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Frank Bsirske / Margret Mönig-Raane / Gabriele Sterkel / Jörg Wiedemuth (Hrsg.)

Perspektive neue Zeitverteilung

Logbuch 2 der ver.di-Arbeitszeitinitiative:
für eine gerechte Verteilung von Arbeit, Zeit und Chancen

256 Seiten | 2005 | EUR 16.80 | sFr 30.00
ISBN 3-89965-128-6 1

Titel nicht lieferbar!

 

Kurztext: In diesem Buch werden Alternativen zu der zutiefst menschen- und zukunftsfeindlichen Strategie der Arbeitszeitverlängerung ausgebreitet und diskutiert.


Wenn Gewerkschaften gegen den arbeitszeitpolitischen Rollback vorgehen wollen, müssen sie den Menschen eine Perspektive eröffnen, wie Arbeitszeitgestaltung in einer humanen und sozialen Gesellschaft aussehen soll. Mehr noch, sie müssen sich auf den Weg machen, mit ihnen diese Perspektive gemeinsam zu erarbeiten. In diese Richtung soll mit dem zweiten Logbuch der ver.di-Arbeitszeitinitiative vorangeschritten werden.

Dass die Exzesse neoliberalen Denkens gerade in der maßlosen Aneignung lebendiger Arbeit zutage treten, ist Ausdruck veränderter gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Gewerkschaften können ihre soziale Poesie nicht aus der Vergangenheit, sondern nur aus der Zukunft schöpfen: Nimm dir die Zeit, eigne dir die weggenommene, die enteignete Zeit wieder an, werde Souverän deiner Zeitverwendung. Es ist Zeit für eine erneute arbeitszeitpolitische Initiative der Gewerkschaften.

Dieses Buch beschreibt die neuen Herausforderungen der Gewerkschaften und die Pfade, auf denen sie bewältigt werden können. Gegen Arbeitszeitverlängerung gilt es eine geschlechterdemokratische Umverteilung von Arbeit und Zeit in der Lebenslaufperspektive stark zu machen.

Vermarktlichungsstrategien wälzen die Zusammenhänge von Zeit, Leistung, Einkommen und Gesundheit um. Wie entgrenzte Arbeit wieder ein Maß finden kann, wie "gute", humane Arbeit unter veränderten Bedingungen gestaltet werden kann, gehört zu den Leitfragen dieses Logbuches.

Leseprobe 1

Jörg Wiedemuth
Perspektive neue Zeitverteilung
Der Ansatz der ver.di-Arbeitszeitinitiative Folgt man dem Mainstream selbsternannter Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, liegen die Perspektiven des 21. Jahrhunderts in der Vergangenheit. Rollback heißt das Programm. Erneut werden – wie ein kritischer Zeitgenosse bereits im vorletzten Jahrhundert beobachtete – die Geister der Vergangenheit beschworen, alte Namen, Schlachtparolen und Kostüme hervorgekramt, um in altehrwürdiger Verkleidung die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. Und wo Perspektive und Vergangenheit in Eins gerührt werden, ist auch das Terrain der Auseinandersetzung markiert: die Zeit, genauer: das Verhältnis von lebendiger Arbeit und enteigneter Zeit, wie es ein Zeitgenosse der Gegenwart ausgedrückt hat. Wir erleben zur Zeit einen fundamentalen – und von vielen Protagonisten geradezu fundamentalistisch geführten – Angriff auf den tariflich geregelten Arbeitstag.   Ziel des arbeitszeitpolitischen Rollback-Versuchs ist es, die tariflich geregelten Arbeitszeiten wieder zu verlängern. Politiker und so genannte Wirtschaftsexperten überbieten sich schier darin, in welchem Ausmaß dies geschehen soll. Von der Rückkehr zur 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich bis zu 48 Stunden ist alles im Forderungspaket versammelt.   Sie glauben, die abhängig Beschäftigten in Deutschland und ihre Gewerkschaften sind durch 20-jährige Massenarbeitslosigkeit, mehrere Runden Sozialabbau und Lohnstagnation endlich so weit, sich nun auch unbezahlte Arbeitszeit, weniger Urlaub und arbeitsreiche Feiertage abpressen zu lassen.   Sie versuchen den Menschen zu suggerieren, mit Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich ließen sich alle Wachstumsprobleme der deutschen Wirtschaft mit einem Schlage lösen.   Und sie hoffen, die Belegschaften in den Betrieben, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben, von den Gewerkschaftern trennen zu können, die über die einzelwirtschaftliche Rationalität hinaus die negativen, arbeitsplatzvernichtenden gesamtwirtschaftlichen Folgen der Arbeitszeitverlängerung thematisieren. Kein Vorschlag ist kurios genug, als dass er nicht sofort Eingang in die Umlaufbahn des wirtschaftspolitischen Smalltalks finden würde. Eine besonders erlesene Kostprobe für die bornierte Vertretung kurzfristiger Profitinteressen der Arbeitgeber lieferte der Chefökonom der Deutschen Bank, Norbert Walter: "Wer im Job rauchen und Tee trinken will, soll das auch zukünftig tun dürfen", so Walter generös. "Aber keiner kann verlangen, dass