Die Angaben zu Autor*innen, Titel, Umfängen und Erscheinungsterminen sowie die Umschlagabbildungen sind bis zum Erscheinen vorläufig, auch Änderungen der Ladenpreise müssen wir uns vorbehalten. Alle Preise enthalten die gesetzliche MwSt. Hinzu kommen ggf. Versandkosten

Dieter Boris / Anne Tittor

Der Fall Argentinien

Krise, soziale Bewegungen und Alternativen

144 Seiten | 2006 | EUR 11.80 | sFr 21.40
ISBN 3-89965-166-9 1

Titel nicht lieferbar!

 

Kurztext:
Anne Tittor und Dieter Boris untersuchen Ursachen und Folgen der argentinischen Krise und gehen der Frage nach, was aus den tastenden Versuchen einer schwierigen Abkehr von neoliberaler Politik zu lernen ist.


Die argentinische Gesellschaft hat erst vor wenigen Jahren (2001/2002) eine tiefgreifende Krise erlebt. Die Zahlungen an private und öffentliche Gläubiger wurden zeitweise eingestellt bzw. einseitig erheblich reduziert. Eine große Protestbewegung erfasste das Land und die herrschenden politischen Kräfte schienen unfähig, die Krise zu bewältigen.

Die neoliberale Politik der 1990er Jahre war am Ende. Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern hat inzwischen eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell stattgefunden.

Fünf Jahre später haben sich die Verhältnisse in Argentinien halbwegs "normalisiert". Ein "revolutionärer Umbruch" ist ausgeblieben. Präsident Kirchner ist es gelungen, mit einer Mischung aus Beschneidung der Interessen der Gläubiger und einer nachfragestimulierenden Wirtschafts- und Sozialpolitik die argentinische Gesellschaft aus der Situation der scheinbaren Unregierbarkeit herauszuführen. Die Verabschiedung vom Neoliberalismus erfolgt dabei in kleinen Schritten und ist z.T. durchaus widersprüchlich.

Die AutorInnen:
Dieter Boris ist Professor am Institut für Soziologie an der Philipps-Universität in Marburg. Anne Tittor ist Studentin der Politikwissenschaft und Soziologie an der Philipps-Universität in Marburg.

Leseprobe 1

Vorwort

Der beispiellos schnelle und tiefe Absturz der stark neoliberal geprägten Wirtschaft Argentiniens in den Jahren 2001/02 hat seinerzeit weltweite Aufmerksamkeit erregt. Auch wenn das Land heute nur mehr selten in den Schlagzeilen vorkommt, war die argentinische Krise im Rückblick ein wichtiger Wendepunkt in der politischen Entwicklung Lateinamerikas. Im Kontext der damals eingetretenen starken Delegitimierung des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells sind mittlerweile viele Länder des Subkontinents von neoliberalen Maximen mehr oder minder abgerückt und haben – nach demokratischen Wahlen – "Mitte-Links-Regierungen" gebildet. Diese suchen nach neuen Orientierungen, um die alten Probleme (die extreme soziale Ungleichheit, starke Abhängigkeit vom Weltmarkt, geringe ökonomische und politische Zusammenarbeit der lateinamerikanischen Nachbarländer etc.) mit neuen Ideen und Impulsen anzugehen. Mittlerweile ist die Diskussion über die Reichweite und Perspektiven dieser "Linkswende" in Lateinamerika auch hierzulande angekommen. Was aus diesen tastenden Versuchen einer überaus schwierigen Abkehr von neoliberalen Politiken zu lernen ist, welche Widersprüche und inkonsequenten Maßnahmen festzustellen sind, ist – trotz der gänzlich anderen Ausgangssituation – auch für die politische Analyse Europas von Bedeutung. Unter dieser Zielsetzung wollen wir eine knappe Analyse der argentinischen Krise und des seither eingetretenen "Normalisierungs"-Prozesses unter teilweise veränderten Kräfte- und Machtverhältnissen vorlegen. Nach der Darstellung der häufig übersehenen historischen und strukturellen ökonomischen Parameter der argentinischen Politik sollen insbesondere die krisenverstärkenden Momente der neoliberalen Ära von 1989 bis 2001 sowie die diversen Erklärungsansätze der Krise von 2001/02 vorgestellt werden. Die seit Beginn des Jahres 2002 einsetzenden Versuche des Krisenmanagements und der Rekonstruktion der argentinischen Gesellschaft – mit all ihren widersprüchlichen Resultaten – sind Gegenstand eines weiteren Kapitels. Danach wird den verschiedenen und auf ihrem Höhepunkt mit großer Kraft sich artikulierenden, teilweise neuen sozialen Bewegungen und ihrer späteren Entwicklung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In einem abschließenden Kapitel werden die ökonomischen und politischen Perspektiven Argentiniens thematisiert. Die Frage, ob und wie die dortige Linke Einfluss auf die Veränderungs- und "Normalisierungs"prozesse zu nehmen vermochte, muss natürlich aufgeworfen werden. Eine Erkenntnis ist dabei schon bei flüchtiger Betrachtung zu gewinnen: Die Abkehr vom neoliberalen Diskurs und von neoliberaler Politik muss nicht notwendigerweise zu einer systemtranszendierenden Übergangssituation führen und muss keineswegs mit einem Terraingewinn jener politischen Kräfte einhergehen, die unter dem Neoliberalismus am meisten gelitten und ihn eventuell am entschiedensten und frühesten bekämpft haben. Aber auch zu erfahren, warum dieses scheinbar "paradoxe" Resultat der jüngsten Geschichte Argentiniens fünf Jahre nach der großen Krise eingetreten ist, erweist sich als interessant und lehrreich. Marburg, im Juni 2006
Dieter Boris / Anne Tittor

