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Jürgen Behre

Volkssouveränität und Demokratie

Zur Kritik staatszentrierter Demokratievorstellungen

260 Seiten | 2004 | EUR 17.40 | sFr 31.10
ISBN 3-89965-058-1 1

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Kurztext: Sowohl liberale Staatskonzeptionen als auch staatszentrierte Demokratievorstellungen bleiben auf die Sicherung und den Ausbau der bestehenden, liberal-kapitalistischen Demokratie fixiert. Die Aufhebung dieser Beschränkung in Richtung sozialer Emanzipation erfordert eine Form radikaler Kapitalismuskritik.


"Demokratieentleerung", "Anerkennungszerfall", "Krise der politischen Repräsentanz" und "Amerikanisierung in der Politik" – so lauten heutzutage die Zeitdiagnosen. Optimistische Demokratietheoretiker wie Habermas, Dubiel u.a. sind zu kurz gesprungen. Grund genug, sich erneut des komplexen Zusammenhangs von bürgerlicher Gesellschaft, Staatlichkeit und selbstbestimmter, demokratischer Verhältnisse zu vergewissern.

In der Debatte um normative Demokratiemodelle wie das liberale, das republikanische und das "deliberative" gewann die politische Philosophie von Hobbes, Locke, Rousseau und Kant wieder an Bedeutung. Diese Traditionslinie wird in der vorliegenden Untersuchung rekonstruiert auf Basis eines historischen Abrisses frühbürgerlicher Staatstheorien wie der ständestaatlichen Vorstellungen der calvinistischen Monarchomachen, Jean Bodins Souveränitätslehre und der Vorstellungen von Volkssouveränität bei den oppositionellen Leveller in der englischen Revolution. Gegenüber den modernen bürgerlichen Naturrechtstheorien scheitert aber auch Habermas’ diskurstheoretisch begründetes Konzept "radikaler Demokratie" an den zweckrationalen Systemen staatlicher Administration und kapitalistischer Ökonomie, und auch Hegels Hypostasierung des Staates als "wahrer Allgemeinheit" fällt hinter Kants Idee einer Selbstgesetzgebung des Volkes zurück. Abschließend wird die Marxsche "Kritik der Politik" rekonstruiert: Demokratie wird hier an die Aufhebung des politischen Staates und somit auch der bürgerlichen Gesellschaft als dessen Voraussetzung gebunden. Erst eine soziale Praxis, die staatszentrierte Demokratievorstellungen überwindet, führt zu menschlicher Emanzipation.

