»Das regelt schon der Markt«
Marktsteuerung und Alternativkonzepte in der Leistungs- und Arbeitszeitpolitik
176 Seiten | 2001 | EUR 10.20 | sFr 18.50
ISBN 3-87975-821-2 1
Titel nicht lieferbar!
In den 90er Jahren haben sich betriebliche Reorganisationsprozesse in vielen Unternehmen in bis dahin unbekannter Qualität, Dynamik und Reichweite vollzogen. Bei aller Schwierigkeit, angesichts der Heterogenität der erkennbaren Rationalisierungsmaßnahmen einen Stil bildenden Trend auszumachen, versuchen die Beiträge dieses Bandes, die dominanten Prinzipien der gegenwärtigen betrieblichen Restrukturierung aufzudecken:
»Dezentralisierung« und »Vermarktlichung« zerlegen bisher einheitliche Unternehmen in eigenständige, an internen und externen Märkten operierende Einheiten.
Neue personalwirtschaftliche Konzepte der »indirekten Steuerung« transformieren den bisherigen Arbeitnehmer in den Typus eines »Arbeitskraftunternehmers«. Letztlich werden so alle Arbeitsbeziehungen marktförmig gestaltet.
Die praktischen Erfahrungen von Betriebsräten und Gewerkschaften bestätigen diese Veränderungen. Kaum ein Betrieb, der nicht mit neuen Produktionskonzepten und Organisationsmodellen experimentiert. Arbeitszeitsysteme werden neu konzipiert, Entgeltgestaltung und Leistungsregulation befinden sich im Umbruch. Davon bleiben die gewerkschaftlichen Handlungsorientierungen nicht unberührt. Was müssen ArbeitnehmerInnen heute wissen und können, um sich in Betrieb und Gesellschaft zurechtzufinden?
Auch darauf versucht dieser Band Antworten zu geben.
Leseprobe 1
Vorwort
Die Diagnose ist schnell gestellt: Die gesamte »soziale Architektur« der Gesellschaft ist in Bewegung geraten. Die Strukturveränderungen greifen auf allen Ebenen. Der beobachtbare Wandel erstreckt sich über die Produk-tions- und Managementkonzepte, die kollektiven Verhandlungssysteme, die betrieblichen Institutionen zur Regulierung der Arbeitsbeziehungen bis hin zum gesamten System der industriellen Beziehungen. Damit sind auch tiefgreifende Veränderungen in der Organisation der Erwerbsarbeit und eine Erosion des Normalarbeitsverhältnisses verbunden. Die unterschiedlichen Formen der Beschäftigung gleichen einem Flickenteppich und die Zahl der »Patchwork-Existenzen« nimmt zu. Teilzeit, geringfügige Beschäftigung, befristete Jobs, Scheinselbständigkeit usw. sind Stichworte, die diese Entwicklung beschreiben. Unübersehbar ist freilich auch die Zahl der Menschen, die diese Veränderungsprozesse positiv bewerten, weil sie mit realen oder vermeintlichen Vorteilen verbunden sind - etwa in bezug auf berufliche Tätigkeit und Verantwortung, Einkommen oder Freizeitgestaltung. Es wäre daher zu kurz gegriffen, nur den Wandel der »Institutionen« zu betrachten; vielmehr haben wir es auch mit einem Wandel der Werte der Menschen zu tun. Eines der hervorstechendsten Merkmale dabei scheint zu sein, dass die Markt- und Konkurrenzlogik von immer mehr Menschen akzeptiert bzw. verinnerlicht wird - sei es aus eigener Überzeugung, sei es mangels Alternativen. Dies bleibt nicht ohne Folgen für den täglichen Umgang miteinander, für die Formulierung und Durchsetzung von Interessen und Bedürfnissen im betrieblichen und gesellschaftlichen Alltag. Aber auch dieser Prozess des Wertewandels ist deutlich durch Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten geprägt - nicht zuletzt deswegen, weil negative individuelle und gesellschaftliche Folgen der Veränderungsprozesse spürbar geworden sind und weil viele der Bedürfnisse der Menschen der Konkurrenz- und Marktlogik zum Opfer zu fallen drohen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Entwicklung der gesellschaftlichen Strukturen und Abläufe einerseits und den Wertorientierungen der Menschen andererseits wirft die in individueller wie gesellschaftlicher Perspektive wichtige Frage auf, welche der bislang gültigen Werte auch zukünftig tragfähig sein können und inwieweit eine Neuorientierung erfolgen muss. Halten wir einen Moment inne: Auch wenn der Wandel das einzige Stabile zu sein scheint, muss der Blick doch auch auf einige Momente der Kontinuität gerichtet werden. So erfahren etwa klassische Formen der Industriearbeit eine Renaissance -man spricht schon länger von einer »Re-Taylorisierung« der Produktion. Und längst nicht jeder Beschäftigte arbeitet unter den Bedingungen qualifizierter Gruppenarbeit oder ist ein Freelancer. Insgesamt muss aktuell wohl von einer Übergangsperiode gesprochen werden, in der sich Richtung und Reichweite des Wandels nicht zweifelsfrei bestimmen lassen. Diese Umbruchsituation mit ihrer Differenziertheit und Ungleichzeitigkeit stellt gerade auch die Gewerkschaften vor neue Herausforderungen. Sie geht mit einer gewissen Verunsicherung der Organisationen, ihrer Funktionäre und Mitglieder einher: Wo liegen die Chancen und Risiken dieser Entwicklung? Welche der bisherigen Strategien und Konzepte taugen noch für die wirkungsvolle Vertretung der Interessen der Beschäftigten? Welche neuen Strategien und Konzepte sind entwickelt worden bzw. in welche Richtung müsste eine Entwicklung vorangetrieben werden? Welche Mobilisierungsstrategien sind zukunftstauglich? Usw. Die Antworten fallen unterschiedlich aus und sind Elemente weitreichender politischer Kontroversen innerhalb der Gewerkschaften. Dabei geht es u.a. um die Fragen, inwieweit Einlassen auf Konkurrenz- und Marktmechanismen oder Alternativkonzepte