Leseprobe 2

5. Ausblick und Perspektiven (Auszug)

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Mobilisierungen zur Unterstützung des Regierungskurses für Befürworter und Gegner Kirchners eindrucksvoll seine Zustimmung zur Schau stellen. In den letzten drei Jahren ist es Kirchner gelungen, sukzessive seine Unterstützung in der Bevölkerung zu konsolidieren, seinen Einfluss in der PJ auszubauen und Teile der sozialen Bewegungen zur loyalen und mitunter begeisterten Gefolgschaft zu machen. Kirchner steht heute für ein "Mitte-Links-Projekt", das auf lateinamerikanische Integration setzt, sich rhetorisch von neoliberaler und US-dominierter Wirtschaftspolitik losgesagt hat und die versprochene Normalisierung, d.h. ökonomische Erholung, Verringerung der Armut und Arbeitslosigkeit und Rekonstruktion der gesellschaftlichen Ordnung, erreicht hat. Die größte Herausforderung für Kirchner ist, dass er die Unterstützung weiter organisatorisch konsolidieren muss. Die neue politische Kraft, die langfristig zur Partei werden soll, stützt sich in erster Linie auf drei Substrukturen, die neben seines Wahlbündnisses FTV (Frente para la Victoria), ihm loyale Teile der PJ, Gewerkschaftsspitzen, UCR-Funktionäre, ehemalige Anhänger Menems und Duhaldes auch Personen aus Frente Grande, sozialistischen Gruppierungen und sozialen Bewegungen einschließen soll[1]. Nach und nach konnte er eine gesellschaftliche Basis für dieses Projekt finden und sie zugleich erweitern: so stehen weit mehr Intellektuelle, Gewerkschafter und Aktivisten sozialer Bewegungen heute hinter der kirchnerischen Variante des Peronismus als in den letzten Jahren[2]. Relativ erfolgreich konnte er bereits in den Oktoberwahlen große Teile der linken Wählerschaft für sich gewinnen. Nun kann er mit großer Unterstützung im Rücken seinen Kritikern auf der politischen Rechten kontra bieten und nach und nach klarer zwei große politische Lager herausarbeiten[3]. Im eigenen Lager bemüht er sich um Zustimmung aus Kleinunternehmen und Mittelstand, sowie die Beteiligung von sozialistischen Kräften an der Regierung - eine Tendenz, die in den Personalentscheidungen des Mai 2006 vertieft wurde. Ohnehin arbeiten bereits viele langjährige Aktivisten der sozialen Bewegungen und der universitären und publizistischen Linken in Ministerien und Instituten der Regierung Kirchner. Die jetzige Verstärkung der Mobilisierung kann als Auftakt für den Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 2007 gelten, ohne dass Kirchner selbst bereits diesen Bezug hergestellt hätte. Möglicherweise dient sie aber auch der Überdeckung eines gewissen Erschöpfens der bisher positiven Entwicklungen im wirtschaftspolitischen Bereich, da die Faktoren, die Kirchner bisher begünstigten, langsam schwinden. Die kirchnerische Machtdemonstration ist aber sicherlich auch als Reaktion auf die Rekonstruktion der rechten Opposition zu sehen, die in den letzten Jahren beachtliche Erfolge zu verzeichnen hatte[4]. Teils moderate, teils harsche Kritik bekommt er darüber hinaus aus der wirtschaftsliberalen Zeitung La Nación, der katholischen Kirche, den Militärs und den Unternehmerverbänden. Die einflussreiche wirtschaftsliberale Mitte-Rechts- einzuordnende Zeitung "La Nación" berichtet etwas kritischer über Kirchners Amtszeit. Während sie die Position in Bezug auf Auslandsschulden gut heißt, bemängelt sie die unzureichenden Maßnahmen gegen die Inflation und kritisiert die Preispolitik Kirchners, die die Unternehmen gängele. Als grundlegenden Kritikpunkt nennt sie die rückläufige "institutionelle Qualität" der politischen Institutionen (Godio, 29.5.06). Die katholische Kirche in Person des Erzbischofs von Buenos Aires kritisiert den politischen Sektarismus sowohl