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am 24. Dezember, alle wissen es, werden Geschenke erwartet. Viele Freundinnen und Freunde des Verlages warten deshalb schon ungeduldig auf die Geschenktipps des VSA: Teams. Hier sind sie, diesmal entgegen der alfabetischen Reihenfolge. Sollte eure und Ihre Wahl auf ein VSA: Buch fallen, kann dieses bei der Lieblingsbuchhandlung (Support your local dealer!) oder bei uns direkt bestellt werden. Bestellungen, die uns bis zum 16. Dezember erreichen, verschicken wir noch rechtzeitig zum Heiligabend. Angenehme Feiertage aus Hamburg! |  | Als kritischer Zeitgenosse verfolgt man mit Unbehagen, was die herrschenden Eliten sich so alles ausdenken – zum Beispiel im Programm der Großen Koalition. Spontan fällt mir dazu der Satz ein: »Sind die denn mit Blindheit geschlagen?«, weil viele gesellschaftliche Grundprobleme, etwa die Altersarmut, gar nicht zum Thema gemacht werden. Blindheit ist auch das Thema des 1995 erschienenen Romans von José Saramago, den ich erst vor kurzem gelesen habe: Die Stadt der Blinden. Fesselnd beschreibt der inzwischen verstorbene portugiesische Kommunist und Literatur-Nobelpreisträger, wie die Bewohner einer Stadt nach und nach erblinden. Die Elite reagiert mit Willkür und Gewaltherrschaft, indem sie die Erblindeten isoliert und in ein Lager steckt. Das Gemeinwesen droht in Anarchie und Gewalt zu versinken. Auch unter den Erblindeten setzen sich im Kampf ums Überleben Egoismus und Rücksichtslosigkeit durch – außer in einer kleinen Gruppe von Menschen, die gemeinsam versuchen, die unerträgliche Situation durchzustehen. Diese Solidarität gibt Hoffnung für die Zukunft.
Gegen die hierzulande oft anzutreffende Blindheit bzw. Ignoranz gegenüber den Problemen in unseren europäischen Nachbarländern richtet sich das vom Institut Solidarische Moderne herausgegebene VSA: Buch Solidarisches EUropa. Die Europäische Union hat eine lange Phase der Neoliberalisierung durchlaufen, über die gern hinweggesehen wird. Insofern steht Europa nicht mehr nur an einem Scheideweg, der falsche Weg wurde bereits eingeschlagen und auf ihm wird weiter fortgeschritten. Für notwendig halten die AutorInnen daher eine vollständige Umkehr. Im Zentrum ihrer mosaiklinken Perspektiven stehen eine alternative Politische Ökonomie und eine demokratische Erneuerung, die nicht an den Grenzen Europas haltmachen. |  | Theodor W. Adorno fasste 1968 seine Amerika-Erfahrung in einen zeitdiagnostischen Hinweis: »Innerhalb der Gesamtentwicklung der bürgerlichen Welt haben fraglos die Vereinigten Staaten ein Extrem erreicht. Sie zeigen den Kapitalismus gleichsam in vollkommener Reinheit ... so bietet für einen Menschen, der weder in bezug auf Amerika noch auf Europa naiv sich verhält, Amerika die fortgeschrittenste Beobachtungsposition.« Auch ein früher Mitbegründer der Soziologie in Deutschland, Max Weber, versuchte sich an dieser Beobachtungsposition – auf seiner Amerikareise gemeinsam mit seiner Frau Marianne im Jahre 1904. Wer lesend mitreisen und so die Entstehung von Webers »protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« nachvollziehen will, greife zu Lawrence A. Scaff: Max Weber in Amerika. Dann erschließt sich auch die politische Brisanz von Webers Amerikareise: Er sieht die Überlegenheit der damaligen US-amerikanischen Zivilgesellschaft im Unterschied zur Bourgeoisie in seiner Heimat, die gegenüber einer junkerlichen Agrarklasse und wilhelminischem Militäradel immer noch subaltern bleibt – eine Klassenkonstellation, die Deutschland 1914 in den Krieg führt.