hierzu angebracht sind, in welcher Weise die gewerkschaftliche Schutz- und die Gestaltungsfunktion zu einander ins Verhältnis gesetzt werden sollen, oder welche Beschäftigtengruppen mit welchen Strategien angesprochen und mobilisiert werden sollen. Oder darum, inwieweit kollektivrechtliche Regelungen erforderlich sind und wie viel Kompetenz und Verantwortung für die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse bei den einzelnen Beschäftigten angesiedelt werden kann bzw. muss - und was das für tarifliche und betriebliche Regelungen bedeutet. Natürlich ist gerade unter solchen Bedingungen auch die gewerkschaftliche Bildungsarbeit gefragt. In der täglichen Seminararbeit müssen die aktuellen Veränderungsprozesse analysiert und Schlussfolgerungen für die eigene Arbeit debattiert werden. Dieser Herausforderung für die Bildungsarbeiterinnen und Bildungsarbeiter haben wir uns auch im Rahmen einer Tagung des IG Metall Bildungszentrums Sprockhövel gestellt. Unter dem etwas sperrigen Titel »Reorganisationskonzepte, Arbeitszeitgestaltung und Lohn-Leistungsregulation« sollten Kernfragen der betrieblichen und tariflichen Gestaltung der Kapital-Arbeit-Beziehungen angesprochen werden. Gemeinsam mit WissenschaftlerInnen und BildungsarbeiterInnen sollten die wesentlichen Trends herausgearbeitet und Politikkonzepte diskutiert werden. Die Beiträge in diesem Buch basieren auf Referaten bzw. Statements, die während der Tagung vorgetragen und später ausgearbeitet wurden. Sie bieten eine Annäherung an die Themen aus unterschiedlichen Perspektiven und sind Ausdruck eines eigenen Such- und Arbeitsprozesses. Wir stehen damit am Anfang und nicht am Ende einer Debatte. Aus diesem Grund haben wir uns auch für eine Veröffentlichung entschieden. Sie soll über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinaus Gelegenheit zur Kontroverse geben und ist damit für uns auch Teil der Zukunftsdebatte der IG Metall. Über kritische Anmerkungen und Diskussionsbeiträge zu den veröffentlichten Texten würden wir uns freuen. Unser Dank gilt nicht nur den Referentinnen und Referenten, die in diesem Band ihre Texte veröffentlichen, sondern gerade auch allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die zum kritischen Dialog beigetragen haben. Sprockhövel, im April 2001Christoph Ehlscheid / Horst Mathes / Manfred Scherbaum
Leseprobe 2
Brigitte Kurzer / Petra Wolfram / Horst Mathes
Was müssen KollegInnen heute wissen und können, um sich in Betrieb und Gesellschaft zurechtzufinden?
Die Bildungsarbeit der IG Metall war und ist immer bestimmten Leitbildern verpflichtet: Solidarität statt Konkurrenz, Strategiebildung für Gegenmacht- und Gestaltungsfähigkeit als Handlungsorientierung sind beabsichtigte Ziele jedweder Bildungsanstrengungen. Damit platziert sie sich gegen einen gesellschaftlichen Zeitgeist, der die Individualisierung sozialer Risiken und »Ellenbogendenken« als moderne Leitbilder propagiert.
Aber die Geschichte der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit ist auch geprägt von kontroversen Debatten darüber, welche Ziele und Inhalte historisch angemessen sind und wie diese didaktisch umgesetzt werden müssten. In den 70er Jahren galt es »an den Erfahrungen der Teilnehmer anzusetzen«, in den 80er Jahren sollten »die Wirklichkeiten der TeilnehmerInnen zum Seminargegenstand gemacht werden«, und in den 90er Jahren streiten viele über so genannte »Schlüsselkompetenzen«, die es zu vermitteln gelte. Doch es gab damals wie heute nicht nur die genannten Auffassungen, sondern auch immer Gegenlinien und andere Positionierungen.
Der folgende Beitrag soll klären helfen, welche konkreten Handlungsprobleme der Teilnehmenden heute zum Gegenstand von gewerkschaftlichen Bildungsangeboten gemacht werden sollten, welche inhaltlichen Schwerpunkte sich in Gewerkschaftsseminaren wiederfinden, und welche Konsequenzen sich daraus für eine entsprechende Angebotsstruktur ergeben.
Den Wandel reflektieren ...
Die Menschen in Betrieben und Verwaltungen erleben eine Zeit vielfältiger und tiefgreifender Veränderungen. Japanische und englische Begriffe kursieren wie selbstverständlich: über Kaizen, lean production, shareholder-value, benchmarking, just in time usw. wird nicht nur in den Kantinen der Großbetriebe diskutiert, auch die Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben erfahren zum Teil tiefgreifende organisatorische Umstrukturierungsprozesse. Neue Arbeitsorganisationsmodelle (Gruppen- oder Teamarbeit) und Personalführungskonzepte mit Methoden indirekter Steuerung stellen die Beschäftigten vor veränderte qualifikatorische und soziale Anforderungen. Aber nicht nur die neuen Management- und Produktionskonzepte sind Teil einer grundlegenden Zäsur, die einzelne Menschen und Organisationen zu einer Neubestimmung ihrer sozialen Strategien zwingt. Die gesamte soziale Struktur der Gesellschaft ist in Bewegung geraten. Ein wesentlicher Ausdruck bzw. Teil dieses Wandels ist die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. So nimmt die Zahl »bunter« Beschäftigungsverhältnisse deutlich zu: mehr Teilzeitarbeit, mehr geringfügig Beschäftigte, mehr befristete Jobs usw. Doch neben den Vorboten des Wandels gibt es auch Elemente der Kontinuität. Längst nicht in jedem Betrieb wird unter den Bedingungen neuer Konzepte gearbeitet. Diese Ungleichzeitigkeiten kennzeichnen sicherlich eine Übergangsperiode.
