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Monika Rulfs

Stresemannstraße

Protest und Verkehrspolitik nach einem Unfall – ethnologische Untersuchungen im Stadtteil

348 Seiten | 2002 | EUR 19.00 | sFr 33.70
ISBN 3-87975-864-6 1

Titel nicht lieferbar!

 

Dieses Buch über die Hamburger Stresemannstraße beleuchtet exemplarisch die Rolle von Verkehrspolitik und -protest für die Identität von Bewohnern und Bewohnerinnen in der Großstadt.


 

»Muss ich wieder jedes Mal zusammenzucken, wenn ich das Martinshorn höre?« Angst um ihre Kinder trieb eine Mutter und zahlreiche andere Eltern im Jahr 1991auf die Stresemannstraße in Hamburg-Altona. Hier war gerade die neunjährige Nicola von einem LKW überfahren worden und gestorben. Zwei Wochen lang protestierten Anwohner und Anwohnerinnen auf der Straße und setzten durch, dass der Verkehr auf einer der wichtigsten und bis heute umstrittensten Hauptverkehrsadern der Hansestadt beruhigt wurde.

Der Unfall, der Bürgerprotest und die Folgen erregten bundesweites Aufsehen. Die Ethnologin Monika Rulfs untersucht das außergewöhnliche Geschehen und zeigt auf, wie es sich vom »normalen« Leben mit dem Verkehr einer Großstadt und von der Praxis alltäglicher Verkehrspolitik unterschied. Sie nutzt ethnologische Methoden und Konzepte, Interviews, Gespräche und Quellenanalysen und hinterfragt im Einzelnen:

 

  der Ort »Stresemannstraße«: Geschichte und Gegenwart

  der Unfalltod

  die Verkehrspolitik

  der Protest, seine Unterstützung und seine Formen

  Rückkehr zur Normalität

  die AnwohnerInneninitiative

  die »Stresemannstraße« als Symbol

 

Die Autorin:
Monika Rulfs, Jahrgang 1959, ist Ethnologin und Journalistin, lebt in Hamburg.

 

 

