Mit Vorschlägen, die Tarifpolitik zweistufig anzulegen, beschäftigt sich die IG Metall verstärkt seit Beginn der letzten Tarifrunde. Der unmittelbare Anlass waren hohe Erwartungshaltungen einzelner Belegschaften aus Unternehmen mit überdurchschnittlicher Ertragslage im Vorfeld der Tarifrunde. Die Vorschläge, zweistufig vorzugehen, wurden damit begründet, die Gewinne mancher Konzerne seien so rasch gestiegen, dass sie nicht mehr in angemessener Form allein durch allgemeine Tarifabschlüsse zugunsten der Beschäftigten eingefangen werden könnten. Die Gewerkschaften dürften das Feld zusätzlicher Entgeltbestandteile nicht den Betriebsparteien überlassen, sondern müssten auch hier Handlungskompetenz zeigen. Die ökonomischen Unterschiede der Betriebe hätten in den letzten Jahren immer mehr zugenommen, dem müsse auch in der Tarifpolitik stärker Rechnung getragen werden. Diese Einschätzung wirft Fragen auf, denen weiter nachzugehen sein wird. Unbestreitbar gibt es riesige Unterschiede in den ökonomischen Voraussetzungen der Betriebe im Organisationsbereich der IG Metall. Betrachtet man einzelne betriebliche Berufungsfälle, kann es auch im längerfristigen Vergleich durchaus eine zunehmende Differenzierung geben. In der Metallverarbeitung hat sich die Schere in der Produktionsentwicklung zwar deutlich geöffnet, dies gilt nach Analysen der Wirtschaftsabteilung der IG Metall jedoch weder für die Produktivitätsentwicklung noch für die Beschäftigungsentwicklung. Ein stabiler Trend in Richtung zunehmender Differenzierung der wichtigsten wirtschaftlichen Parameter kann für die Metall- und Elektroindustrie empirisch nicht nachgewiesen werden (siehe den Beitrag von Nikolaus Schmidt in diesem Band). Was sich in der Metallverarbeitung allerdings nachvollziehbar verändert hat, sind die Relationen von Effektiveinkommen und Verteilungsspielraum. In der Phase 1993 bis 2001 waren die Verteilungsbedingungen in der Metallwirtschaft deutlich besser als im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt. Betrachtet man aber ergänzend die Entwicklung von Tarif- und Effektiveinkommen in der Metallwirtschaft in diesem Zeitraum, zeigt sich, dass – anders als im Zeitraum 1975 bis 1993, in dem die Tariferhöhungen im Durchschnitt betrieblich noch einmal aufgestockt wurden – unter dem Strich die übertariflichen Einkommensbestandteile abgeschmolzen wurden. Die Entwicklungslinien sind demnach paradox: Während in den 1990er Jahren erfolgsabhängige Entgeltbestandteile ausgeweitet wurden, fand gleichzeitig ein Abbau übertariflicher Entgelte statt. Die Verdienstchancen der Beschäftigten jenseits der abgesicherten Tarife sind in dieser Zeit also nicht gestiegen – im Gegenteil, es kam zu einer negativen Lohndrift. Hierin besteht der Kern des verteilungspolitischen Problems: Aufgrund der betrieblichen und branchenbezogenen Kräfteverhältnisse konnten die Verteilungsspielräume in den 1990er Jahren nicht zugunsten der Beschäftigten genutzt werden (siehe den Beitrag von Richard Detje in diesem Band). Die negative Lohndrift verweist auf die Defensive der betrieblichen