Leseprobe 1

Vorwort

In der gegenwärtigen politischen und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung um den Charakter und das Projekt der Moderne bzw. Postmoderne spielt die Marxsche "Gesellschaftskritik" – besonders seit 1989 – nur eine untergeordnete Rolle. Vor allem ihre Kritiker werfen der Marxschen Theorie das Fehlen einer politischen Theorie vor oder begreifen sie gar als Wegbereiter des Totalitarismus. Helmut Dubiel beschied Ende der 1980er Jahre allen Intellektuellen, dass "die westliche Intelligenz ... begreifen muß, daß das Modell der liberalen Demokratie den Bezugsrahmen aller zukünftigen politischen Strategien ausmacht".[1] Gegen diese intellektuelle Bescheidung wird hier mit Marx die These vertreten, dass Staatlichkeit und selbstbestimmte, demokratische Verhältnisse einander ausschließen, denn das Gesetz tritt dem Menschen der bürgerlichen Gesellschaft als vom Staat gesetzter Zwang[2] gegenüber. Mit der bürgerlichen Gesellschaft als Voraussetzung des Staates sind zugleich Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse gesetzt,[3] die bei Dubiel und, wie in dieser Arbeit gezeigt wird, auch bei Jürgen Habermas letztlich ausgeblendet werden. Emanzipation in der Marxschen Perspektive wird dagegen an die Aufhebung des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft geknüpft, d.h. an die Produktion einer Gesellschaft, "die das Allgemeine nicht formal als Norm, Recht, Staat sich gegenübersetzt, sondern material als Zusammenhang menschlicher Beziehung herstellt".[4] Entsprechend ist der Begriff "soziale Freiheit" bei Marx nicht individualistisch gefasst und nicht politizistisch verkürzt wie in politischen Demokratietheorien. In der gegenwärtigen Debatte finden sich mindestens "drei normative Modelle der Demokratie":[5] das liberale,[6] das republikanische[7] und das vor allem von Jürgen Habermas entwickelte deliberative Demokratiemodell. In dieser Diskussion gewann die "politische Philosophie" von Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und Hegel[8] wieder an Bedeutung. In dieser Arbeit wird zunächst an diese Tradition angeknüpft, indem die Positionen von Hobbes bis Hegel immanent rekonstruiert werden. Vorab wird in der Einleitung ein knapper historischer Abriss von Aristoteles über Stoizismus, Skeptizismus und Epikureismus zur mittelalterlichen Naturrechtstradition und zur Auflösung der "res publica christiana" durch die Reformation und den Aufstieg der frühbürgerlichen Staaten gegeben. Mit der Herausbildung des frühbürgerlichen Staates rückt zunehmend der Begriff der Souveränität ins Zentrum der frühbürgerlichen Theorien. Die calvinistischen Monarchomachen, die noch in der Tradition ständestaatlicher Vorstellungen stehen, versuchen durch ein zweistufiges Vertragsmodell, wodurch die Rechtsbeziehungen zwischen den Ständen und der Obrigkeit festgelegt werden sollen, die Möglichkeit eines ständischen Widerstandsrechts zu legitimieren. Die Stände verstehen sich in der verschärfenden religiösen und politischen Auseinandersetzung zunehmend als "Repräsentanten des Volkes". Volk meint hier aber einen ständisch gegliederten Gesellschaftskörper. Dagegen zielt die Argumentation Jean Bodins, der als Begründer der Theorie der Souveränität gilt, auf eine Stärkung der "summa potestas" des Monarchen. Bodin bestimmt Souveränität als Recht des Herrschers, Gesetze zu erlassen, ohne diesen selbst unterworfen zu sein. Im Kapitel über die frühbürgerlichen Staatstheorien soll jedoch gezeigt werden, dass Bodin die Souveränität an die göttlichen Gesetze und die "lois fondamental" bindet, so dass der Monarch zwar souverän und absolut ist, aber dies immer innerhalb des durch das Recht gesetzten Rahmens. Den Schritt zur Volkssouveränität vollzogen die Leveller als Opposition in der englischen Revolution, indem sie die Gesetzgebungskompetenz für das Volk forderten und, wie hier gezeigt werden soll, das Volk schon als Ansammlung von Individuen begriffen; damit waren die ständestaatlichen Vorstellungen der Monarchomachen überwunden und die theoretischen Voraussetzungen entwickelt für die Position des neuzeitlichen, subjektiven Naturrechts. Im Kapitel "Moderne Naturrechtstheorien" sollen vor allem zwei Positionen rekonstruiert werden: zum einen der Diskurs des Liberalismus in der Gestalt von Hobbes, dessen spezifische Vertragstheorie jedoch eine Wendung in Richtung eines politischen Absolutismus vollzieht, sowie die klassische liberale Position von Locke, zum anderen der republikanisch-konstitutionstheoretische Entwurf von Rousseau. Während in der liberalen Tradition der Staat als Mittel begriffen wird, die Freiheit und das Eigentum zu sichern, begreift Rousseau den Gesellschaftsvertrag als demokratisch-herrschaftliche Selbstorganisation der Freien und Gleichen im Gemeinwesen. Rousseau orientiert sich hier am Ideal einer plebiszitären und egalitären Demokratie, in der – im Gegensatz zu Hobbes und vor allem Locke – keine großen Eigentumsunterschiede herrschen sollen. Kant bezieht sich auf die Tradition des neuzeitlichen Naturrechts des 17. und 18. Jahrhunderts, kritisiert und hebt diese Positionen in seiner vernunftrechtlich begründeten Konzeption einer "reinen Republik" der freien, gleichen und selbständigen Bürger auf. Meine Darstellung rekonstruiert Kant somit als Kritiker und zugleich Vollender des neuzeitlichen Naturrechts. In dem Kapitel zu Jürgen Habermas’ "Faktizität und Geltung", der eine vermittelnde Position zwischen Rousseau und Kant auf der Grundlage seiner Diskurstheorie einzunehmen versucht, soll gezeigt werden, dass seine Intention, "radikale Demokratie" unter modernen kapitalistischen Verhältnissen zu denken, scheitert. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht hier Habermas’ Versuch, Moralprinzip, Demokratieprinzip und Rechtsprinzip so zu vermitteln, dass die Einheit von Rechtsstaat und radikaler Demokratie behauptet werden kann. In seiner konkreten Ausführung fällt aber Habermas zum Teil hinter Kants Rechtstheorie zurück. Zusätzlich desavouiert er sein Konzept radikaler Demokratie, weil er die zweckrationalen Systeme der staatlichen Administration und der Ökonomie ontologisiert und damit einer Demokratisierung entzieht. Mit der Hegelschen Rechtsphilosophie wird der Faden der immanenten Rekonstruktion wieder aufgenommen. Hegels politische Philosophie stellt sich von Anfang an als Kritik des individualistischen Ansatzes des neueren Naturrechts dar, weil es, so Hegel, unmöglich sei, aus dem "status naturalis" den "status civilis" zu begründen. Nach Hegel wird im Naturrecht der Staat nur als Einheit verschiedener Personen bestimmt, die wiederum als Gemeinsamkeit gedacht werden müsse. Die Bestimmung der Gemeinsamkeit beschränkt Hegel aber auf die bürgerliche Gesellschaft als System allseitiger Abhängigkeit der Individuen. Wahre Allgemeinheit verwirkliche sich erst im Staat als dem "an und für sich Vernünftigen". In diesem Kapitel wird die Kritik des Naturrechts im Zusammenhang mit der theoretischen Entwicklung aufgezeigt, die zur begrifflichen Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat in der Rechtsphilosophie führt. Hegel fällt jedoch mit seinem monarchisch-ständestaatlichen System hinter die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat und damit hinter Kants Idee einer Selbstgesetzgebung des Volkes zurück. Marxens "Kritik des Hegelschen Staatsrechts" bezieht sich auf die bürgerliche Gesellschafts- und Staatstheorie, wie sie sich seit dem 17. Jahrhundert bis zu Hegel entwickelt hat. Die begriffliche Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat in Hegels Rechtsphilosophie begreift Marx als Fortschritt, um jedoch zugleich Hegels monarchistisch-ständestaatliche Vermittlung zu kritisieren. In einer ausführlichen Rekonstruktion dieses Textes wird gezeigt, dass Marx gegen Hegels Rechtfertigung der konstitutionellen Monarchie implizit auf vertragsrechtliche Argumentationen rekurriert, um Volkssouveränität als Verfassungsgattung jedes Staates zu begründen. Innerhalb des begrifflichen Kontextes des abstrakt politischen Staates wird die Republik mit einer modernen Repräsentativverfassung als Fortschritt gegenüber der Monarchie ausgewiesen, um schließlich mit seiner Kritik repräsentativer Demokratie als einzig dem Begriff des politischen Staates entsprechender Form seine Kritik des Staates überhaupt zu formulieren. Entsprechend wird bei Marx Demokratie an die Aufhebung des politischen Staates und somit auch der bürgerlichen Gesellschaft als dessen Voraussetzung gebunden. Mit dieser Argumentation, so meine These, ist der Horizont politischer Demokratietheorien überschritten. Diese These und ihre Konsequenzen werden im Abschnitt "Politische und menschliche Emanzipation" diskutiert. Das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat wird hier mit Marx als widersprüchliche Einheit begriffen, die nur in einer menschlichen Emanzipation aufhebbar sein kann. In diesem Kontext werden sowohl die liberale Staatskonzeption, die den Staat zum Medium handelnder Bürger herabsetzt, als auch staatszentrierte Demokratievorstellungen kritisiert, wie sie bei Rousseau und im Rousseauismus zu finden sind. Zugleich wird schon hier in Abgrenzung zur politischen Revolution die Forderung gestellt, alle Bestandteile der bürgerlichen Gesellschaft einer Kritik zu unterziehen. Damit rückt die bürgerliche Gesellschaft ins Zentrum der Kritik. Im letzten Kapitel wird gezeigt, warum dieser Perspektivenwechsel zur "Kritik der politischen Ökonomie" führt. Auf der Ebene der Darstellung der "Kritik der politischen Ökonomie" wird der rechtliche Eigentumsbegriff kritisiert und zugleich gezeigt, dass die Einheit von Freiheit, Gleichheit und Privateigentum, die in den bürgerlichen Staatstheorien gefordert war, eine unmögliche Vorstellung ist, denn die kapitalistische Produktionsweise produziert und reproduziert eine Klasse, die gerade getrennt ist von ihren eigenen Produktionsbedingungen. Der Staat erscheint in der "Kritik der politischen Ökonomie" als Voraussetzung und Moment der bürgerlichen Gesellschaft und diese zugleich als übergreifende Form gegenüber Staat und Nation. Dieser Zusammenhang kann in dieser Arbeit nur angedeutet werden, weil er eine Rekonstruktion der "Kritik der politischen Ökonomie" voraussetzen würde, was den Rahmen dieser Arbeit sprengt. Unter emanzipatorischer Perspektive soll gezeigt werden, dass Marx kapitalistische Produktion als "sich selbst aufhebende Form" begreift. Als praktische Aufhebung bestimmt Marx eine "revolutionäre Praxis", die den engen politischen Praxisbegriff überschreitet, wie er vor allem bei Habermas zu finden ist. Diese Form radikaler Kapitalismuskritik, wie sie hier vorgestellt wird, soll gerade bei Habermas und Dubiel verabschiedet und damit "die entschlossene Hinwendung zum realpolitisch Machbaren: Sicherung und Ausbau der bestehenden, liberal-kapitalistischen Demokratie",[9] gerechtfertigt werden. [1] Helmut Dubiel, Metamorphosen der Zivilgesellschaft und reflexive Modernisierung, in: Ders., Ungewißheit und Politik, Frankfurt a.M. 1994, S. 93
[2] Kursive Hervorhebungen im laufenden Text sind vom Autor, kursive Hervorhebungen im Zitat vom jeweils zitierten Autor. Eckige Klammern beinhalten Einfügungen des Autors.
[3] Joachim Hirsch wendet gegen die politizistische Verengung des Politikbegriffs in der Zivilgesellschaftdebatte ein, "daß das, was innerhalb der bürgerlichen Demokratie an Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung verwirklicht ist, strukturell immer auf gesellschaftlicher Unfreiheit, Ungleichheit und Fremdbestimmung beruht". Joachim Hirsch, Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie, Politik im globalen Kapitalismus, Berlin/Amsterdam 1995, S. 12
[4] Diethard Behrens, Thesen zu Marx: Zur Judenfrage, Texte zum Kolloquium der Marx-Gesellschaft im Herbst 1998, nicht veröffentlicht, Frankfurt a.M. 1998
[5] Jürgen Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. 1999, S. 277-293
[6] Diese Position wird vertreten von Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York 1974 und James M. Buchanan, The Limits of Liberty, University of Chicago Press 1975
[7] Exemplarisch für diese Position Michael J. Sandel, Liberalism, and the Limits of Justice, Cambridge, Mass. 1982
[8] Charles Taylor knüpft in spezifischer Weise an die Hegelsche Tradition an, um den liberalen Freiheitsbegriff zu kritisieren. Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a.M. 1995
[9] Joachim Hirsch, Das Ende der "Zivilgesellschaft", S. 47, in: links. Sozialistische Zeitung, Nr. 4, 1992, S. 46-49