Arbeitgeber Zigaretten- und Teepausen auch noch bezahlen. Zukünftig soll nur noch die echte Arbeitszeit bezahlt werden." Bei so viel Fortüne mag auch die SPD nicht nachstehen und gibt den Tarifvertragsparteien mit auf den Weg, doch bitte zu prüfen ob es nicht sinnvoll sei, unbezahlte Pausen abzuschaffen, so Klaus Brandner, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Aber das können die Spitzenkräfte des wirtschaftspolitischen Sachverstandes, die Experten der FDP, glatt überbieten. Dirk Niebel, FDP-Arbeitsmarkt"experte", fordert: "Wir sollten wieder erreichen, dass über die gesetzlichen Pausen hinaus nur die wirklichen Arbeitszeiten bezahlt werden." Für Gewerkschaften geht es ums Ganze. In dieser Zeit des Rollbacks bedarf es der offenen Debatte, wie sich Gewerkschaften strategisch und politisch aufstellen im Kampf gegen die maßlose Sucht der Kapitals, immer mehr Lebenszeit der lebendigen Arbeit einzusaugen, und im Streit mit den Politikern, denen nichts anderes einfällt, als der Misere, die es zu bekämpfen gilt, mit Mitteln zu Leibe zu rücken, die das Übel nur noch vertiefen werden. Dass die Exzesse neoliberalen Denkens gerade in der maßlosen Aneignung lebendiger Arbeit zutage treten, ist Ausdruck veränderter gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Unter dem jahrzehntelangen Druck steigender Massenarbeitslosigkeit sind die Gewerkschaften politisch in die Defensive gedrängt worden. Unsere Befürchtung, dass die Fortschreibung der Stagnation gewerkschaftlicher Arbeitszeitverkürzungspolitik seit Anfang der 1990er Jahre die Gefahr der schleichenden Verschlechterung der Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen erhöht, hat sich erfüllt. Wir müssen feststellen, dass die Gewerkschaften nicht nur die Offensive in arbeitszeitpolitischen Fragen weitgehend verloren haben, sondern spätestens seit Ende 2003 mit der Gegenoffensive von Arbeitgeberverbänden, neoliberalen Politikern und der versammelten Zunft des ökonomischen Unsinns, wie er durch die Person eines Wirtschaftsprofessors ähnlichen Namens verkörpert wird, konfrontiert sind. Gewerkschaften können ihre soziale Poesie nicht aus der Vergangenheit, sondern nur aus der Zukunft schöpfen: Nimm dir die Zeit, eigne dir die weggenommene, die enteignete Zeit wieder an, werde Souverän deiner Zeitverwendung. Es ist Zeit für eine erneute arbeitszeitpolitische Initiative der Gewerkschaften. Es wäre allerdings kurzschlüssig und kurzatmig, dem Unsinn arbeitsplatzvernichtender Arbeitszeitverlängerung eine Popularisierung der richtigen Forderung nach Arbeitszeitverkürzung entgegenzustellen, die dann wieder schnell an den Klippen der tagesaktuellen Tarifpolitik und den Untiefen unzureichender Mobilisierung und Durchsetzungschancen zerschellen würde. Aufgaben der ver.di-Arbeitszeitinitiative sind es,   Impulse zu geben, sich mit der Arbeitszeitrealität in den Betrieben und Verwaltungen stärker auseinander zu setzen, weshalb wir die gewandelten Arbeitszeitinteressen und -wünsche der Beschäftigten genauer erfragt und untersucht haben;   die Hemmnisse und Vorbehalte bei den Beschäftigten, die der Mobilisierungsbereitschaft für eine aktive Arbeitszeitpolitik im Wege stehen, aufzuarbeiten und daraus Erkenntnisse für die inhaltliche und politische Profilierung einer gemeinsamen ver.di-Arbeitszeitpolitik zu gewinnen;   Arbeitszeitpolitik wieder als Einheit von Arbeitszeitverkürzungs- und Arbeitszeitgestaltungspolitik zu denken, die stärker an den unmittelbaren Bedürfnissen der einzelnen Beschäftigtengruppen ansetzt und damit den Pfad für eine offensivere Arbeitszeitpolitik ebnet. Ziel ist es, bei den ehren- und hauptamtlichen FunktionärInnen einen Prozess in Gang zu setzen, der zu einer Stärkung des Bewusstsein führt, dass Zeit, gemeinsame freie Zeit, nicht nur eine Restgröße ist, die übrig bleibt, wenn man die Arbeitszeit abgezogen hat, sondern der Kitt, der das Funktionieren von Gesellschaften und der Ökonomie insgesamt erst möglich macht. Wir haben die Ergebnisse der bisherigen Arbeit aufbereitet in dem Buch: "Es ist Zeit: Das Logbuch der ver.di-Arbeitszeitinitiative" (Hamburg 2004). Die dort präsentierten Befunde unter anderem zur Arbeitszeitrealität in diesem Land, die das Wort vom "Freizeitweltmeister" als legitimatorische Phrase des Zeitdiebstahls ausweisen, und die Ergebnisse der ver.di-Mitgliederbefragung, in der die Bedürfnisse nach neuen, aus der Perspektive der Vollzeitarbeit verkürzten und stärker selbstbestimmten Arbeitszeitstandards zum Ausdruck kommen, sind unverzichtbare und gute Grundlagen für zukunftsgerichtete Debatten. Denn die