Interessenvertretung. Der verstärkte Druck auf die Gewerkschaften, einen tariflichen Rahmen für zusätzliche (erfolgsabhängige) Entgelte zu schaffen, erklärt sich demnach nicht nur aus hohen Erwartungshaltungen einzelner Belegschaften im Vorfeld von Tarifrunden, sondern auch aus einer zunehmenden Defensivsituation in den Betrieben. Weil auch die betrieblichen Interessenvertretungen den verteilungspolitischen Status quo nicht mehr ohne weiteres halten können und bei der Regelung variabler Einkommen ihre Einflussmöglichkeiten schwinden sehen, soll die Gewerkschaft unterstützend tätig werden. "›Dezentralisierung‹ und ›Verbetrieblichung‹ werden so zu Chiffren für das Verhindern weiterer Niederlagen der Betriebsräte" – dieser Schlusssatz des Beitrages von Richard Detje beschreibt zutreffend die Grundlage für neue Anforderungen an die kollektive Kraft der Gewerkschaft. Vorschläge der Arbeitgeber und Tarifrunde 2004 Wiederholt haben die Arbeitgeber in den 1990er Jahren jeweils zu Beginn von Tarifrunden Vorstöße zu einer tariflichen Variabilisierung unternommen. Mehrfach wurde von ihrer Seite gefordert, einen Teil der Einkommen der Beschäftigten, konkret die als "Weihnachtsgeld" bekannte Sonderzahlung, vom betriebswirtschaftlichen Erfolg abhängig zu machen. In der Tarifrunde 1999 schlugen die Arbeitgeber einen zweistufigen Tarifabschluss vor, der 2% für alle Beschäftigten und 0,5% in Abhängigkeit von der Ertragslage der Betriebe vorsah. Die Meinungsbildung in der IG Metall führte jedoch immer zu klaren Absagen an diese "Angebote". Heute stellt der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Hans Werner Busch, fest: "Niemand glaubt mehr daran, dass sich die Lösung unserer Differenzierungsprobleme darin erschöpfen könnte, dass wir das tarifliche Weihnachtsgeld nicht mehr mit fixen 55% eines Monatsentgelts ausstatten, sondern mit einem Korridor von 40 bis 70%. Insofern bleibt uns zur allmählichen Rückführung des Differenzierungsbedarfs beim Entgelt zunächst einmal die Verpflichtung, die tarifpolitische Orientierungsmarke über mehrere Jahre hinweg etwas unterhalb des Durchschnittsbetriebes anzusiedeln."[9] Bemerkenswert offen spricht er damit aus, dass es Gesamtmetall nicht einfach um Flexibilisierung, sondern in Verbindung damit um eine Senkung des Lohnniveaus geht. Zur Flexibilisierung unterbreitet er einen weiteren Vorschlag: "Ein weiterer Teil des Differenzierungsbedarfs wird dadurch zu decken sein, dass die zu hoch geratenen Tarifnormen im Bedarfsfall unterschritten werden. Hierzu gibt es einige Ansätze in unseren Tarifverträgen... Dies kann nicht das letzte Wort sein. Wir benötigen eine schnellere, weniger bürokratische und diskretere Lösung, die es nur auf der Ebene des Betriebes geben kann. Deshalb streben wir eine Öffnungsklausel im Tarifvertrag an, die unter klar definierten Konditionen die Betriebsparteien in die Lage versetzt, vom Tarifvertrag abweichende Regelungen zu vereinbaren" (ebd.). Ihr Programm, weitere Variabilisierungsmöglichkeiten der Entgelte vornehmlich nach unten durchzusetzen, versuchen die Arbeitgeber demnach über