Leseprobe 1

Einleitung

Der Bürgerprotest nach einem Verkehrsunfall im August 1991 an der Stresemannstraße in Hamburg rückte die Problematik des städtischen Autoverkehrs für eine Zeitlang in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses. Fragen der Verkehrspolitik Hamburgs wurden plötzlich öffentlich diskutiert. Welche Bedeutung wird einem Straßenverkehrsunfall auf der Ebene der Politik beigemessen? Was bedeutet er den Bewohnern in der Nähe der Unfallstelle? Was heißt Verkehrsberuhigung? Was heißt es, an einer Hauptverkehrsstraße zu wohnen? Was ist eigentlich Gegenstand von Verkehrsplanung und Verkehrspolitik? Welche Möglichkeiten haben Bürger, auf diesem Gebiet politisch zu partizipieren? Was wollen sie überhaupt? Wie drücken sie aus, was ihnen nicht gefällt? Wie gestalten sie Kritik oder Protest? Wie werden diese in die offizielle Politik integriert? Diese Arbeit will diese Fragen beantworten und greift dazu auf verschiedene ethnologische Methoden und Konzepte zurück. Sie beleuchtet das Geschehen von verschiedenen Seiten: vom Ort des Geschehens, vom Unfall als Anlass des Geschehens, vom politischen Setting, von den am Geschehen Beteiligten und von der Art der Gestaltung des Geschehens. Am 27. August 1991 wurde die neunjährige Nicola von einem Lastwagen auf der Stresemannstraße in Hamburg überfahren und starb. Dieser Unfall löste einen zweiwöchigen Protest der Anwohner aus: Täglich standen sie viele Stunden lang auf der Hauptverkehrsstraße, brachten den Verkehr zum Erliegen und markierten den Unfallort mit Blumen, Kerzen, Plakaten und Spruchbändern. Der Protest bewirkte kurzfristig die politische Entscheidung, den Verkehr an einem Abschnitt dieser Straße zu beruhigen. Darüber hinaus wurde dem Protest eine Art Vorbildfunktion zugesprochen: Mehrere Jahre lang war in Hamburg, aber auch in anderen deutschen Städten, immer wieder von diesem Tod und diesem Protest die Rede, wenn es um Kinderverkehrsunfälle und Widerstand gegen den Autoverkehr ging. Mit der Konstruktion dieses Unfalltodes zu einem politisch bedeutsamen Ereignis wurden auf der Straße, in der etablierten Politik und in den lokalen und überregionalen Medien über den konkreten Fall und über aktuelle verkehrspolitische Belange hinaus grundsätzliche Vorstellungen städtischen Lebens und städtischer Politik verhandelt. In den an sich technisch-organisatorisch orientierten Bereich der Verkehrspolitik etwa drangen Fragen ein, die dort bisher nicht Thema gewesen waren: Fragen nach dem Überleben in der Stadt, nach der Wertung von Mobilität und Lebensqualität oder nach der Art der Einmischung und Einbeziehung der im Straßenverkehr »Marginalisierten« - wie Fußgängern und Radfahrern - in verkehrspolitische Entscheidungsprozesse. Umgekehrt wurden verkehrstechnische und verkehrspolitische Fragen plötzlich allgemein diskutiert: So sprachen auch die über den Tod Trauernden über technische Aspekte von Verkehrsregelung, über Ampeln, Fahrgeschwindigkeiten oder Schadstoffausstoß. Sinn und Ziel verkehrspolitischer Entscheidungen wurden stadtweit erörtert. Warum konnte dieser Unfall an dieser Stelle eine so intensive politische Wirkung entfalten? Eine Anwohnerin formulierte diese Frage so: »Ich würde ja gerne mal wissen, warum sich alle so für diesen Unfall interessieren, was ist denn da so Besonderes dran, ständig werden überall Kinder überfahren und niemand kümmert sich drum, warum hier so?« (Notizen 11.1.1994:2) Genauer noch fasste ein Politiker der Grün-Alternativen Liste (GAL)1 diese Frage: »Was ist geschehen? Zunächst das Brutal-Normale. Wieder einmal ist ein Kind von einem Auto getötet worden, in einer Stadt, in der - nach schon lange bekannten und jüngst bestätigten Statistiken - Kinder am gefährlichsten in Deutschland leben. Dann aber das nicht Normale. Die Anwohner der Unglücksstelle akzeptierten nicht mehr das bekannte Sinnlose, die scheinbar herrschende Ethik der Gesellschaft, gingen nicht nach der Trauer zum Alltag über, sondern blieben auf der Straße stehen.« (Freitag vom 13.9.1991) Sowohl der Unfall als auch der Protest wurden von Betroffenen, von den Medien und in der Politik als »außergewöhnlich« wahrgenommen. Kernpunkt dessen, was an den Ereignissen auf der Stresemannstraße ungewöhnlich war, war die Tatsache, dass Anwohner einen tödlichen Unfall nicht als etwas Normales hingenommen hatten, sondern ihr Entsetzen ausgedrückt und gegen den Verkehr protestiert hatten. Dass dieser Unfall an dieser Stelle eine so intensive politische Wirkung entfalten konnte, war nicht vorhersehbar, lässt sich im Nachhinein jedoch erklären:   Der Unfall geschah an einem besonders gefährlichen Ort des Stadtteils, an dem Übergang über eine von schnell fahrenden Autos benutzte Hauptverkehrsstraße, die den verkehrsberuhigten Stadtteil durchschnitt. Dieser Ort vereinte symbolhaft die Gegensätze des lebendigen Stadtteils und der gefährlichen - todbringenden - Straße in sich. Das machte ihn für den Protest besonders geeignet.   