Aber wer glaubt, diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts erklärten einem die »Schlafwandler-Geschichten« eines Christopher Clark, der irrt. Clarks Buch hat große Leerstellen, unter anderem die Rolle der deutschen Sozialdemokratie. Nicht nur diese schließt Heiner Karuscheit im VSA: Buch Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zu Krieg. Wer den gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund von Webers Unbehagen an der zurückgebliebenen Modernität des wilhelminischen Deutschland besser verstehen will, der greife zu dieser Untersuchung des deutschen Wegs in den Krieg 1914. Sie verdeutlicht ebenso den Beginn einer Wechselbeziehung zwischen der Etablierung der bürgerlichen Herrschaft und dem bisherigen Scheitern des Sozialismus in Deutschland. |  | Von Vincent Klinks neuem Buch »Voll ins Gemüse« gibt es bisher nur den Umschlag, aber es kann schon vorbestellt werden (ich bin gespannt, wie es dem kochenden, jazzenden und schreibenden Patron der Wielandshöhe gelingt, die 2011 noch eher bespöttelten Rohköstler mit 100 essentiellen Rezepten und Storys ins Gemüse zu holen). Deshalb in diesem Jahr etwas Musikalisches: Obwohl eher zur Rolling-Stones-Fraktion gehörend, empfehle ich die Beatles-CD »Live at the BBC, Vol. 2«. Sie enthält mehr als 60 zwischen den Jahren 1963 und 1965 eingespielte Songs, u.a. bislang so nicht gekannte Cover-Versionen von Chuck Berry, etwa »Carol«, »Sweet little sixteen« oder »Memphis, Tennessee«, das John Lennon deutlich weniger schnulzig singt als Elvis. Ebenso herausragend: Paul McCartney mit Frank Pingatores »Clarabella«.
Die Beatles wurden übrigens 1960 nach ihren ersten Auftritten in der »Großen Freiheit« aus Hamburg abgeschoben, worauf die Initiatoren der Kampagne für Lampedusa in Hamburg hinweisen und zu Recht fragen: »Herr Scholz, hätten Sie auch die Beatles abgeschoben?« Eine andere Frage muss sich der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt von den Herausgebern Gerd Pohl und Klaus Wicher und den AutorInnen eines VSA: Buches gefallen lassen: Hamburg: Gespaltene Stadt? Ihre Antworten fallen ernüchternd aus: In der faszinierenden Metropole gibt es tiefe soziale Spaltungen. Deshalb sind mehr Gerechtigkeit, zivilgesellschaftliches Engagement und politische Regulierungen für eine soziale Stadtentwicklung dringend erforderlich. |  | Im kommenden Jahr steht der Epochenbruch 1914 im Zentrum der Öffentlichkeit. Dazu ein Tipp: In Wien gibt es in der Wienbibliothek im Rathaus bis zum 23. Mai eine Ausstellung Wohin der Krieg führt. In ihr werden Plakate, Postkarten, Kochrezepte und Alltagsgegenstände aus den vier Kriegsjahren gezeigt. Der Bogen reicht vom überschwänglichen Patriotismus zu Kriegsbeginn über die Enttäuschung angesichts des ungünstigen Kriegsverlaufs, den einsetzenden Mangel an Waren aller Art und die immer verzweifelteren Durchhalteparolen bis zu einer Dokumentation »Die sterbende Stadt«. Dazu haben die Historiker Alfred Pfoser und Andreas Weigl das Buch Im Epizentrum des Zusammenbruchs herausgegeben. Darin wird ein umfassendes Panorama des Wiener Lebens zur Kriegszeit gezeigt, von Politik und Verwaltung der Monarchie und der Gemeinde über die Rolle der Frauen in der Kriegswirtschaft und die Verelendung der mittleren Gesellschaftsschichten bis zu den Auswirkungen des Krieges auf die Stadtentwicklung.
Alle damaligen Mächte sind unter tragender Rolle des Deutschen Reiches 1914 in den Epochenbruch hinein getaumelt. Mit der Zerrissenheit der Sozialdemokratie, auf die Heiner Karuscheit in dem von Christoph Lieber empfohlenen Buch »Deutschland 1914« abzielt, nahm die deutsche Tragödie ihren Lauf. Sie mündete im Faschismus und einem Zweiten Weltkrieg. Ob und welche Schlussfolgerungen die »Völkergemeinschaft« daraus gezogen hat, ist u.a. Thema in dem bei VSA: in einer aktuellen Ausgabe erschienenen Standardwerk Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen von Norman Paech und Gerhard Stuby. Ihr Fazit – »Die Kodifikationen der Menschenrechte und der Internationalen Strafgerichtsbarkeit sind Meilensteine der Völkerrechtsentwicklung, die jedoch von ihrem offenen Missbrauch entwertet werden« – stimmt allerdings nicht gerade optimistisch. |  | Weihnachten, das »Fest der Feste«, wird ja immer auch ganz gerne dafür instrumentalisiert, das Volk von traurigen Wahrheiten abzulenken und es in einen kollektiven Konsumrausch zu versetzen. Wer nicht möchte, dass sich die Beschenkten an den Feiertagen von saftigen Bratgänsen, Marzipan und der selig machenden Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten einlullen lassen, kann jene mit dem Buch Lernen in der Revolte von Angelika Gravert auf andere Gedanken bringen. Es zeigt mit fundiertem Wissen die Genese der Krise (bzw. humanen Katastrophe) in Griechenland auf und beleuchtet Hintergründe, die medial doch eher unterrepräsentiert sind. Dass mit dem Verstehen der Krise in Griechenland auch ein Verständnis der Finanzwirtschaft einher gehen sollte, und man den Beschenkten nicht mit drögen Ökonomie-Einstiegshilfen langweilen sollte, dürfte klar sein.