Wie selbstverständlich diskutieren die Beschäftigten über Marktchancen des Betriebes ebenso wie über die ihrer eigenen Arbeitskraft angesichts der nationalen und internationalen Konkurrenzsituation. Sie beurteilen dabei Managemententscheidungen ebenso wie Börsenentwicklungen. Angetrieben werden sie dazu oftmals nicht aus einem abstrakten Erkenntnisinteresse. Vielmehr lässt die Sorge, den von außen gestellten Anforderungen nicht mehr gerecht zu werden sowie die spürbare Flexibilisierung der Lebensverhältnisse häufig eine Sehnsucht nach Durchdringung, Erklärung und Selbsterkenntnis entstehen. Das »Nicht-mehr Abschalten-können« angesichts immer mehr verdichteter und entgrenzter Arbeitszeiten lässt Resignation und Kapitulation vor den Verhältnissen, aber ebenso auch einen Wunsch nach Auswegen, Freiräumen und Alternativen sowie nach Aufklärung und Orientierung entstehen.
Die gewerkschaftliche Bildungsarbeit muss die Fragen der KollegInnen aufgreifen: Was ist mit all diesen Einschätzungen gemeint? Was bedeuten diese neuen Worte? Welche alten oder neuen Ausbeutungspotenziale verbergen sich dahinter? Reden wir eigentlich über gleiche Phänomene und Entwicklungen - was ist davon überbetrieblich vergleichbar? Welche Erpressungspotenziale verbergen sich dahinter? Und schließlich: Was heißt das alles für eine offensive gewerkschaftliche Interessenpolitik?
Dazu ist es nötig, den Schleier, der sich über all diese Begriffe legt, zu lüften. Die betriebswirtschaftlichen Sachzwänge, die vermeintlich oder tatsächlich die persönlichen Lebenslagen sowie eine offensive gewerkschaftliche Betriebspolitik beeinflussen, müssen auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht werden. Nur so können ideologische Mythen von konkreten Anforderungen unterschieden werden.
Das neue Gesicht des Kapitalismus gilt es gemeinsam zu diskutieren und neue sowie alte Anforderungen an gewerkschaftliche Gegenwehr- und Gestaltungsfähigkeit zu beraten. Wenn es stimmt, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist, müssen wir als GewerkschafterInnen mit Gestaltungs- und Veränderungszielen die objektiven Verhältnisse gemeinsam analysieren und gesellschaftspolitische Ansprüche in den Vergleich mit den betriebswirtschaftlichen Rentabilitätsinteressen stellen. Gemeinsam müssen wir uns damit auseinander setzen, was für uns ein »gutes Leben« ist. Wir müssen über unsere Kräfte reden und darüber, welche Grenzen der Verausgabung einzuziehen wären. Ziel- und Leistungsvorgaben müssen in den Kontext zu persönlicher Erschöpfung und Selbstbestimmungsinteressen gestellt werden.
Doch: dies braucht Zeit zum Lesen, Begreifen und Ausleuchten der verschiedenen Entwicklungstrends. Dies alles braucht einen Blick auf das Verallgemeinerbare von eigenen Erfahrungen. Bildungsarbeit ist dazu eine Gelegenheit.
Die Konsequenzen betrieblicher und gesellschaftlicher Umbrüche entfalten
Das Bewusstsein und die Erfahrungen der Menschen sind geprägt durch die 16jährige neoliberale Kohl-Regierung mit ihrer »geistig-moralischen Wende« und dem sozialstaatlichen Umbau in einen »deregulierten Wettbewerbsstaat« sowie durch das »Ende der Systemkonkurrenz« und damit dem Verlust einer Alternative zum kapitalistischen Wachstumsmodell. Häufig ist der Veränderungsoptimismus vergangener Zeiten einem Gefühl von Defensive, Fatalismus und/oder Pragmatismus - auch bei haupt- und ehrenamtlichen gewerkschaftlichen Funktionären - gewichen. Denn die veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wurden und werden seither auch betrieblich in Form von neoliberalen Unternehmensstrategien als Ohnmachtserfahrung erlebt. Dennoch spüren wir auch Wut über die nichterfüllten Versprechungen der Vergangenheit sowie über die Dreistigkeit der Herrschenden und Regierenden. Hieraus speisen sich die Erwartungen all der Gewerkschaftsmitglieder, die für eine Politisierung ihrer Organisation plädieren.
Fakt bleibt, dass wir in zentralen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungsfeldern einen Erosionsprozess erleben: Arbeitszeitsysteme brechen auseinander, Tarifpolitik wird zunehmend verbetrieblicht, einher mit veränderter Arbeitsorganisation ergeben sich neue Schwierigkeiten der Lohn-Leistungsregulation, Betriebsaufspaltungen verändern Betriebsstrukturen und Interessenvertretungen, Normalarbeitsverträge sind für immer mehr Menschen nicht mehr Realität.
Sicherlich müssen die alten Verteilungsauseinandersetzungen weiterhin auf der gewerkschaftlichen Tagesordnung bleiben, denn nach wie vor leben wir in einer Klassengesellschaft, die von einer ungleichen Verteilung von Geld, Chancen, Risiken, Qualifikation, Zeitwohlstand und Gesundheit gekennzeichnet ist. Zugleich müssen jedoch in der Bildungsarbeit die Ausdifferenzierungen bei den betrieblichen und sozialen Wirklichkeiten der Teilnehmenden erhoben werden.
Unterschiedliche Wirklichkeiten wahrnehmen - Verallgemeinerbares sichtbar machen - Handlungsmöglichkeiten erweitern
Hinter den verschiedenen unternehmerischen Reorganisationsbemühungen verbirgt sich ein zentrales Leitmotiv: So geht es bei allem um eine Verbetrieblichung der sozialen Konflikte, also um den Vorrang einzelbetrieblicher vor überbetrieblicher Regulierungen sowie um die Durchsetzung von Marktprinzipien bis herunter zum einzelnen Arbeitsplatz mit dem Ziel der Steigerung der Rentabilität. Am Ende eines solchen Prozesses steht ein Verlust von gewerkschaftlicher Deutungs- und Gestaltungsmacht, wenn unsere gesellschaftspolitischen Ansprüche nicht formuliert, von den Mitgliedern getragen und durchgesetzt werden. Martin Kannegießer hat diese strategische Orientierung des Kapitals auf den Punkt gebracht: Es gelte, die absolute Orientierung auf den Kunden und den Druck der Finanzmärkte »herunterzubrechen auf den einzelnen Mitarbeiter«; das sei das »Kunststück, das über das Überleben der Betriebe entscheiden werde« (Nürnberger Nachrichten, 18.11.00).