politischen Kräfte, die die Auseinandersetzung der Gegenwart gewinnen wollen, werden einen Begriff und eine Vorstellung über die Zukunft haben müssen. Wer gegen die Arbeitszeitverlängerung erfolgreich streiten will, muss den Menschen auch eine Perspektive eröffnen, wie eine Arbeitszeitgestaltung in einer humanen und sozialen Gesellschaft aussehen soll. Mehr noch, er muss sich auf den Weg machen, mit ihnen diese Perspektive gemeinsam zu erarbeiten. Und Gewerkschaften, die dies wollen, müssen auch bereit sein, zu ihren Prinzipien zu stehen, selbst wenn dies schwierig ist und auch nicht immer von allen Mitgliedern in jeder Situation verstanden wird. In diese Richtung soll mit der vorliegenden Publikation – dem zweiten Logbuch der ver.di-Arbeitszeitinitiative – vorangeschritten werden. Thema des ersten Teils sind die neuen Herausforderungen, vor denen Gewerkschaften heute stehen, und die Lokalisierung der Pfade, auf denen sie bewältigt werden können. Im zweiten Teil werden weitere Ergebnisse der ver.di-Mitgliederbefragung ausgewertet, zum einen hinsichtlich genderspezifischer Arbeitszeitpräferenzen, zum anderen hinsichtlich der aus den Arbeitszeitproblemen und -wünschen von Dienstleistungsbeschäftigten sich ergebenden Anforderungen an gewerkschaftliche Politik. Der dritte Teil befasst sich mit der Arbeitszeitverteilung in der Lebenslaufperspektive, wo u.a. deutlich wird, weshalb Konzepte alternsgerechter Arbeitszeitgestaltung zu kurz greifen und die Zeitbedürfnisse der Menschen im Lebensverlauf erheblich vielfältiger sind. Im vierten Teil stehen die arbeitspolitischen Restrukturierungsprozesse in den Betrieben und Unternehmen im Mittelpunkt. Vermarktlichungsstrategien wälzen die Zusammenhänge von Zeit, Leistung, Einkommen und Gesundheit um. Wie entgrenzte Arbeit wieder ein Maß finden kann, wie "gute", humane Arbeit unter veränderten Bedingungen gestaltet werden kann, ist eine der Leitfragen. Im fünften Teil sollen gewerkschaftspolitische Schlussfolgerungen gezogen werden. Zum einen entlang der Frage, worum es bei der aktuellen Debatte um Arbeitszeitverlängerung wirklich geht. Zum anderen mit dem perspektivischen Blick darauf, wo Chancen bestehen, aus der Defensive herauszukommen und gemeinsam eine neue arbeitszeitpolitische Initiative zu starten. Eine lebenszeitpolitische Alltagsbetrachtung bildet den Abschluss. Sie kann den Blick schärfen für die gesellschaftlichen Veränderungen im Kleinen wie im Großen, die unsere Zeitkultur verändert haben, oft in einer Art und Weise, die uns gar nicht so bewusst ist. Dieser Veränderungen sollten wir uns vergewissern, damit sich geschichtliche Ereignisse nicht wiederholen – weder als Tragödie noch als Farce.

Leseprobe 2

Frank Bsirske
Arbeitszeitverlängerung in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit:
Ein Projekt der gesellschafts-politischen Gegenreform Arbeitszeitverlängerung in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit: Das ist ein Projekt der gesellschaftspolitischen Gegenreform. Das wird deutlich beim Bezug auf ein revolutionäres Ereignis. Volksvertreter, die in Frankreich auf die Idee kämen, den Nationalfeiertag am 14. Juli aus Kostengründen auf den nächst gelegenen Sonntag zu verschieben, könnten ihr Abgeordnetenmandat an den Nagel hängen. In Deutschland ist das anders. Da wird gerechnet, welchen finanziellen Vorteil die Verschiebung des Bundesfeiertages bringen würde – und ob das ausreichen könnte, die Maastricht-Kriterien einmal nicht zu verfehlen, weil die Neuverschuldung dann an einem größeren Bruttoinlandsprodukt gemessen werden könnte. Das war die Logik von Hans Eichel, als er im Herbst 2004 versuchte, die Verlegung des 3. Oktober zu begründen. Man sieht, die marktwirtschaftliche Logik ist auf dem Weg, sich von den letzten Tabus zu befreien. Der ehemalige BDI-Präsident Michael Rogowski brachte sogleich die Verlegung des 1. Mai auf einen Sonntag ins Spiel. Noch besser hätte er allerdings gefunden: "Wenn wir zur 40-Stunden-Woche zurückkehren, entspräche das dem Streichen von elf Feiertagen. Das brächte wirklich einen Schub für die Konjunktur und täte niemandem weh." Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner Ifo-Instituts und einer der maßgeblichen neoliberalen Ideologen der Bundesrepublik, hält die Streichung von Feiertagen für zu zaghaft. "Das Verhältnis von ökonomischem Effekt zu psychologischem Widerstand ist sehr ungünstig bei Feiertagen." Sinn bevorzugt eine Ausweitung der regulären Arbeitszeit um etwa 10%. "Das Wachstum" – womit er Arbeitszeitverlängerung meint – "ist der Königsweg. Wir nutzen die Maschinen besser aus und es ist ein Wachstumsschub möglich, ohne dass man mehr Kapital investieren muss. Wachstum über Arbeitszeitverlängerung ist praktisch zur Hälfte belohnt durch ein Geschenk des lieben Gottes. Es ist so, als würde man umsonst einen größeren Kapitalstock bekommen." Arbeitszeitverlängerung als Geschenk Gottes ist zweifellos ein origineller Gedanke. Damit gewinnt die Debatte eine geradezu theologische Dimension und entschieden höhere Weihen. Sonst wird sie ja für gewöhnlich in eher profaner Art und Weise geführt, indem man den Leuten fortgesetzt und systematisch einzureden versucht, die Deutschen arbeiteten zu wenig und verdienten zu viel – mit Ausnahme der Unternehmensvorstände. Rückblick auf eine Etappe emanzipatorischer Arbeitszeitpolitik Vor 20 Jahren stand die Länge der Wochenarbeitszeit schon einmal im Zentrum der gewerkschaftlichen Auseinandersetzung. Damals gelang es den Gewerkschaften nach wochenlangen Streiks, zumindest in einigen Wirtschaftsbereichen den Einstieg in die 35-Stunden-Woche durchzusetzen, ein Erfolg, der bei steigender Arbeitslosigkeit gegen massive öffentliche Interventionen von Regierung und Wirtschaft durchgesetzt werden konnte. Die Gewerkschaften hatten 1984 die arbeitszeitpolitische Initiative übernommen und konnten sich dabei nicht nur auf die Unterstützung vieler ihrer Mitglieder stützen, sondern auch auf ein breites Umfeld in der Gesellschaft. Die Sonne der 35-Stunden-Woche hatte große Strahlkraft. Mit ihr verband sich ein gesellschaftspolitisches Reformprojekt. Es ging um mehr als nur um ein paar Stunden weniger Arbeit in der Woche. Arbeitszeitverkürzung galt als wichtiges Instrument einer emanzipatorischen Arbeitszeitpolitik, als ein Instrument, das deutlich über die Gestaltung und Humanisierung der Arbeitsbedingungen hinaus ging. Mit der Arbeitszeitverkürzung wollten die Gewerkschaften die Balance zwischen Arbeit und Leben neu justieren, Arbeitsplätze sichern und schaffen und damit Lebensqualität verbessern und die Gesellschaft insgesamt humaner und gerechter gestalten. Heute steht die Arbeitszeit erneut im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, freilich unter umgekehrten Vorzeichen. Die Forderungen zur Arbeitszeitverlängerung bestimmen die öffentliche Debatte, wobei die Ziele der Arbeitgeber ganz eindeutig im Zeichen einzelbetrieblicher Rationalität stehen. Sie wollen ihre Kosten senken und ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Darüber hinaus kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es eigentlich darum geht, im Zuge dieser Auseinandersetzungen die Gewerkschaften nachhaltig zu schwächen. Die Strategie der Gegen-Reform Wir erleben ein regelrechtes Roll Back im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital. Während der Sozialstaat dem Kapitalismus einst Zügel anlegte, um ihn vor sich selbst zu schützen, läuft der Film jetzt rückwärts ab: Völlige Entfesselung der Marktkräfte, unterstützt durch eine staatliche Sozialpolitik, die zuallererst die Angebotsbedingungen der Wirtschaft und deren Wettbewerbsfähigkeit stärken soll – das steht auf der Agenda. Angespornt von ihren Verbänden nutzen große Konzerne wie Siemens, DaimlerChrysler, Opel und Bosch die Massenarbeitslosigkeit und die allgegenwärtige Angst um den Arbeitsplatz, um ihre Profite zu maximieren. Zur regulären Belegschaft zu gehören soll als Privileg angesehen werden, das mit immer neuen Verzichtsleistungen verdient werden muss. Der Druck wird verstärkt durch das massenhafte Vordringen prekärer, unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Und obendrauf kommen immer neue Angriffe auf die institutionellen Handlungsbedingungen der Gewerkschaften, auf die Mitbestimmung im Betrieb und Unternehmen, auf den Kündigungsschutz, das Warnstreikrecht. Die Länge der Arbeitszeit soll vorbehaltlos den betrieblichen Erfordernissen angepasst und dem Wettbewerbsdruck ausgesetzt werden, am besten, indem man die Aushandlung gleich ganz auf die betriebliche Ebene und zu den Betriebsräten hin verlagert. Nachdem die IG Metall 2003 bei dem Versuch scheiterte, die arbeitszeitpolitischen Ost-West-Gräben zuzuschütten, setzte im Frühjahr 2004 der bayerische Ministerpräsident Stoiber gemeinsam mit seinen Kollegen Teufel und Koch die Ankündigung um, die Wochenarbeitszeit der Landesbeamten um bis zu 3,5 Stunden zu verlängern. Stoiber bemühte sich schon gar nicht mehr um ein Dementi, als bekannt wurde, dass er sich mit Siemens-Chef von Pierer auf einen konzertierten Dammbruch verständigt hatte. Dieser gelang zuerst in den Siemens-Werken in Bocholt und Kamp-Lintfort mit der Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche. Arbeitszeitverlängerung wird von den Arbeitgebern auch dort auf die Tagesordnung gesetzt, wo schwarze Zahlen geschrieben werden, wo es also darum geht, die Eigenkapitalrendite auf ein höheres Niveau zu heben. Den ersten Vorstoß haben die Arbeitgeber im Frühjahr 2004 in der Tarifrunde der Metallindustrie gemacht. Die IG Metall konnte bei ihrem Tarifabschluss eine generelle Arbeitszeitverlängerung auf 40 Stunden abwenden, ebenso konnte sie Öffnungsklauseln verhindern, die die Entscheidung über die Länge der Arbeitszeit von vornherein auf den Betrieb verlagert hätte. Aber sie hat am Ende Zugeständnisse vereinbart, eine weitere Differenzierung der Arbeitszeit und die 40-Stunden-Woche für weitere Beschäftigtengruppen ermöglicht. Der IG Metall-Tarifabschluss vom Frühjahr sollte als Notdamm dienen, faktisch leitete er eine zweite Verhandlungsrunde in den Betrieben ein. Arbeitszeit und Arbeitsplätze Mit ausgetüftelten Begründungen zum Thema Arbeitszeitverlängerung hält sich das Arbeitgeberlager gar nicht erst lange auf. In den Industrieunternehmen verweist man reflexartig auf die Globalisierungszwänge. Die Exporterfolge müssten noch getoppt werden, dann würde Arbeitszeitverlängerung auch zu mehr Beschäftigung führen. Im öffentlichen Dienst soll die Arbeitszeit verlängert werden, damit Arbeitsplätze eingespart und somit die Haushaltskassen entlastet werden. Aus dem Handel erhalten wir mittlerweile Schreiben, in denen die Arbeitgeber den Wunsch nach Arbeitszeitverlängerung damit begründen, dass sie anders die verlängerten Öffnungszeiten nicht gewährleisten können. Und obwohl in vielen Betrieben über 50jährige allenfalls noch sporadisch anzutreffen sind – der Bundesagentur für Arbeit zufolge beschäftigen 60% der deutschen Unternehmen überhaupt niemanden mehr, der älter ist als 50 – soll bis zum 67. Lebensjahr gearbeitet werden, was weder mit Arbeitsplätzen noch mit Konsum, sondern ausschließlich etwas mit den Nöten der Rentenversicherung zu tun hat. Zur Beruhigung wird uns weis gemacht, Arbeitszeitverlängerung würde Löhne sichern. Es verdiene ja niemand weniger, die Leute sollten doch nur ein paar Stunden länger im Betrieb bleiben. Bei den vielen Reden über Lohnkostensenkung geht es in Wirklichkeit schlicht darum, die Rendite zu steigern. Damit wird jedoch zugleich eine neue Runde der Schwächung des Binnenmarktes eingeläutet. Doch könnte man sarkastisch sagen: In einer Zeit, in der Touristikunternehmen Vorreiter für die Streichung von Urlaubstagen und Urlaubsgeld sind, zählt Logik ohnehin nicht mehr. Ökonomisches Analphabetentum Dem öffentlichen Dienst war früh eine Vorreiterrolle bei der Arbeitszeitverlängerung zugedacht. Edmund Stoiber hat dies öffentlich erklärt: "Die Kündigung des Tarifvertrages über die bisherige 38,5-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst wird die Arbeitswelt in Deutschland verändern. Wenn schon der öffentliche Dienst auf eine Wochenarbeitszeit von bis zu 42 Stunden kommt, wird dies auch für die anderen Wirtschaftszweige nicht ohne Auswirkung bleiben." Was die Forderung nach 3,5 bis 7 Stunden unbezahlter Arbeitszeitverlängerung – und um nichts anderes geht es ja, denn Stoiber macht kein Hehl daraus, dass die Arbeitszeitverlängerung im öffentlichen Dienst dazu dienen soll, in der gesamten Volkswirtschaft die 42-Stunden-Woche einzuführen – für die Arbeits- und Lebenssituation der Betroffenen bedeutet, das wird in der Debatte gerne ignoriert. Da wird erklärt, wir hätten die kürzesten Arbeitszeiten in Europa, wir seien nicht wettbewerbsfähig und die Arbeitsplätze am Standort bedroht. Ein wenig mehr Arbeit sei doch nicht so schlimm: Wenn es einer Volkswirtschaft schlecht gehe, müsse man eben die Ärmel hochkrempeln, das bringe mehr Wachstum. Auf eine Kurzformel gebracht: Arbeit schafft Arbeit. Mit Verlaub: Das ist ökonomischer Unsinn. Bei einer um 10% längeren Wochenarbeitszeit können die Firmen 10% mehr herstellen, ohne neue Beschäftigte einzustellen. Die Wirtschaft müsste demnach um mehr als 10% wachsen, bevor die Mehrarbeit einen einzelnen Arbeitslosen in Lohn und Brot bringt. Warum aber sollte die Produktion in einem solchen Umfang ausgeweitet werden? In einer Situation, in der vier Fünftel der Beschäftigten für den Binnenmarkt produzieren und der Binnenmarkt im vierten Jahr hintereinander darnieder liegt, zwischenzeitlich sogar rückläufig ist, macht das keinen Sinn. Bei einem Großteil der Firmen könnte die gleiche Produktion mit einer um 10% geringeren Belegschaft hergestellt werden. Das aber bedeutet Arbeitsplatzabbau, Entlassungen. Das