Deshalb empfehle ich als weiteres Geschenk den Sach-Comic Economix, der einen komplexen Sachverhalt, nämlich die Funktionsweise unseres Wirtschaftssystems, verständlich und unterhaltsam verpackt – und zwar in Bildern! Nach der Lektüre dieses Buches gehen nicht nur dem Tannenbaum einige Lichter auf. |  | Mit dem Begriff Kapitalistischer Realismus erklärt der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher in seinem gleichnamigen Buch, warum es heute einfacher ist, »sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«. Wer sollte diesen »totalen Stillstand« besser verkörpern als Kurt Cobain, der Sänger der US-amerikanischen Grunge-Band Nirvana? Fisher charakterisiert ihn genau so: »In seiner hundsmiserablen Trägheit und ziellosen Wut verlieh Cobain der Mutlosigkeit einer Generation eine ermattete Stimme... Cobain wusste, dass er nur ein weiterer Teil des Spektakels ist, dass nichts besser auf MTV funktioniert als ein Protest gegen MTV, dass jede seiner Bewegungen ein im Voraus festgelegtes Klischee ist und dass selbst das Bewusst-Werden dieses Zusammenhangs ein weiteres Klischee darstellt.«
Das sollte uns jedoch nicht davon abhalten, die Wiederveröffentlichung des IN UTERO-Albums anzuhören. Zu seinem 20. Jubiläum wurde Nirvanas drittes Studio-Album dieses Jahr nicht nur neu gemixt, es wartet zudem mit diversen Extras auf wie der kompletten »Live and Loud«-Show auf DVD. |  | Nach einem Bücherjahr mit Licht und Schatten darf es zum Fest zwei Glanzpunkte geben: Hans Coppi und Ilse Kebir folgen in ihrem VSA: Buch Ilse Stöbe: Wieder im Amt den Spuren einer Widerstandskämpferin, die wegen ihrer Arbeit für den sowjetischen Nachrichtendienst 1942 hingerichtet wurde. Auch wenn vieles aus den »tausend Jahren« schon beschrieben und erforscht wurde: Diese Figur der Zeitgeschichte in ihren Brüchen und ihrer gespaltenen Rezeption nach 1945 lohnt den genauen Blick – um so mehr, als Ilse Stöbe bis heute von einigen geradezu reflexhaft als Spionin verurteilt wird.
Außerdem empfehle ich gerne das für mich in diesem Jahr eindrucksvollste belletristische Leseerlebnis: John Lanchesters Roman Capital. Er illustriert am Beispiel einer Wohnstraße im Süden Londons die Auswüchse der Immobilienspekulation in der Finanzmetropole des 21. Jahrhunderts. Zwischen den Schicksalen einzelner Bewohner und anderer Menschen, die sich in der Pepys Road aufhalten, zwischen Wohlhabenden in der Metropole und Armen in der Peripherie knüpft die Globalisierung ihre Bande. »Wir wollen, was ihr habt« – was im Roman als anonyme Drohung die Runde macht, könnte dann auch an gefüllten Gabentischen zum Nachdenken anregen. |  | Es läuft gegenwärtig nicht so gut für die Fans des deregulierten Kapitalverkehrs. Erst flogen die Manipulationen des Libor auf, dann wird wegen Preisabsprachen beim Gold und nun auch noch wegen Steuerhinterziehung ermittelt. Kein Wunder, dass eine Mehrheit der Bundesbürger mit »Marktwirtschaft« neben »Wohlstand« (66%) auch »Gier« (56%), »Rücksichtslosigkeit« (53%) und »Ausbeutung« (51%) assoziiert – und nur 12% »soziale Gerechtigkeit«. Doch wie ist zu erklären, dass das Unbehagen am Kapitalismus so wenig gesellschaftlichen Fortschritt freisetzt? Zwei Neuerscheinungen geben Antworten: Klaus Dörre, Anja Happ und Ingo Matuschek auf der Grundlage breiter Befragungsuntersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben zum Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen – das Gehaltvollste, was es gegenwärtig auf dem Feld des Arbeitnehmer- und Arbeitsbewusstseins gibt. In dem zweiten Text analysiert Frank Deppe jene zahlreichen Faktoren, die den labilen Zusammenhang von Kapitalherrschaft und Demokratie aufbrechen und die Wende hin zu einem Autoritären Kapitalismus verstärken – und liefert Einblicke in die Verhältnisse in den USA, Russland, China und Indien. Zwei Bücher, die man sich auch selbst schenken sollte.
Für ruhige Weihnachtstage oder Abende empfehle ich Paul Austers Winter Journal. Man sollte sich und anderen etwas gönnen. Ich hab es so gemacht: Taschenbuch von Faber & Faber für 5,49 Euro und dazu die englische Audio CD für 22,99 Euro. Beim Hören mitlesen oder beim Lesen hören – und dabei auch noch das Englische aufmöbeln. Was will man mehr? |  | © 2013 VSA: Verlag Hamburg GmbH
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