Die betrieblichen Interessenvertretungen stehen unter einem hohen operativen Druck. Die erhöhte, jedoch nicht neue Mobilität des Kapitals verschafft diesem bei Verhandlungen eine vorteilhafte Position. Die Androhung, Investitionen und Produktionen an andere Standorte zu verlagern, zwingt die Betriebsräte auch mangels Alternativen und unter dem - aus Angst entstandenen - Druck der eigenen Belegschaft, oftmals den Forderungen der Unternehmensleitung zuzustimmen. Nicht selten sind dies Forderungen für einen Ausstieg aus betriebsübergreifenden Regelungen des Flächentarifvertrages. So wird die gewerkschaftliche Vertretungsmacht geschwächt und viele Betriebsräte geraten praktisch in Gegensatz zu ihrer eigenen Organisation.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist: Im Unternehmen sind viele Betriebsräte in mehrfacher Weise mit den Problemen der Segmentierung sowie der Vermarktlichung konfrontiert, bei einer gleichzeitigen Zentralisierung von Macht. Bildung von Profitcentern und die Hereinnahme des Marktes in die Unternehmen fördern - sei es real oder fiktiv - die Konkurrenz untereinander. Dabei wird auf »den ganzen Menschen« gezielt, d.h. das Individuum soll »freiwillig« bereit sein, sich den Leistungsanforderungen »von oben« zu unterziehen. Den Unternehmern ist es vielerorts gelungen, den ansteigenden Wettbewerbsdruck als eine Verhaltensanforderung an die Beschäftigten weiterzuleiten. Die »neuen Produktionskonzepte« und die »neuen Unternehmenskulturen« zielen auf die Kreativitätspotenziale der Beschäftigten und es scheint mehr individueller Freiheitsraum in der Arbeitsgestaltung, eine demokratischere Betriebsstruktur, mehr Autonomie in Arbeitsgruppen möglich zu sein, bei gleichzeitig zunehmender Rentabilität für das Unternehmen.
Mit dieser nicht immer leicht und schnell zu durchschauenden Situation muss auch die betriebliche Interessenvertretung umgehen oder umgehen lernen. Die Stammbelegschaften werden verringert, es gibt eine Zunahme an ungeschützten Arbeitsverhältnissen und damit einen immensen Druck auf unbefristet Beschäftigte und soziale Standards. Es gibt Manager, die für neue Produktionskonzepte offen sind, weil sie darin Potenziale für mehr Effizienz und Kostensenkungen sehen, und es gibt Betriebe, in denen administrative, traditionelle Rationalisierungsstrategien mit dem Ziel, Kostensenkungen und Produktivitätssteigerungen auch gegen massiven Widerstand von Betriebsrat und Belegschaft durchzusetzen, realisiert werden. Es gibt Betriebsräte und Vertrauensleute, die ihre Arbeit an traditionellen gewerkschaftlichen Gegenmachtkonzepten ausrichten, ebenso wie Betriebsräte, die in so genannten »Bündnissen für Arbeit« zum Verzicht auf tariflich gesicherte Regelungen gezwungen sind. Auf beiden Seiten gibt es also Erfolge, aber auch Niederlagen.
Indes, der Begriff »Seiten« ist letztendlich wenig hilfreich und klärend. Es gibt immer konkrete Konfliktsituationen, in denen sich Interessenvertretung und Belegschaft verhalten müssen. Abhängig von der ökonomischen, politischen und sozialen Situation (im Betrieb wie außerhalb) entscheiden sich auch betriebliche Interessenvertretungen mal so und mal so. Frank Deppe prägte den Begriff der »strategischen Beweglichkeit«, die diese Situation für das Denken und Handeln von Betriebsräten als Notwendigkeit hervorbringt. Wichtig erscheint es, dass die betrieblichen InteressenvertreterInnen Gelegenheit haben, das eigene Handlungsrepertoire zu reflektieren und zu erweitern. Spielräume, aber ebenso Haltelinien und Eckpunkte in entscheidenden Angelegenheiten müssen gemeinsam diskutiert werden. Dabei darf die Bildungsarbeit die betriebliche Interessenvertretung nicht alleine lassen.
Zur Situation der Beschäftigten selbst: Weltweit ist der Konkurrenzdruck erheblich gestiegen. Vergleiche zwischen Werken sowohl nach Kosten und Erträgen wie nach technischer Ausstattung, Organisationsstrukturen, Produktivitätskennzahlen und Rationalisierungsmethoden spielen eine entscheidende Rolle - sie erhöhen die Weitergabe des Kostendrucks an die Beschäftigten. Neoliberale Glaubenssätze - etwa die Überlegenheit der Selbstregulierungskräfte des Marktes und die Alternativlosigkeit zum globalen Wettbewerb - werden durch Alltagserfahrungen dem Augenschein nach bestätigt, selbst wenn die Folgen wie Arbeitslosigkeit und Armut zugleich wahrgenommen werden können. Diese Prinzipien finden Eingang ins Bewusstsein vieler KollegInnen und sind somit nicht dem bloßen Einsatz von Ideologien zu verdanken, sondern einer Produktionsweise, die das betriebswirtschaftliche Denken in die industriellen Basisbeziehungen getragen hat.
Immer mehr Beschäftigte, insbesondere bei den produktionsnahen Dienstleistungen, werden unmittelbar in ein System von Kunden-Lieferanten-Beziehungen einbezogen. Die Gegenleistung der Unternehmensseite besteht nicht in steigenden Arbeitseinkommen oder sogar wachsenden Sozialleistungen, sondern allenfalls im angekündigten, befristeten Verzicht auf Betriebsverlagerungen, Stilllegungen oder betriebsbedingte Kündigungen. In der Realität bleibt oft nur ein schwacher Schein von mehr Autonomie. Alle wirklichen Strukturentscheidungen werden an anderen Orten getroffen - oft dort, wo die Auswirkungen der Entscheidung überhaupt nicht mehr sichtbar werden.