Zum Zeitpunkt des Unfalls war die Verkehrsbelastung gerade dieser Straße durch kurze Demonstrationen in der Nähe, durch die Gründung einer Anwohnerinitiative und durch die Veröffentlichung der hier gemessenen hohen Luftschadstoffwerte bereits im Gespräch und in den Medien präsent.   Der Unfall ereignete sich darüber hinaus in einer Zeit, in der die Verantwortlichkeiten für den Bereich Verkehr politisch neu verteilt wurden und neue Wege in der Verkehrspolitik diskutiert wurden. Die Verkehrsbelange der »Schwachen im Verkehr« sollten den neuen Verantwortlichen zufolge besser gehört und stärker berücksichtigt werden.   Der Unfall hatte deutlich das verletzt, was allgemein als gerechte Ordnung akzeptiert wurde. Ein Kind, das sich im Straßenverkehr korrekt verhalten hatte, wurde von einem Lastwagen, dessen Fahrer ein rotes Ampellicht missachtet hatte, überrollt und getötet. Die Protestierenden nahmen sich mit der Besetzung der Straße das Recht, auf dieses stark empfundene Unrecht spontan und emotional zu reagieren, die Unfallstelle auf vielfältige Art zu gestalten, Verantwortliche deutlich zu benennen und Veränderungen einzufordern.   Protestiert wurde in einem Viertel, das als besonders unruhig galt und in dem in der Vergangenheit verschiedene politische Konflikte ausgetragen worden waren. Sowohl die Erfahrung der Bewohner dieses Viertels mit ähnlichen Situationen als auch die große Beteiligung von Kindern am Protest standen einer gewaltsamen Räumung der Straße entgegen.   Entscheidend für den Erfolg des Protestes war, dass die Protestierenden nicht als normale politische Demonstranten, sondern als trauernde und protestierende Anwohner, Mütter und Kinder gesehen wurden, deren Protest wegen ihres direkten emotionalen Bezugs zu dem getöteten Kind und zum Ort des Geschehens besonders legitimiert war. Die Qualitäten des Protestes - seine Spontanität, seine politische Ungebundenheit, seine Legitimation durch solche Teilnehmer, die durch den Unfall besonders betroffen waren, und sein existentieller Bezug - wurden von den ihn unterstützenden Gruppen hervorgehoben, öffentlich gemacht und noch verstärkt.   Der Protest machte auch Spaß, entsprach dem Bedürfnis nach Aufregung und Erleben, nach Kontakten und Kommunikation. Die Protestierenden erlebten während der zwei Wochen des Protestes, wie die Straße sich ohne Autos nutzen ließ. Was an dem Ereignis besonders war und in welchem Zusammenhang dieses »außergewöhnliche« Ereignis zum »normalen« Ablauf des Lebens mit dem Verkehr und zum alltäglichen politischen Umgang mit Verkehr stand, soll diese Arbeit untersuchen. Die Ereignisse an der Stresemannstraße im Sommer 1991 habe ich selbst miterlebt. Ich wohnte damals in der Nähe der Stresemannstraße und fühlte mich wie viele andere Beteiligte nach dem Unfall auf die Straße gezogen. Erstaunt über das, was geschehen war, beschloss ich jedoch erst ein Jahr später, der Dynamik des Geschehens auf die Spur zu kommen und es zum Thema einer Dissertation zu machen. Teil der ursprünglichen Motivation für diese Arbeit war die politische Genugtuung über den Erfolg des Protestes gewesen. Im Verlauf der Arbeit gewannen jedoch andere Interessen an Bedeutung. So erkannte ich bei der Forschung über den konkreten Ort und seine Geschichte und bei den Gesprächen, die ich führte, überhaupt erst, dass diese große Hauptverkehrsstraße gar nicht so »tot« war, wie sie mir zuerst erschienen war, und dass ich diese Erkenntnis mit denen teilen konnte, die sich hier für verkehrspolitische Änderungen einsetzten. Die Straße hatte eine eigene Geschichte, und der Protest war eine neue Facette dieser Geschichte. Manche Informanten und Interviewpartner sahen das auch so und schoben mir die Rolle einer Lokalchronistin zu. Manfred Gailus bemerkt in seiner Geschichte einer Berliner Straße, dass das Wissen über Straßen erst fassbar werde, wenn man sich beteilige an »Initiativen zur Wiederaneignung der verlorenen öffentlichen Räume. Auf diesem Weg gesammelt und erforscht, ergänzt um schriftliches Quellenmaterial, kann Straßengeschichtsschreibung selbst zum Bestandteil der Rekultivierung von Wüste werden.« (1985:109)