Inhalt:

Vorwort (Leseprobe)
1. Einleitung
2. Frühbürgerliche Staatstheorien
2.1 Die ständestaatlichen Vorstellungen der calvinistischen Monarchomachen und das Widerstandsrecht
2.2 Bodin als Begründer der Souveränitätslehre
2.3 Die Leveller auf dem Weg zur Volkssouveränität
3. Moderne Naturrechtstheorien
3.1 Thomas Hobbes’ Begründung der Souveränität und des Absolutismus
3.2 John Lockes liberale Staatsauffassung
3.3 Rousseaus egalitäre Demokratiekonzeption
3.4 Kants Idee der reinen Republik
3.4.1 Rechtsgesetz und Moralprinzip
3.4.2 Rechts- und Staatstheorie
4. Radikale Demokratie in "Faktizität und Geltung"
4.1 Radikale Demokratie und die Unterscheidung von System und Lebenswelt
4.2 Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in "Faktizität und Geltung"
5. Hegels Rechtstheorie
5.1 Hegels Kritik des Naturrechts und die Genese der begrifflichen Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat
5.2 Systematik der Rechtsphilosophie
6. Kritik der Politik
6.1 Marxens Kritik des Mystizismus und Positivismus in der Rechtsphilosophie Hegels
6.2 Staat und bürgerliche Gesellschaft
6.3 Verfassung und Legalismus
6.4 Eigentum und politischer Staat
6.5 Politische und menschliche Emanzipation
7. Menschliche Emanzipation und soziale Praxis
8. Schluss
Siglen und Kurztitel
Literatur

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