kündigen Leute wie Koch, Stoiber und der niedersächsische Finanzminister Möllring auch ganz unverhohlen an. Ich will daran erinnern, dass Koch in Hessen die Einführung der 42-Stunden-Woche für die Beamten des Landes mit der Ankündigung begleitet hat, dadurch könnten 7.500 Beamtenarbeitsplätze in Hessen eingespart werden. Stoiber hat in Bayern von 7.800 gesprochen. Umgerechnet auf den gesamten öffentlichen Dienst und unter Einschluss der Tarifbeschäftigten würde das den Verlust von rund 150.000 Arbeitsplätzen bedeuten. Umgerechnet auf die Volkswirtschaft würden mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze wegfallen. Bei lahmender Binnenkonjunktur lautet die ökonomisch korrekte Formel: Mehr Arbeit schafft Arbeit weg. Doch statt den Weg besserer Erkenntnis zu gehen, erhöht man den Druck auf diejenigen, die um ihre Arbeitsplätze fürchten oder bereits auf die Straße gesetzt worden sind. Die "Financial Times Deutschland" kommentierte jüngst völlig zu Recht: "Eine pauschale Verlängerung der Wochenarbeitszeit würde es den Arbeitslosen gerade in jenem Moment unmöglich machen, eine Stelle zu finden, in dem der Druck auf sie erhöht wird, sich selbst um ihren Lebensunterhalt zu kümmern. Eine solche Politik wäre nicht nur perfide, sie würde auch die Langzeitarbeitslosen weiter demotivieren und damit die Arbeitslosigkeit zementieren." Aber gerade das Schüren von Angst gehört ja zum Konzept derjenigen, die Arbeitszeitverlängerung durchsetzen wollen. Durch Standortkonkurrenz in die Deflation? Von offizieller Seite wird die Auseinandersetzung mit Argumenten geführt, die auf die Unkenntnis der Menschen spekulieren und auf Volksverdummung hinauslaufen. Dazu gehört die Behauptung, dass wir in der Bundesrepublik die kürzesten Arbeitszeiten in Europa hätten. Tatsächlich liegen die durchschnittlichen tariflichen Arbeitszeiten in der Bundesrepublik über denen in Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien. Betrachtet man nicht nur die tariflichen Arbeitszeiten, sondern die tatsächlich geleistete durchschnittliche Wochenarbeitszeit, liegt die Bundesrepublik mit 39,9 Wochenstunden ziemlich exakt im Durchschnitt der alten Europäischen Union. Nur in Griechenland, Spanien, Portugal, Österreich und Großbritannien wird noch länger gearbeitet als in Deutschland – was nebenbei bemerkt auch etwas darüber aussagt, dass in Großbritannien die Schere zwischen tariflichen und tatsächlichen Wochenarbeitszeiten besonders groß ist. Hinzu kommt: In keinem anderen europäischen Land wurde die Arbeitszeit in ähnlichem Maße flexibilisiert und nirgendwo hat die Einführung von Arbeitszeitkonten vergleichbare Verbreitung gefunden wie in Deutschland. Auch durch die Flexibilisierung der Arbeitszeit konnten die Lohnkosten gesenkt und die Produktivität gesteigert werden. Überhaupt lohnt es sich, einmal die Entwicklung der Lohn- und Lohnstückkosten unter die Lupe zu nehmen: Beide sind im europäischen und internationalen Vergleich seit einigen Jahren in Deutschland besonders niedrig. Wie sehen die Fakten aus? In den letzten beiden Jahren waren wir bezüglich der Lohnentwicklung Schlusslicht in Europa. Es hat in der Europäischen Union vor der Erweiterung in 2004 kein Land gegeben, wo noch niedrigere Lohnabschlüsse zustande gekommen sind als in der Bundesrepublik. Das Niveau der Lohnstückkosten ist durchschnittlich niedriger als das der Hauptwettbewerber in den Industriestaaten und hat sich über lange Zeit günstiger entwickelt als bei den anderen. Die Nettorealeinkommen der Beschäftigten sind seit der deutschen Einheit nicht nur nicht gestiegen, sondern liegen heute unter denen des Jahres 1991. Der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am gesamten Volkseinkommen ist auf 69% gefallen, niedriger lag dieser Anteil zuletzt im Jahr 1970. Die Vermögenseinkommen sind dagegen um ein Fünftel hochgeschnellt. Die Lohnkosten je produzierter Einheit nehmen seit Jahren kaum mehr zu. Weil die Firmen gleichzeitig ihre Preise noch anheben konnten, liegen die Lohnstückkosten real heute um 2% niedriger als 1996 und 5% niedriger als 1970 – auch das konnten Kommentatoren, die sich um gewerkschaftliche Analysen nicht scheren, vor kurzem in der "Financial Times" nachlesen. Kein Wunder, dass die deutsche Volkswirtschaft Exportweltmeister ist und Exportrekord auf Exportrekord verzeichnet. Seit 2002 ist Deutschland nicht nur Weltmeister beim Exportüberschuss, beim Außenbeitrag, sondern auch bei der absoluten Höhe der Exporte, und liegt damit noch vor den USA. Und das, obwohl dort mehr als dreieinhalb mal so viele Menschen arbeiten. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen ist insgesamt gesehen exzellent. Dennoch sind die Arbeitslosenzahlen gestiegen. Der Grund: Vier Fünftel des Bruttoinlandsproduktes werden im Binnenmarkt erwirtschaftet, wo die Realeinkommen stagnieren und die öffentlichen Haushalte weniger investieren. Das läuft falsch im Exportweltmeisterland Deutschland. In einer solchen Situation Lohnsenkungen durchsetzen zu wollen und den Sparkurs der öffentlichen Haushalte weiter zu verschärfen, erhöht die Deflationsgefahr. Wir geraten in eine Spiralentwicklung, in der Löhne und Preise wechselseitig fallen und die Unternehmen sich dreimal überlegen, ob sie jetzt investieren. Warum sollten sie das auch, wenn in ein paar Monaten die Investitionsgüter, die sie kaufen wollten, noch billiger sind. Dann brechen die Einnahmen der staatlichen Haushalte noch weiter weg und die gesamte Volkswirtschaft gerät in einen Abwärtsstrudel – so wie das Anfang der 1930er Jahre in der Deflationskrise der Fall war. Gewerkschaftliche Koordinierung Im Rahmen der Doorn-Initiative, einem Koordinationsprojekt der Gewerkschaften im Benelux-Raum, ist intensiv über die Wechselwirkung tarifpolitischer Ergebnisse im europäischen Kontext diskutiert und vereinbart worden, die durch den gemeinsamen Markt forcierte Konkurrenz bei den Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zu begrenzen. Bei der Tarifkonferenz der Doorn-Initiative wurde im Oktober 2004 eine gemeinsame Erklärung gegen Arbeitszeitverlängerung verabschiedet: "Die Forderung nach einer allgemeinen Heraufsetzung der Arbeitszeit lehnen die Gewerkschaften als wirtschaftspolitisch unsinnig, gesellschaftspolitisch rückschrittlich und die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer missachtend ab." In der Tat, Arbeitszeitverlängerung bedeutet Lohnkürzung, sinkt doch das Stundenentgelt der Beschäftigten und damit in vielen Tarifverträgen die Berechnungsbasis für Zuschläge aller Art. Ganz unmittelbar wirkt die Lohnkürzung bei Teilzeitbeschäftigten, die ihre Stundenzahl aus den verschiedensten Gründen nicht ohne Weiteres erhöhen können. Für sie bedeutet Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich eine direkte Entgeltkürzung. Für alle ArbeitnehmerInnen bringt Arbeitszeitverlängerung zusätzliche Belastungen mit sich sowie einen zusätzlichen Verschleiß der Arbeitskraft. Arbeitszeitverlängerung führt dazu, dass aller Voraussicht nach wieder mehr Frauen aus dem Erwerbsleben oder in kurze Teilzeitjobs gedrängt werden. Es ist daher notwendig, dass wir Gewerkschaften uns klar gegen Arbeitszeitverlängerung positionieren. In unserem Organisationsbereich haben wir Arbeitszeitverlängerungen bisher noch im Wesentlichen verhindern können. Bei den Zeitungsredakteuren haben wir in einem mehrwöchigen Streik die Wochenarbeitszeitverlängerung abgewehrt, dafür allerdings Urlaubskürzungen hinnehmen müssen. Nicht abgewehrt werden konnte die Arbeitszeitverlängerung für die Beamten. Hier hat es zwischenzeitlich unterschiedlich große Arbeitszeitverlängerungen gegeben. Im Postdienst wurde die Möglichkeit zur 48-Stunden-Woche auf freiwilliger, individueller Basis eröffnet. In anderen Fällen allerdings hatten wir mehr Erfolg. Ich nenne beispielhaft Karstadt und auch Thomas Cook, wo andere Lösungen zur Sanierung der angeschlagenen Unternehmen gefunden wurden. Und das trotz erheblichen Drucks von Seiten der Medien und der Arbeitgeber und – insbesondere gilt das für Karstadt – der hinter ihnen stehenden Banken. In verschiedenen Fällen haben wir uns für Arbeitszeitverkürzungen entschieden, um die Beschäftigungsverhältnisse sichern zu können. Das prominenteste Beispiel ist die Regelung bei der Deutschen Telekom AG. Hier konnten wir mit einer Arbeitszeitverkürzung bei teilweisem Lohnausgleich, d.h. mit insgesamt sehr moderaten Lohneinbußen, den Abbau von Zehntausenden von Arbeitsplätzen verhindern. Auch im öffentlichen Dienst waren die Verhandlungen über die größte Tarifreform seit 40 Jahren wesentlich durch die Forderung der Arbeitgeber nach Arbeitszeitverlängerung geprägt. Nachdem die Bundesländer – vor allem auf Drängen der unionsregierten Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen – über die Arbeitszeitfrage den Tarifverbund im öffentlichen Dienst bereits im Jahr 2004 aufgesprengt hatten, bauten auch die Arbeitgeber von Kommunen und Bund im Vorfeld der Tarifrunde großen Druck auf die Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Stunden auf. Die Arbeitszeitverlängerung war eine der Sollbruchstellen, an der über die Reform des öffentlichen Tarifrechts und damit über die Zukunft des