Die betrieblichen Standortpakte führen zu einer neuen Qualität von Konkurrenz zwischen den Beschäftigten. Individuen, Arbeitsgruppen und Betriebsteile werden in die Rolle scheinbar selbständiger Wirtschaftssubjekte gezwungen, die ihr angebliches Versagen mit Ausgliederung, Abbau von Fertigungslinien und letztlich mit dem Verlust ihrer Existenz bezahlen. Viele lohnabhängig Beschäftigte sehen die Widersprüche ihrer Existenz immer weniger als Gegensatz zum Kapital, sondern als allseitige Konkurrenzbeziehung, die alle Sphären durchdringt. Kein Unternehmen überlebt am Markt ohne Einbeziehung der Belegschaften in den Standortkrieg, auch keine Belegschaft verteidigt ihre Arbeitsplätze ohne aktives, planerisches Mitwirken an der Verbesserung der Wettbewerbssituation - deshalb geht die Unternehmensstrategie auf.
In der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit erfordert dies Offenheit für ein strategisches Lernen sowie den Blick auf die Komplexität und Vielgestaltigkeit, die unterschiedliche Wirklichkeiten anerkennt. Beharren auf »Wahrheiten« blockiert einen Prozess, der in der Bildungsarbeit auf Kommunikation angelegt sein muss, und der Widersprüche und Spannungsgehalt, die sich aus der Vielfalt sozialer Erfahrungen ergeben, aushalten und thematisieren muss. Bildungsarbeit muss helfen, strukturelle Zusammenhänge zu erkennen und Veränderungsprozesse zu flankieren. Dafür ist die Aneignung von Sachwissen, d.h. von inhaltlicher wie auch von sozialer und politischer Kompetenz vonnöten. Bildungsarbeit ist eine Gelegenheit, die eigenen betrieblichen und gewerkschaftlichen Erfahrungen mit den Praxen anderer Betriebe zu vergleichen und zu reflektieren - also eine Aus-Zeit vom unmittelbaren Handlungsdruck zu nehmen. Es geht dabei um eine Abkehr vom schnellen Übertragen, um eine Schärfung des eigenen Blickes sowie darum, Voraussetzungen für das Entwickeln zukünftiger überbetrieblicher Netzwerke zu schaffen.
Anders als prozessbegleitende einzelbetriebliche Beratungstätigkeit mit unmittelbar betroffenen Handlungskollektiven (nach einem Problem-Lösungs-Schema) kann Bildungsarbeit auf Langsamkeit und Vergleich angelegt sein. Nicht die Einzelregelung für einen Betrieb steht dann als Zielmarke, sondern die Erarbeitung von Transferqualifikationen, die bei der Problemlösung helfen sollen. Eine so verstandene Bildungsarbeit braucht natürlich auch punktuelle Schulungen mit Sachinhalten, aber insbesondere die inhaltliche Balance von Sachinformation und politischer und sozialer Bildung. Zusammen haben wir dann das Bild der Grundlagenbildung.
Und: Die Verbetrieblichung von sozialen Konflikten macht die Bildungsarbeit als Ort der Konfrontation mit IG Metall-Positionen nötiger denn je, um kollektive Klärungsräume für die eigene strategische Beweglichkeit zwischen ökonomischen, politischen und sozialen Zielen zu sichern.
Konkrete Solidaritätsarbeit anstreben - um gemeinsame Einschätzungen ringen
Die o.g. Ausdifferenzierungen und Ungleichzeitigkeiten spiegeln sich in jedem Betrieb selbst wider. Unterschiedlichste Arbeitszeitmodelle und auch Arbeitsverhältnisse existieren nebeneinander und demzufolge auch verschiedene Problem- und Interessenlagen. Aus Teilzeit-, Vollzeit-, Schichtarbeit, Arbeitszeitkonten, Vertrauensgleitzeiten, Fremdfirmeneinsatz, befristeten und unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen usw. ergeben sich jeweils spezifische Betroffenheit und Regelungsprobleme.
Vertrauensleute und Betriebsräte, die sowohl individuelle Ansprüche als auch kollektive »Sicherheitsgurte« realisieren wollen, müssen ihre eigenen Standpunkte reflektieren, sich selbst verorten können, aber sich auch in die Sichtweise anderer Beschäftigtengruppen einfühlen können. Das schließt das Wissen über gesundheits-, sozial- und gesellschaftspolitische Dimensionen des jeweiligen Arbeitnehmerstatus ein. Betriebliche InteressenvertreterInnen benötigen Klärungen bzgl. individueller, betrieblicher, überbetrieblicher Regulierungsbedarfe und -möglichkeiten, um eine alltägliche Widerständigkeit und Gestaltungsfähigkeit zu verwirklichen. Dazu gehört auch die Klarheit: Wo kann ich selbst beeinflussen und wo nicht, wo brauche ich eine Gruppe und wo Bündnisse von Gruppen?
Im Betrieb soll die Vertrauensleutearbeit ein kommunikativer gewerkschaftspolitischer Prozess zwischen unterschiedlichen Interessen- und Beschäftigtengruppen sein. Voraussetzung dafür ist sicherlich Selbstbewusstsein und Selbstvergewisserung. Bildungsarbeit ist eine Gelegenheit der Begegnung von Beschäftigten mit »Normalarbeitsverträgen«, subaltern Beschäftigten, von Gewerkschaftsmitgliedern mit unterschiedlichsten Funktionen und Anliegen. So ist sie zugleich eine konkrete Solidaritätsarbeit, da es neben der Beratung von vorhandenen Interessenunterschieden auch um das Ringen für gemeinsame Einschätzungen geht.