verschiedene Wege zu erreichen. Dabei steht offensichtlich zu Beginn der Tarifrunde 2004 eine generelle tarifliche Öffnungsklausel für so genannte "Betriebliche Bündnisse" oben auf der Prioritätenliste. Im Rahmen der abweichenden betrieblichen Regelungen könnten dann im Bedarfsfall entweder die von Gesamtmetall und vielen Politikern massiv eingeforderten höheren Arbeitszeiten oder niedrigere Entgeltsätze betrieblich gewählt werden. Diese Zielsetzung entspricht auch dem Vorschlag, den Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegießer für die Tarifrunde 2004 unterbreitet hat: Entgelt und Arbeitszeit sollten in Form eines Korridors geregelt werden, der dann autonom betrieblich auszufüllen wäre. Dass die Metallarbeitgeber dagegen zu Vereinbarungen gegenwärtig nicht bereit sind, die vornehmlich Differenzierungsmöglichkeiten nach oben für erfolgreiche Betriebe beinhalten, haben sie in der jüngsten Tarifauseinandersetzung im Osten demonstrativ vorgeführt. Dabei ging es zwar in erster Linie um eine schnellere Angleichung an kürzere Arbeitszeiten in einzelnen Betrieben, faktisch damit aber auch um eine betrieblich differenzierte Umsetzung materieller Regelungstatbestände. Jenseits der notwendigen Klärung von Grundsatzfragen, die mit dem Thema zweistufiger Tarifpolitik auf die Tagesordnung gesetzt sind und die in diesem Band von Wissenschaftler/innen und Gewerkschafter/innen erörtert werden, ist die IG Metall bereits in dieser Tarifrunde gefordert. Zwar hat die bisherige Meinungsbildung in der IG Metall ergeben, dass "Zweistufigkeit" nicht zu den Themen der Tarifrunde des Jahres 2004 gehört. Dennoch wird sich schon in dieser Tarifrunde zeigen, wie die IG Metall mit den von den Arbeitgebern und der Politik formulierten Forderungen einer Auflösung allgemeiner überbetrieblicher Regulierung umzugehen in der Lage ist. [1] Oskar Negt, in: Frankfurter Rundschau vom 25.8.2003, S. 8.
[2] Vgl. auch Dieter Sauer, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 5/2003, S.257-267.
[3] Vgl. Reinhard Bahnmüller, in: WSI 7/2001, S. 430, der dies als "Finalisierung des Leistungsbegriffs" bezeichnet.
[4] Diese Orientierung versuchen die Unternehmen durch mehrstufige Entgeltsysteme mit erfolgsabhängigen Komponenten und mit Hilfe von Instrumenten wie Zielvereinbarungen, vorzugsweise unter Verzicht auf die Mitbestimmung des Betriebsrates, umzusetzen.
[5] IAB Kurzbericht, Nr.9/30.5.2001; auch Iris Möller: Produktivitätswirkung von Mitarbeiterbeteiligung, MittAB 4/2000, S. 569ff.
[6] Zitiert nach Backes-Gellner/Kayser/Schröder/Wolff: Mitarbeiterbeteiligung in kleinen und mittleren Unternehmen, Wiesbaden 2002. Kapitalbeteiligungen wurden nur von ca. 2% genannt.
[7] Vgl. Reinhard Bispinck in: WSI-Mitteilungen 2/2001.
[8] Im Osten ist der Grad der Tarifbindung erheblich niedriger, er liegt bei 46%. Es ist eine der Zukunftsaufgaben, die Tarifbindung im Osten auszuweiten.
[9] Vgl. Hans Werner Busch, Flächentarifvertrag und betrieblicher Differenzierungsbedarf in der Metall- und Elektroindustrie, in: Industrielle Beziehungen, 10. Jg, Heft 2, 2003, S. 325.