Leseprobe 2

Die Stresemannstraße heute

Im Herbst 2001 gab es in Hamburg einen Regierungswechsel von einem rot-grünen Senat zu einer Regierungskoalition von CDU, Schill-Partei und FDP. In deren Koalitionsvertrag wurde die Rückkehr zu einer Verkehrspolitik der 70er und 80er Jahre festgeschrieben, einer an den Interessen der Autofahrer orientierten Politik. Neben dem Verzicht auf das Projekt Stadtbahn, dem Neu- und Ausbau von Straßen, der Beseitigung von sogenannten Pollern, die verhindern sollen, dass Fahrzeuge auf Fuß- und Radwegen parken, und ähnlichem, war auch die Stresemannstraße Gegenstand dieses Vertrages: »Der Verkehr auf der Stresemannstraße wird wieder auf ganzer Länge vierspurig bei Tempo 50 geführt. Dies schließt die Aufhebung der Bussonderspuren ein.« (CDU, Schill-Partei, FDP: 2001) Die Anwohner wehrten sich und versuchten, das einmal Erreichte zu retten.3 Rund 1000 Anwohner und Anwohnerinnen von Stresemannstraße und Umgebung protestierten am 6. Dezember 2001 auf der Straße gegen die Rückkehr zum alten Zustand, und 400 diskutierten am 9. Januar 2002 mit dem neuen Bausenator Mario Mettbach von der Schill-Partei in der St. Johanniskirche über die Pläne aus der Baubehörde. Die neu belebte Anwohnerinitiative sammelte Unterschriften für ein Bürgerbegehren aller Altonaer für die Beibehaltung von Tempo 30 und für die Erhaltung der Busspuren. Um den Anwohnern entgegenzukommen, schlug der Senator nach der Diskussion in der Kirche einen Kompromiss vor: Die Straße sollte zwar wieder vierspurig befahren werden, Tempo 30 sollte jedoch zunächst in einer Beobachtungsphase beibehalten werden. Außerdem sollten die LKW auf den zwei Mittelstreifen der Straße fahren, PKW, Busse und Taxen auf den beiden äußeren Fahrspuren. Die Anwohner akzeptierten diesen Kompromiss nicht. Sie sahen darin den Versuch, schrittweise zu den alten Zuständen von vor 1991 zurückzukehren. Die Einführung von Tempo 50 und die Abschaffung der Busspuren scheint eine Frage der Zeit zu sein. Die Stresemannstraße wäre wieder das, was sie vor 1991 war: »Wüste«, eine vierspurige, gefährliche, laute und schadstoffbelastete Schneise, die ein lebendiges städtisches Wohnviertel durchtrennt. Eine Straße mit unerträglichem Verkehr, bestimmt von Verkehrspolitikern, die diese Zustände zulassen. Wie diese Straße 1991 zu einem ganz anderen Symbol werden konnte, zeichnet diese Arbeit nach: Die Stresemannstraße wurde zum Symbol für eine neue Art, Verkehrsunfälle nicht mehr als gegeben hinzunehmen, für ausdauernden und erfolgreichen Protest der direkt Betroffenen und für den Beginn des Umdenkens von Kommunen, nicht mehr nur für das Auto zu planen und zu bauen, sondern auch die Interessen der Nicht-Autofahrer, der Stadtbewohner und der »Schwachen« im Verkehr zu berücksichtigen.

Leseprobe 3



Inhalt:

Einleitung
Die Stresemannstraße heute
Kapitel 1
Die »Stresemannstraße«

Die Geschichte der Stresemannstraße als »Straße von Bahrenfeld« und »Kleine Gärtnerstraße«
Die Geschichte der Stresemannstraße als Hauptverkehrsstraße
Konstruktion der heutigen Stresemannstraße als Verkehrsort
Wohnen an der Stresemannstraße
Die Umgebung der Straße als Ort von Lebendigkeit und Widerstand
Die Kreuzung als ein Brennpunkt
Kapitel 2
Der Unfalltod

Der Unfallhergang
Der verkehrswissenschaftlich-statistische Umgang mit dem Unfalltod
Die gesellschaftliche Wahrnehmung des Unfalltodes
Ein besonderer Unfall als Protestauslöser?
Kapitel 3
Die Verkehrspolitik

Verwaltung des Verkehrsbereichs
Verkehrsbetriebe
Verkehrspolitik der Parteien
Verkehrspolitische Interessen unterschiedlicher Gruppen und Verbände
Das besondere verkehrspolitische Setting vor dem Unfall an der Stresemannstraße
Kapitel 4
Die Protestierenden auf der Straße

Frauen und Mütter
Anwohner und Bürger
Kinder und Jugendliche
Exkurs: Ugur und die Eier
Die »Polit-Profis«
Die Anwohnerinitiative
Die besondere Zusammensetzung der am Protest Beteiligten
Kapitel 5
Unterstützung des Protestes

Die Stadtentwicklungssenatorin
Die Presse
Die Polizei
Die lokalen evangelischen Kirchen
Weitere Unterstützer
Die GAL
Die SPD
Robin Wood
Unterstützergruppen aus dem Bereich Umwelt und Verkehr
Kapitel 6
Politischer Protest als emotionale, symbolische und rituelle Reaktion auf den Tod

Emotionale Reaktion auf den Unfall und politische Instrumentalisierung
Schuldkonstruktionen
Tod und Protest als Bild
Tod und Protest als Text
Die Rituale am Tag der Beerdigung
Der Protest als erfolgreicher Kampf um Deutung und Definition
Kapitel 7
Rückkehr zur Normalität – Verkehrspolitik nach den Ereignissen an der Stresemannstraße

Konfrontation zwischen Polizei und Protestierenden
Juristischer und politischer Streit über die Rechtmäßigkeit des Protestes
Politischer Streit über die verkehrspolitischen Entscheidungen
Verkehr als umkämpftes Thema »auf der Straße« in der Zeit nach dem Protest
Die Anwohnerinitiative nach dem Protest
Kapitel 8
Die »Stresemannstraße« als Symbol

Anhang
Ethnologie an der Stresemannstraße
Die Situationsanalyse
Stadtethnologie
Protest
Anmerkungen
Literatur

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