der Regierung als auch der Opposition, die in diffamierender Weise zu sehr auf Streit aus sei, und somit Chaos und Unordnung provoziere (ebd.) Die Unternehmerverbände tolerieren in erster Linie den Regierungskurs, favorisierten allerdings den ehemaligen Wirtschaftsminister Lavagna gegenüber der neuen Ministerin Miceli, die für die Unterstützung Kirchners anti-monopolisitsche Bemühungen und die harte Linie gegenüber dem IWF steht. Neben Ermahnungen zu moderaten Tarifabschlüssen, wenden sie sich gegen Preiskontrollen und die kritisierten die temporären Exportbegrenzungen für Fleisch im Mai 2006 scharf. Nur 1% der Unternehmer (bei 1300 befragten!) wäre nach einer Umfrage des Nachrichtendienstes argentinienaktuell.com vom 26.5.06 bereit, Kirchner ihre Stimme zu geben, einflussreiche Teile des Militärs und des Establishments im Allgemeinen sind gegen ihn. Unter diesen Rahmenbedingungen ist es bisher nicht dazu gekommen, dass das politische Projekt, für das Kirchner steht, nach rechts abgeglitten wäre. Andererseits ist aber auch zu keiner deutlichen Hinwendung zu keynesianischer oder einkommensumverteilender Wirtschafts- und Sozialpolitik gekommen[5]. Mit einem Mix aus fortschrittlicher Rhetorik, einem Stopp der Vertiefung neoliberaler Maßnahmen, ohne sie jedoch in bedeutendem Maße rückgängig zu machen und unkonventionellen Ansätzen (wie z.B. der Verpflichtung der Supermärkte zu Höchstpreisen für bestimmte Produkte des Grundbedarfes) steht Kirchner für eine neue Form peronistischer Politik. Zu den Zeiten Menems sind starke Differenzen sowohl im politischen Stil als auch in der inhaltlichen Ausrichtung zu erkennen. Die Bezugnahme auf Peron fällt bei Kirchner nicht intensiver aus als bei seinen Vorgängern im Amt. Keineswegs steht er für die Erneuerung des Kerns der Wirtschaftspolitik des ersten Peronismus, der die Importsubstituierende Industrialisierung vorantrieb und der Arbeiterschaft soziale Inklusion anzubieten hatte. Auch wenn Kirchner ein Integrationsversprechen gibt, sind die materiellen Zugeständnisse an seine Anhängerschaft im Großen und Ganzen eher dürftig. Zu einer Umkehr der gesellschaftlichen Polarisierungstendenz zwischen arm und reich ist es nicht gekommen. Zur Perspektiven der Linken Heute teilt sich die argentinische Linke mehr denn je in zwei große Lager, die häufig als politische versus soziale Linke bezeichnet werden. Wesentliche inhaltliche, organisatorische und zukunftsweisende Neuerungen kamen in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem aus den sozialen Bewegungen, die aus der Krise des ökonomischen, politischen und sozialen Modells der 1990er Jahre entstanden sind. Auf der Suche nach neuen Subsistenzformen und in Verteidigung ihrer sozialen und politischen Rechte, haben sie neue Formen und Inhalte linker Politik hervorgebracht, die die traditionellen kleinen Parteien der Linken gezwungen haben, sich vermehrt mit den Themen Arbeitslosigkeit, prekären Beschäftigungsbedingungen und Verarmung zu beschäftigen und alte Dogmen zu hinterfragen (Schuster, 2005:273). Ansatzweise haben die verschiedenen Formen des sozialen Protests in den linken Splitterparteien die Frage nach Repräsentativität, Wegen der Entscheidungsfindung und nach dem Verhältnis zur (vermeintlichen) Basis aufgeworfen, die potentiell eher antiquierte Formen politischer Kultur aufbrechen könnten. Doch wie so oft war das Verhältnis von Partei und Bewegung sehr spannungsgeladen: Zwar trugen die Erfahrungen und Mobilisierungsressourcen der Parteien um die Jahrtausendwende zur raschen Verbreitung der Bewegung bei, zugleich beschleunigten sie aber auch deren Zersplitterung, weil sie häufig in erster Linie versuchten Parteimitglieder zu werben und auf die Parteilinie