Leseprobe 3



Inhalt:

Vorwort (Leseprobe)
Hilde Wagner
Der Flächentarifvertrag unter Druck –
die Folgen von Verbetrieblichung und Vermarktlichung
(Leseprobe)

Ökonomische Entwicklungstendenzen


Karl Georg Zinn
Finanzmarktgetriebene Globalisierung – Einkommenspolitik im Shareholder-Kapitalismus
Michael Wendl
Tarifpolitik zwischen mikro-ökonomischer Anpassung und makroökonomischer Stabilisierung
Nikolaus Schmidt
Entwicklung der ökonomischen Differenzierung in der Metallindustrie

Ein neuer Kontrollmodus:
Vermarktlichung – Verbetrieblichung


Dieter Sauer
Die neue Unmittelbarkeit des Marktes
Arbeitspolitik im Dilemma
Joachim Bergmann
Die nolens volens tolerierte Erosion von Tarifvertragsnormen
Reinhard Bispinck / Thorsten Schulten
Verbetrieblichung der Tarifpolitik?
Tendenzen und Einschätzungen aus Sicht von Betriebs- und Personalräten

Bestandsaufnahmen


Jürgen Peters
Zivilisierung der Marktkräfte – Der Flächentarifvertrag als Gestaltungsprinzip
Richard Detje
Verbetrieblichung und Vermarktlichung
Wandel der Leistungsentlohnung
Wolfgang Schroeder / Rainer Weinert
Der deutsche Flächentarifvertrag unter den Bedingungen liberalisierter Märkte in Europa
Thorsten Schulten
Der Flächentarifvertrag – ein europäisches Auslaufmodell?
Tarifvertragsysteme in Europa im Überblick
Ulrike Wendeling-Schröder / Jens M. Schubert
Rechtsprobleme zweistufiger Tarifvertragssysteme

Positionsbestimmungen in der IG Metall


Berthold Huber / Jörg Hofmann
Ist die solidarische Lohnpolitik am Ende?
Perspektiven gewerkschaftlicher Lohnpolitik
Helga Schwitzer
Plädoyer für eine solidarische differenzierte Tarifpolitik
Hartmut Schulz / Uwe Zabel
Die Gewerkschaft im Betrieb stärken
Antonius Engberding
Erfolgsabhängige Sonderzahlung
Armin Schild
Die Dezentralisierung der Tarifverträge als Chance begreifen?

Autorenreferenz

Joachim Bergmann ist em. Professor für Industriesoziologie an der Technischen Universität in Darmstadt. Reinhard Bispinck ist Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans Böckler Stiftung. Richard Detje ist Redakteur der Zeitschrift "Sozialismus" und Mitarbeiter der "Wissenschaftlichen Vereinigung für Kapitalismusanalyse und Gesellschaftspolitik", WISSENTransfer. Antonius Engberding ist Gewerkschaftssekretär im Funktionsbereich Tarifpolitik beim Vorstand der IG Metall. Jörg Hofmann ist Bezirksleiter der IG Metall im Bezirk Baden-Württemberg. Berthold Huber ist Zweiter Vorsitzender der IG Metall. Jürgen Peters ist Erster Vorsitzender der IG Metall. Dieter Sauer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München und Professor für Soziologie an der Universität Jena. Armin Schild ist Leiter des Funktionsbereichs Tarifpolitik beim Vorstand der IG Metall. Nikolaus Schmidt ist Gewerkschaftssekretär im Funktionsbereich Wirtschaft, Technologie, Umwelt beim Vorstand der IG Metall. Wolfgang Schroeder ist Gewerkschaftssekretär im Funktionsbereich Tarifpolitik beim Vorstand der IG Metall. Jens Schubert ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hannover. Thorsten Schulten ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans Böckler Stiftung. Hartmut Schulz ist Tarifsekretär in der IG Metall Bezirksleitung Küste. Helga Schwitzer ist Tarifsekretärin in der IG Metall Bezirksleitung Hannover. Hilde Wagner ist Gewerkschaftssekretärin im Funktionsbereich Tarifpolitik beim Vorstand der IG Metall. Rainer Weinert ist Professor für Soziologie am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. Ulrike Wendeling-Schröder ist Professorin am Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hannover. Michael Wendl ist stellvertretender Vorsitzender des Landesbezirks Bayern der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Uwe Zabel ist Erster Bevollmächtigter der IGM Verwaltungsstelle Unterelbe. Karl Georg Zinn ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Rheinisch Westfälisch Technischen Hochschule in Aachen.

Zurück