Der wachsenden politisch-ideologischen Verunsicherung begegnen
Innerhalb der gewerkschaftlichen Apparate gibt es eine deutliche Tendenz, die Angebote des Wettbewerbskorporatismus zu akzeptieren. Gespeist wird diese Akzeptanz aus unterschiedlichen Motiven. Es gibt Menschen mit einer Bewunderung für oder Sehnsucht nach dem notwendigen Pragmatismus von Betriebsräten.
Andere sehen die Chance einer Aufwertung der Gewerkschaften in Verhandlungssystemen wie im politischen System insgesamt - allerdings bei fortschreitender Erosion der Machtressourcen der Gewerkschaften. Andere wiederum verbinden damit soziale Karriereinteressen, und schließlich gibt es auch Verunsicherte und Unzufriedene.
Jüngste Resultate dieser Tendenz sind das Verhalten der gewerkschaftlichen Apparate zur Rentenreform, bei der die Aufgabe des Prinzips der paritätischen Finanzierung hingenommen wurde, das Teilzeit- und Befristungsgesetz, wo es keine Mobilisierung für ein ersatzloses Auslaufen des Beschäftigungsförderungsgesetzes gegeben hat, und die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes, die wesentlich auf die Lobbyarbeit hinein in die parlamentarischen Einrichtungen gesetzt hat. Von seiten der Regierung wurden Vorschlagsrechte mit Mitbestimmungsrechten »verwechselt« und wissentlich wurde nicht mobilisiert für mehr Demokratie, für mehr Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Dieses Verhalten hat Irritation, Ohnmacht, Resignation, Orientierungslosigkeit bei den Mitgliedern und bei Funktionär/innen ausgelöst, die auf eine wirkungsvolle Mobilisierung setzten.
Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist ein wichtiger Raum, in dem die Konfrontation mit eigenem Erlebtem, der eigenen Deutung und den Fragen zu IG Metall-Positionen und IG Metall-Verhalten stattfinden kann.
»Wollen wir eine Sozialstaatspolitik, die aus Wettbewerbsgründen die Wirtschaft aus der Finanzierung gesellschaftspolitischer Solidarität entlässt?«
»Wollen wir eine Gewerkschaftspolitik, die von konkreten Mitgliederinteressen abstrahiert und die Erwartungen der Mitglieder auf eine aktive, umverteilungsorientierte Tarifpolitik umdefiniert, um dafür organisationspolitische Überlebenszusagen zu bekommen?«
»Wollen wir Gewerkschaften, die sich bündnistauglich machen in einem Politikmodell, in dem in zentralen Bündnisrunden Entscheidungen getroffen werden, die nun der eigenen Organisation erfolgreich verkauft werden müssen?«
Dies sind Fragen, die Hans-Jürgen Urban formuliert hat. Oft einfacher werden sie auch von den KollegInnen in den Seminaren formuliert. Dies hat oft nur noch in der Bildungsarbeit Platz, jenseits des unmittelbaren Handlungsdrucks und ohne die sonst vertrauten Macht- und Hierarchiekämpfe.
Dem Strukturverlust in der IG Metall mit eigenen Ansprüchen und Engagement entgegenwirken.
»Seit Jahren gibt es einen eigenartigen Widerspruch: Die gleichen Betriebsfunktionäre, die auf Gewerkschaftstagen kraftvolle Resolutionen über den Interessengegensatz von Kapital und Arbeit beschließen und den Neoliberalismus verdammen, sind in ihrer alltäglichen Praxis damit beschäftigt, zum Zwecke der Standorterhaltung die Lohnkosten ›ihres‹ Betriebes zu senken oder zur Vermeidung betriebsbedingter Kündigungen eigene Vorschläge zum Abbau der Arbeitsplätze auszuarbeiten. Die Verinnerlichung des Standortwettbewerbs geht weit über den Überlebenskampf der Belegschaften hinaus und verändert auch das Denken der Apparate« (Werner 2000).
Vielerorts gehen die »Resonanzräume« verloren, die einen offenen Diskurs ermöglichen. Die Gründe sind vielschichtig. Dies hat einerseits mit der nicht geführten Debatte um den oben beschriebenen Widerspruch zu tun, und dass in den vorhandenen örtlichen Strukturen nicht lebhaft um Positionen gerungen, gestritten und diskutiert wird. Ursachen dafür kann der fehlende Wille oder unzureichendes Engagement dafür sein. Manchmal ist es auch die fehlende Kraft oder der Blick dafür »verloren gegangen«.
Andererseits sind neue Formen einer ausschuss- und arbeitskreisübergreifenden Zusammenarbeit mehrheitlich nicht weit entwickelt, denn Organisationen tragen in sich auch das Problem, strukturkonservativ zu sein, um Machterhalt (geknüpft an Personen) und Hierarchien (geknüpft an den Einfluss der unterschiedlichen Organisationsebenen selbst) nicht zu gefährden. Selbst diejenigen, die sich im Betrieb/Unternehmen und in der Organisation als »modern« empfinden, sind nach innen oftmals mit dem eigenen Machterhalt befasst.
Und schließlich liegen die Gründe dafür auch nicht nur in den gewerkschaftlichen Arbeitsstrukturen, sondern gerade im sozialen Wandel selbst. Wenn Lebensführung, Erwerbsbiographien, Arbeits- und Lebenszusammenhänge ausdifferenzieren, wird es zunehmend schwieriger, gemeinsame Plattformen für den Diskurs zu finden. Dieser Situation muss sich die IG Metall stellen und dafür »Räume des Austausches« schaffen, die nicht ausschließlich dem operativen Druck des »Tagesgeschäfts vor Ort« unterliegen. Eine der Schlüsselaufgaben gewerkschaftlicher Bildungsarbeit liegt darin, solche »Räume« zur Verfügung zu stellen.
Wir brauchen eine kritische Neuvermessung der Beziehung zwischen Betriebsrat und Gewerkschaften. Die Verselbständigung der Betriebsratstätigkeit gegenüber gewerkschaftlichen Grundpositionen wird die gewerkschaftliche Interessenvertretung ebenso schwächen wie der Versuch, gegen die Interessen von Belegschaftsmehrheiten und Betriebsräten gewerkschaftliche Grundsatzpositionen in jedem Einzelfalle auch durchzusetzen. Die Verbetriebsrätlichung der Gewerkschaften (eine lange Geschichte) schwächte und schwächt die betriebliche und die gewerkschaftliche Interessenvertretung gleichermaßen.