einzuschwören, statt an der Vergrößerung und besseren Koordination der Bewegung zu arbeiten. Auch waren die Interventionen linker Splitterparteien in die asambleas populares in ihrer Mehrheit eher demobilisierend und der Dynamik der Bewegung eher hinderlich. Folglich hat sich aus den Protesten keine eigene parteiförmige Kraft (oder mehrere) entwickelt - die Diskussion um Parteigründung wurde kaum geführt. Die kleinen Parteien der traditionellen Linke können die gesellschaftliche Unzufriedenheit nicht ihn Wahlstimmen übersetzen- der Verlust aller Mandate im Abgeordnetenhaus in den Oktoberwahlen 2005 zeigt dieses einmal mehr[6]. Die linken Parteien (ohne ARI) haben zusammengenommen zwar landesweit ca. 4,5%, doch dies reicht nicht für Sitze im Abgeordnetenhaus. Die ARI erreicht landesweit 7,4%, was dazu führt, dass sie nach wie vor 13 Abgeordnete stellt. Die sozialen Bewegungen sind heute in einer schwierigen Situation, da sie sich maßgeblich über das Verhältnis zur Regierung definieren (lassen) und dies sich als zentrale Spaltungslinie zu verfestigen scheint. Während der Kirchner-freundliche Teil vor allem als begeisterte Anhänger der Regierung betrachtet wird und darüber Gefahr läuft, eigenes Profil zu verlieren, werden diese Strömungen von den Regierungskritikern scharf verurteilt, und es wird ihnen Opportunismus oder gar Verrat vorgeworfen. Der oppositionellen Linken fehlen ihrerseits gesellschaftliche Anknüpfungspunkte, und sie findet sich weitgehend isoliert in einer Situation politischer Marginalisierung, in der die Repression ihnen gegenüber auf Zuspruch der Bevölkerung stößt und auf viele Aktivisten einschüchtern wirkt. Trotz dieser schwierigen Situation bleibt festzuhalten, dass die sozialen Protestbewegungen dennoch ganz entscheidend Regierungspolitik geprägt haben, wenn auch nicht in direkter Form. Weder die Einführung der Arbeitslosenunterstützung, noch die Veränderungen staatlicher Politik im Menschenrechtsbereich oder die Absage an das ALCA- Projekt wären ohne die populare Unterstützung und den Druck von unten denkbar. Auch die relative Härte des Auftretens gegenüber Militärs, IWF und USA kann auf die eindeutig ablehnende Haltung der Bevölkerung zurückgeführt werden. Die populare Rebellion hat durchaus neue Handlungsoptionen (v.a. in erster Linie) für reformistische Lösungen entstehen lassen, die Ende der 1990er Jahr noch unvorstellbar waren. Doch sie hat auch im Kleinen für viele Menschen soziale Beziehungen, Subsistenznetzwerke und Bildungschancen innerhalb der Bewegungen entstehen lassen, die z.T. lebenswichtig und bereichernd gewesen sind. Nicht zuletzt hat sie ein Bewusstsein für andere Lebenssituationen und den gesellschaftlichen Verarmungsprozess geschaffen, das zuvor nicht vorhanden war. Diese Veränderungen haben sich wahlpolitisch nicht niedergeschlagen, sondern haben eine Linksverschiebung des Peronismus verursacht, der zur Zeit von den meisten progressiven Kräften gewählt wird. Ein linkes Parteiprojekt jenseits des Peronismus mit nennenswerter Größe ist derzeit nicht in Sicht. Wenn während der 1990er Jahre, als die PJ sich wirtschaftsliberal gebärdete und innere linke Kritik kaum noch zu hören war, es keinen Raum für eine neue Linkspartei gab, ist es unter heutigen Bedingungen noch unwahrscheinlicher, dass sich eine vom Peronismus unabhängige linke Kraft konstituiert. Schon in den 1980er Jahren scheiterten mehrere Versuche dieser Art.[7] In den 1990er Jahren wurde mit der Frente Grande und später Frepaso ein solches Projekt noch einmal versucht, das aber schnell wieder verworfen wurde, da sie ihre Wahlversprechen nicht halten konnten und bald eigene Korruptionsskandale und parteiinterne Streits in ihren Reihen aufkamen[8]. Diese Kräfte sind heute allesamt dem Kirchnerismus zuzuordnen. Die kleinen, traditionellen Parteinen der Linken, haben sich in ihrer Ausdrucksweise und politischen Kultur seit den 1970er Jahren wenig weiterentwickelt, gelten vielen als sektenhaft und haben kaum gesellschaftlichen Rückhalt (Tarcus 2005). Am aktuellen Versuch ein linkes Wahlbündnis zu schmieden, die Vereinigte Linke (Izquierda Unida), beteiligen sich bisher nur PC, MST und einige kleine Parteien, die gemeinsam nicht mehr Stimmen auf sich vereinen können, als zuvor einzeln. Drei weitere traditionelle linke Splitterparteien die (maoistische) PCR und die (beiden trotzkistischen Gruppen) PO und PTS treten gesondert an. Die linksliberale Partei für eine Republik von Gleichen (ARI- Alternativa por una República de Iguales), die aus einer Linksabspaltung der UCR hervorgegangen ist, und aus dem Lager der scharfen Kirchnerkritiker ihm nun freundlicher gesonnen ist, kann höchstens fünf Prozent der Stimmen erlangen, verlor aber zuletzt auch drastisch und ist nur in den großen Städten präsent, wo sie fast ausschließlich von Angehörigen der Mittelschicht gewählt wird. Die Strömung der sogenannten Neuen Linken oder auch Autonomistas hat in den letzten drei Jahren an Bedeutung verloren, wobei sie zahlenmäßig ohnehin nie stark gewesen ist. Ihre im argentinischen Kontext um so mehr verständliche starke Abneigungen gegen Partei- und Gewerkschaftsapparat, aber auch die Negierung der Zusammenarbeit mit hierarchisch aufgebauten Organisationen, hat sie bündnispolitisch nur begrenzt handlungsfähig gemacht. Mit wenigen lokalen Ausnahmen, fehlt ihr insbesondere auf überregionaler Ebene eine politische Interventionsfähigkeit und gesellschaftliche Anknüpfungspunkte. Dennoch existieren auch trotz der allgemeinen Fragmentierung, auch Tendenzen zu Bündnissen und spektrenübergreifenden Mobilisierungen. Nach wie vor bestehen linke Bewegungen mit hoher lokaler Verankerung, die in ihrem Umfeld bedürfnisorientierte Basisarbeit leisten, die in Europa zur Zeit kaum vorstellbar ist. Darüberhinaus existiert mit der CTA eine größere Organisation, durch die sich viele der genannten Konflikte hindurchziehen. Sie hat sich einerseits Kirchner angenähert, dieser versucht andererseits sie als Verhandlungspartner zu umgehen. Politisch ist sie langfristig aber schwer marginalisierbar, und stellt nicht zuletzt aufgrund ihrer zahlenmäßigen Bedeutung auch oder in Teilen ein Netzwerk der Protestbewegung dar. Unserer Meinung nach treffend resümiert Schuster: "Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Argentinien heute eine starke Präsenz der Linken besitzt, aber diese zeigt sich sehr fragmentiert mit einer geringen Kapazität eine einheitliche, politische Wahloption zu sein, wie etwa die brasilianische PT oder die Frente Amplio in Uruguay. Die auffällige Unfähigkeit der argentinischen Linken zu einer pluralen, kollektiven Zusammenarbeit, welche eine antikapitalistische Alternative eröffnen könnte, geht v.a. auf zwei Faktoren zurück: die politische Kultur des Landes, die durch den Massenmord an einer ganzen Generation geprägt wurde und die dadurch gekennzeichnet ist und die interpretative und politische Herausforderung durch populare Bewegungen nicht progressiv und vorwärtsweisend genutzt zu haben. Die peronistische Regierung bietet solange eine doppeldeutige Optionen an; aber es kann kein Zweifel bestehen, dass einige ihrer Aktionen mit wohlwollendem Blick aus einer linken Perspektive positiv gesehen werden sollten- und einige Strategien ermutigen zur Vertiefung - wie die internationale Orientierung, die Menschenrechtspolitik oder die Zurückweisung des Neoliberalismus - in Bezug auf andere Bereiche wäre eine kritische Haltung einzunehmen." (Schuster 2005: 277f)