Tageskämpfe müssen in Übereinstimmung mit gewerkschaftlichen Zielvorstellungen geführt werden. Nicht immer müssen sogleich diskutierte gewerkschaftliche Ziele unter einen Veränderungsdruck gebracht werden, wenn die strukturellen Machtverhältnisse ihrer Verwirklichung entgegenstehen. Vielmehr brauchen wir Debatten um »Haltelinien« in der Betriebs- und Tarifpolitik. Selbst wenn diese in der Praxis nicht gehalten werden können, sind sie nicht unbedingt falsch, sondern zeigen vielmehr die Regulierungsgrenzen unserer tariflichen und arbeitsrechtlichen Möglichkeiten.
Dies erfordert eine Debatte über die Frage, was die Gewerkschaften unter »sozialer Demokratie«, »Wirtschaftsdemokratie« und unter »sozialen Bürgerrechten« verstehen. Des weiteren benötigt dies auch eine Neubestimmung der Verhältnisse der verschiedenen Ebenen der Gewerkschaftspolitik zueinander. Betriebliche Interessenvertretung, Tarifpolitik und gesamtpolitische Interventionen müssen übereinstimmen.
Es ist existenzielle Aufgabe von Gewerkschaften, die dafür notwendigen Lernprozesse zu organisieren. Die Bildungsarbeit ist ein Bestandteil in so einem Lernprozess. Sie ist Zeit für gedankliches Begreifen, der Ort für Kommunikation, um über unterschiedliche Deutungsmuster zu sprechen, um die eigene Praxis auf gemeinsame Erfahrungen abzuprüfen. Es ist der Ort, wo für Werte wie Solidarität und soziale Gerechtigkeit gerungen werden kann. Die Sehnsucht vieler Menschen braucht konkrete Ziele, die sich in der betrieblichen Interessenpolitik, der Tarifpolitik betriebsübergreifend und in gesellschaftspolitischen Positionen widerspiegeln müssen.
Zugleich sollte die gewerkschaftliche Bildungsarbeit operative Fragen innerhalb einzelner Problemfelder klären helfen und mit größeren Zusammenhängen verbinden. So kann die individuelle Steuerungskompetenz erhöht und »strategische Beweglichkeit« in Einzelsituationen erlangt werden.
Überlegungen für eine zukünftige Angebotsstruktur
Alle oben beschriebenen Lernziele und Inhalte brauchen eine entsprechende Angebotsstruktur. Dazu sollen im folgenden einige Überlegungen skizziert werden.
Für die Herausbildung und Weiterentwicklung einer wirkungsmächtigen Kooperationsbeziehung zwischen Betriebsratsmitgliedern und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten brauchen wir eine konstruktive Verknüpfung von grundlagenbildenden und fachspezifischen Seminarinhalten. Es ist sinnvoll und notwendig, dass z.B. Vertrauensfrauen und -männer mit tarifpolitischer Qualifikation in ihren Wirkungsbereichen aktiv werden können und Betriebsräte sowohl betriebswirtschaftliche Denkweisen als auch volkswirtschaftliche Dimensionen ihrer Handlungsprobleme ausleuchten.
Statt dem Druck der konkreten Verhältnisse ein segmentiertes, fachspezifisch orientiertes Seminarangebot entgegenzustellen, sollten wir vielmehr an den Schnittstellen von betriebsrätlichen Aufgaben und gewerkschaftspolitischen Funktionen neue bzw. zusätzliche Bildungsangebote platzieren. Insbesondere in den Themenspektren Lohn-Leistungs-Regulierung, Arbeitszeitpolitik, Gesundheitspolitik, Umweltschutz, Sozialpolitik und der Verknüpfung von Mikro- und Makroökonomie sehen wir Handlungsbedarfe. Aktuell finden sich solche Angebote bereits im Seminarangebot des Bildungszentrums Sprockhövel, weitere werden konzeptionell durchdacht.
Zugleich weist der Anspruch nach einer Politisierung unserer Bildungsarbeit auf einen Reflexionsbedarf der bestehenden Seminarangebote hin. Wir arbeiten daran, die so genannten Fachseminare politischer und grundlagenbildenden Seminarangebote fachlicher zu gestalten. Für die Fachbildung heißt dies, die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge stärker mit zu betrachten, wie z.B. sozial- und gesundheitspolitische Auswirkungen und die Entwicklung von Beschäftigtenverhältnissen insgesamt. Für die politisch grundlagenbildenden Seminare gelte es, z.B. die Entwicklung tarifpolitischer Kompetenz vor Ort zu entwickeln und Gesundheitsschutz aktiv voran zu treiben, um im Betrieb Tarif-, Sozial- und Betriebspolitik miteinander zu verzahnen. An solchen Weiterbildungsangeboten arbeiten wir. Die Tagung, die wir mit dieser Veröffentlichung dokumentieren, ist ein Bestandteil dieser Arbeit.
Weiter gilt es, Synergieeffekte zu nutzen, d.h. Schnittstellen der einzelnen Handlungsfelder zu bearbeiten für eine umfassende und auf Zusammenhänge ausgerichtete Kompetenz. Solche Seminarkonzepte gibt es bereits. Das Seminar »Arbeit(en) ohne Ende« nutzt z.B. die Kompetenzen aus der Tarifpolitik und dem Gesundheitsschutz, um bei psychischen Belastungen infolge von Termin-, Leistungs- und Zeitdruck handlungsfähiger zu werden. Im Seminar »Betriebsratsarbeit, Tarifpolitik, Standortkonkurrenz« thematisieren wir das Dilemma von Regulierungsgrenzen und beabsichtigter unternehmerischer Dumpingpolitik. Dabei nutzen wir das Wissen zu den gesetzlichen, tariflichen und politischen Handlungsspielräumen. Das Seminar »Manifest für ein soziales Europa« will Aspekte der europäischen Beschäftigungspolitik mit den unmittelbaren nationalen und betrieblichen Zukunftsfragen in einen Zusammenhang bringen. Wir halten eine Weiterentwicklung so genannter »Schnittstellenseminare« für erstrebenswert. Des weiteren arbeiten wir an einem Seminarangebot, in dem allgemeine sozialpolitische Entwicklungen mit betrieblicher Sozialpolitik verbunden werden.
Darüber hinaus reflektieren wir, wie unsere Seminarangebote »Kampagnen« der Organisation (wie z.B. die Zukunftsdebatte, fair teilen, Arbeiten ohne Ende usw.) politisch begleiten.
Insgesamt müßte eine solche Betrachtung in ReferentInnen-Arbeitskreisen und in den Bildungsstätten angestrengt werden. Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Überlegungen wollen keine Vereinheitlichung sämtlicher Angebote, denn klar bleibt immer auch, dass eine spezifische Qualifikation der Handelnden nötig ist. Wir streben vielmehr eine inhaltliche Auseinandersetzung darüber an, was denn nun ein Betriebsratsmitglied, ein Vertrauensmann und eine Vertrauensfrau wissen und können muss, um sich zurecht zu finden. Davon ausgehend gelte es »Bildungspakete« für die jeweils spezifischen Qualifikationsprofile zu schnüren - ohne dass wir unseren Anspruch der »Massenbildung« aufgeben müssen.
Für unverzichtbar halten wir ein zentrales Bildungsangebot. Eine ausschließlich regional oder betrieblich orientierte Bildungsarbeit verkennt die Chancen des überbetrieblichen und überregionalen Vergleichs in Seminaren. Hier können Regulierungsgrenzen, die in Betrieben, Verwaltungsstellen, Bezirken, Abteilungen der Vorstandsverwaltung und beim Vorstand selbst erlebt werden, untereinander diskutiert werden. Die zentrale Bildungsarbeit ist ein Ort des Erfahrungsaustausches, der Transparenz und der Analyse. Damit trägt sie zur Weiterentwicklung von Tarifverträgen bei, klärt Umsetzungsnotwendigkeiten zur Arbeitsschutzgesetzgebung und erhöht die Wirkungsmacht des Betriebsverfassungsgesetzes.
Darüber hinaus gelte es mit Bildungsarbeit die Gestaltungskraft der Verwaltungsstellen zu unterstützen. Tages- und Wochenendseminare müssen hier die Debatten um »Haltelinien« anzetteln. Nicht immer ist es hilfreich, diese Aufgabe an die zentrale Bildungsarbeit »weiterzureichen«. Vielmehr gelte es, die »Tagesthemen« zu unterstützen, Projekte zu begleiten. Die Auseinandersetzungen um ein Entgeltrahmenabkommen ist hierfür sicherlich ein gutes Beispiel.
Soweit unsere Skizze für eine zukunftsfähige Weiterentwicklung der Angebotsstruktur von gewerkschaftlicher Bildungsarbeit. Konturen sind sicherlich sichtbar, weitere Konkretisierungen sollten u.E. in einem gemeinsamen Diskussionsprozess erarbeitet werden.
Literatur
Deppe, Frank (2000): Sozialpartnerschaft ohne Alternative? In U. Klitzke u.a. (Hrsg.), Vom Klassenkampf zum Co-Management?, Hamburg.
Urban, Hans-Jürgen (2000): Das Drehbuch zum »Bündnis für Arbeit« oder: Welche Rolle Gewerkschaften spielen müssen, um bündnisfähig zu sein. In: ders. (Hrsg.), Beschäftigungsbündnis oder Standortpakt? Das »Bündnis für Arbeit« auf dem Prüfstand, Hamburg.
Werner, Harald (2000): Die Bewusstseinsform des Wettbewerbskorporatismus, in: Z -Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 41.
Leseprobe 3
Inhalt:
Vorwort
Roland Springer
Flexible Standardisierung
Innovation für Arbeit, Arbeitswissenschaft und Arbeitspolitik
Klaus Dörre
Das Pendel schwingt zurück
Arbeit und Arbeitspolitik im flexiblen Kapitalismus
Andrea Fergen / Manfred Scherbaum
Entwicklungen, Probleme und Herausforderungen gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik
Steffen Lehndorff
Arbeitszeitpolitik braucht neue Leitbilder
Christoph Ehlscheid
Formen der Entgeltgestaltung und Leistungsregulation im Umbruch
Wolfgang Menz / Tilla Siegel
Markt statt Normalleistung
Denkmuster der Leistungs(lohn)politik im Wandel
Armin Schild
Von der Standortsicherung zur »guten Arbeit«
Fünf Anmerkungen zur Tarifpolitik der IG Metall
Brigitte Kurzer / Petra Wolfram / Horst Mathes
Was müssen KollegInnen heute wissen und können, um sich in Betrieb und Gesellschaft zurechtzufinden?
Autorenreferenz
Klaus Dörre ist Direktor des Forschungsinstituts für Arbeiterbildung an der Ruhr-Universität Bochum in Recklinghausen. Christoph Ehlscheid ist Gewerkschaftssekretär im IG Metall Bildungszentrum Sprockhövel. Andrea Fergen ist Gewerkschaftssekretärin im IG Metall Bildungszentrum Sprockhövel. Brigitte Kurzer ist Gewerkschaftssekretärin im IG Metall Bildungszentrum Spröckhövel. Steffen Lehndorff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen. Horst Mathes ist Schulleiter im IG Metall Bildungszentrum Sprockhövel. Wolfgang Menz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt a.M. Manfred Scherbaum ist Gewerkschaftssekretär im IG Metall Bildungszentrum Sprockhövel. Armin Schild ist Gewerkschaftssekretär beim Vorstand der IG Metall, Abteilung Tarifpolitik. Tilla Siegel ist Hochschullehrerin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse. Roland Springer ist Geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Innovation und Management und Privatdozent an der Universität Tübingen. Petra Wolfram ist Gewerkschaftssekretärin im IG Metall Bildungszentrum Sprockhövel.