[1] Godio (24.4.06) präzisiert diese Strategie und unterteilt die Fraktionen und ihre Rolle:
a) die Substruktur der FPV; Schlüsselfrage ist es hierbei, ob es gelingt, unter dem Motto der Transversalität kirchnernahe Gewerkschaftsspitzen ( z.Z. planen einflussreiche Personen aus CTA und UOM eine neue Gewerkschaftsströmung "Movimiento de Trabajadores para la Victoria" zu gründen) , die ehemalige Frente Grande, moderate Piqueterobewegungen, die Menschenrechtsbewegung (insbesondere die Madres und Abuelas de la Plaza de Mayo und die HIJOS), sowie wohlgesonnene Hochschulgruppen zu gewinnen.
b) Die Struktur der PJ als Parallelstruktur zur FPV auszubauen, wobei der Einfluss letzterer auch innerhalb der PJ erweitert werden soll. Gerade Provinzgouverneure und wichtige Parteifiguren kann er dabei weniger durch seine "peronistisch- neodesarollistische Perspektive" gewinnen, als vielmehr durch das Angebot konkreter Vorteile durch den Wechsel in seine Fraktion. Dabei favorisiert er, dass Anhänger Menems (insbesondere aus den nördlichen Provinzen) auch in die Mitte-Rechts-Koalition eingeordnet werden, wenn sie auf ihren Ansichten beharren.
c) Während eine neue Partei errichtet wird, baut er auf ein föderales Übereinkommen mit den Provinzgouverneuren (auch der UCR), um das Land "regierbar" zu halten. Im Gegenzug soll seine neue Partei föderaler organisiert sein und die Interessen der Provinzen stärker berücksichtigen.
d) Gleichzeitig gebraucht er immer wieder den Begriff der Concentración (grenzt ihn aber von der chilenischen ab), wobei die FPV eine zentrale Rolle in diesem Setting spielen soll. Dies scheint, die Option zu sein, sollte er die Hegemonie innerhalb der PJ nicht erreichen, um deren Einfluss zu mindern.
[2] Etwas skeptischer beurteilt Guillermo Almeyra Kirchners Position: "Heute hat Kirchner eine Akzeptanz von 65%, aber kaum organisierte Unterstützung, oder gar eine Partei hinter sich. Zwar hat er den Peronismus gegen Duhalde und Menem durch viele Kooptationserfolge der korrupten Gefolgsleute beider verteidigt und hat die Unterstützung der "Transversalen" (Nationalisten, diejenigen, die sonst ein Erstaken der Rechten befürchten oder einfache Opportunisten, die sich gerne in staatlichen Ämtern einrichten wollen). So geht Kirchner in die Wahlen des kommenden Jahres - er zieht seinen Vorteil aus der Spaltung der wirtschaftlichen und politischen Rechten und zugleich aus der Inexistenz einer sozialistischen Option, die gegen ihn antreten könnte" (Almeyra, 28.05.06)
[3] Martin Piqué beschreibt Polarisierung nach europäischem Vorbild mit einer mitte-links und einer mitte-rechts Koalition als den strategischen Wunsch der Regierung Kirchner, die durch die Erlangung der Glaubwürdigkeit in Bezug auf Menschenrechte nun die Mitte-Links-Option darstellt, in die sich für die nächsten Jahre auch die Anhänger der CTA, Frepaso und anderer linker Organisationen eingliedern müssen, wenn sie politisches Gewicht erlangen wollen (pagina 12, 28.5.06).
[4] Begonnen mit rund 40% der Wählerstimmen 2003 (Macri und Murphy zusammengenommen) und der Verschärfung der Sicherheitsgesetze im Gefolge der Mobilisierung gegen urbane Unsicherheit anlässlich der Ermordung des Unternehmersohns Blumberg ziehen sich die Erfolge der rechten Kirchnerkritiker bis zu der erfolgreichen Amtsenthebung Ibarras nach dem Skandal um den Brand in der Diskothek Cromangnon und den Sieg der Lokalwahlen in Buenos Aires.
[5] Auch in Bezug auf die Beurteilung des gegenwärtigen Trends gibt es unterschiedliche Lesarten, je nachdem welche Indikatoren man zur Rate zeiht: 1.) gemessen an Dezilen der Einkommensverteilung geht der Polarisierungsprozess weiter, die Zahl der Arbeitsunfälle ist signifikant gestiegen, 2.) verwendet man allerdings den Gini-Index oder betrachtete die Spreizung der Lohneinkommen (ohne den informellen Sektor) kann man eine Trendwende feststellen
[6] Raul Castells beispielsweise (MIJD), der aufgrund der unzähligen Demonstrationen für seine Freilassung höchst bekannt ist, konnte im Oktober 2005 in ganz Buenos Aires nicht mal 2000 Stimmen in den Wahlen erreichen (0,2 %)- viele seiner Anhänger wählen ihn folglich nicht. Auch Néstor Pitrolla (Polo Obrero), im Vorfeld der Wahlen vor allem als Piquetero-Respräsentant wahrgenommen, erreichte keine 2% (la brecha 28.10.05, p.10). Der Versuch einiger Asambleas, in Buenos Aires als neue gemeinsame Liste unter dem Slogan "Que se vayan todos" die alte Stimmung in Wahlstimmen zu transferieren, schlug ebenso fehl: Mit einem Stimmenanteil von weit unter einem Prozent im Oktober 2005 ist ihre Idee der neuen Institutionalität wenig erfolgreich gewesen.
[7] Der Anlauf der 1980er Jahre ein Wahlbündnis verschiedener linker Strömungen zu bilden, die "Unnachgiebige Partei" (Partido Intransigente), die auch den linken Flügel des Radikalismus einschloss, ging nach kurzen Wahlerfolgen 1985 von 6% an inneren Konflikten zu Grunde. Der kurze Aufstieg des Movimiento al Socialismo (MAS) repräsentierte nur wenige Kräfte der parteipolitischen Linken.
[8] Als sich in Abgrenzung zu Menems ultraliberalen Kurs aus der PJ, den CGT- Gewerkschaften und anderen linken Kräften Einzelpersonen entschlossen, die Frente Grande zu gründen, konnte diese 1993 zur Verfassungsgebenden Versammlung 13% der Stimmen erzielen und hat rückblickend das argentinische Zwei- in ein Mehrparteiensystem verwandelt. Unter dem Namen Frepaso baute sie ihren Stimmenanteil in den Wahlen 1995 auf 20% aus und ging 1999 mit der UCR die erste Koalitionsregierung der argentinischen Geschichte ein. In gewisser Weise war dieses Bündnis eine politische Neuerung, die als letzte Hoffnung in das existierende politische System galt - auch wenn es die Hauptakteure dieses Bündnisses nicht so verstanden (Schuster, 2005:256). Sein Scheitern stand für das scheinbare Ende der Legitimität eines politischen Systems, das in den Augen der Bürger nicht fähig war, die Probleme des Landes zu lösen und keines der Ziele, die sich die Regierung auf die Fahnen geschrieben hatte - Korruption und parteipolitischen Klientelismus zu beenden, sowie den Verarmungsprozess zu stoppen - konnte sie ansatzweise erreichen. Mit dem Rücktritt von Carlos ´Chaco´ Alvarez erlitt die Hoffnung auf die bündnispolitische Option der progressiv-nationalen Sektoren einen schweren Rückschlag, nachdem diese Versuche schon in den 1980er nur kurzlebig gewesen sind.

Leseprobe 3



Inhalt:

Vorwort (Leseprobe)
1. Grundzüge der politischen und ökonomischen Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert

Industrialisierung und Peronismus
Die nach-peronistische Periode zwischen Diktatur und Demokratie
Militärdiktatur und Re-Demokratisierung
Veränderungen der Sozialstrukturen bis zum Beginn der 1990er Jahre
2. Neoliberalismus und die Krise von 2001

Die ökonomische Weichenstellung der 1990er Jahre
Zustimmung zur Politik Menems
Ökonomische Entwicklung der 1990er Jahre
Arbeitsverhältnisse und -beziehungen seit 1990
Arbeitslosigkeit und ihre gesellschaftliche Bedeutung
Armut und Einkommenspolarisierung
Gewinner und Verlierer der 1990er Jahre
Die Krise und ihre verschiedenen Erklärungsvarianten
3. Krisenmanagement und die Abkehr vom Neoliberalismus

Die Regierung Duhalde (Januar 2002 bis Mai 2003)
Die Regierung Kirchner (Mai 2003 bis Mai 2006)
IWF / Gläubiger
Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Entwicklung
Menschenrechts- und außenpolitische Neuorientierung
Die Zwischenwahlen vom 23. Oktober 2005
4. Soziale Bewegungen seit den 1990er Jahren

Allgemeine Charakteristika sozialer Bewegungen seit 1990
Veränderungen im gewerkschaftlichen Spektrum
Piquetero-Bewegung als politische Artikulation der Arbeitslosen
Die Bewegung Besetzter Betriebe
Stadtteilversammlungen, Kartonsammler und Tauschringe: marktkonforme Selbsthilfe oder neue Form des Sozialen?
Die neue soziale Frage und ihre Verknüpfung mit den Themen Rassismus, Geschlechterverhältnisse und Menschenrechte
5. Ausblick und Perspektiven (Leseprobe in Auszügen)

Zur kurz- und mittelfristigen ökonomischen Entwicklung
Renaissance eines veränderten Peronismus?
Perspektiven der Linken
Anhang

Abbildungen
Literatur
Abkürzungen

Zurück