Tarifverbunds im öffentlichen Dienst und den Flächentarifvertrag entschieden werden sollte. Die Tarifeinigung im Februar 2005 konnte diesen Druck nicht völlig abwehren, ihn jedoch in einer differenzierten Weise auffangen. In zwei großen Tarifbereichen – den Kommunen Ost und beim Bund – kann die Verlängerung der Arbeitszeit bis zum Jahr 2007 nicht mehr auf die tarifpolitische Tagesordnung gesetzt werden. Beim Bund wurde dies durch einen Arbeitszeitkompromiss erreicht, der eine einheitliche Arbeitszeit von 39 Stunden vorsieht. Für die Bundesbeschäftigten im Osten bedeutet das eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich von 40 auf 39 Stunden; im Westen eine Verlängerung von 38,5 auf 39 Stunden ohne Lohnausgleich. Bei den Kommunen im Westen wurde eine Öffnungsklausel vereinbart, die bei entsprechender Einigung zwischen den Tarifvertragsparteien eine Arbeitszeitverlängerung auf bis zu 40 Stunden ermöglicht. Sie enthält zwei wesentliche Schwellen: Vorausgesetzt wird eine Kündigung der Arbeitszeitbestimmungen und damit das Ende der gewerkschaftlichen Friedenspflicht. Zudem ist die Kündigung durch einzelne Kommunen unmöglich, eine Änderung kann nur landesweit erfolgen, was eine Bündelung der gewerkschaftlichen Kräfte ermöglicht. Die Abwehr von Arbeitszeitverlängerungen dürfte auch die Verhandlungen in der Druck- und Papier verarbeitenden Industrie im ersten Halbjahr 2005 prägen. Hier steht eine weitere Bewährungsprobe bevor, denn die Arbeitgeber haben die Manteltarifverträge gekündigt und fordern nach dem Muster der Metallarbeitgeber die 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich nebst bedingungslosen Öffnungsklauseln und ein ganzes Bündel weiterer Verschlechterungen. Insgesamt sind die Ergebnisse unserer Abwehrkämpfe gegen Arbeitszeitverlängerungsvorstöße bisher durchaus vorzeigbar. In jedem dieser Tarifabschlüsse geht es darum, die Dämme gegen die allgemeine Erhöhung der Wochenarbeitszeit zu sichern. Denn Arbeitszeitverlängerungen haben nicht nur für unseren Organisationsbereich Auswirkungen, sondern für die ganze Republik. Zudem ist kaum vorstellbar, dass eine Anhebung der Arbeitszeiten beim Exportweltmeister ohne Auswirkungen auf die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen im europäischen Umfeld bliebe. Die Bedeutung der vor uns liegenden Auseinandersetzung ist jedenfalls nicht zu unterschätzen. Es ist ja interessant, auf die Situation in anderen Ländern zu schauen, zum Beispiel in Frankreich, wo staatlicherseits 90% der abgeschlossenen Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt werden und wo wir einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,67 Euro pro Stunde vorfinden. Überhaupt hilft der Blick ins europäische Umfeld manche Legende und manches Vorurteil aufzulösen. Ich erinnere daran, dass wir mittlerweile gesetzliche Mindestlöhne von Irland bis Luxemburg haben. Irland hat im Jahr 2000 einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,01 Euro pro Stunde eingeführt – das klassische Armutsland in Europa über Jahrhunderte. Und zwischen 7,01 Euro und etwas mehr als acht Euro pro Stunde in Luxemburg liegen Großbritannien mit 7,13 Euro gesetzlichem Mindestlohn pro Stunde, die Niederlande und Belgien mit 7,23 bzw. 7,29 Euro, dann Frankreich mit 7,67 Euro pro Stunde. Da soll niemand denken, dass die französische Volkswirtschaft einem Wettlauf um die Senkung der Lohnstückkosten und die Verlängerung der Arbeitszeit, dessen Motor der Exportweltmeister Bundesrepublik ist, tatenlos zusehen kann. Die Bedeutung der vor uns liegenden Auseinandersetzung ist auch im Wechselverhältnis zu den anderen europäischen Volkswirtschaften erheblich. Das sollten wir im Hinterkopf behalten. Ein arbeitszeitpolitisches Gesamtkonzept Wir müssen noch einiges an Überzeugungsarbeit leisten und die Erfolgsbedingungen gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik sorgfältig durchdenken. In der aktuellen Situation, bei über fünf Millionen Arbeitslosen angesichts der wachsenden Angst vor Arbeitsplatzverlust, die durch den Sozialabbau noch verstärkt worden ist, neigen auch manche unserer KollegInnen dazu, für einen einigermaßen sicheren Arbeitsplatz und ein einigermaßen akzeptables Einkommen längere Arbeitszeiten als vermeintlich kleineres Übel in Kauf zu nehmen. Und immer wieder gibt es Betriebsräte, die meinen, sich für ihre Belegschaft gut einzusetzen, wenn sie kollektive Standards und Vereinbarungen mit den Unternehmensleitungen über Bord werfen. Keine Frage, gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik, wenn wir sie über die tagesaktuellen Tarifauseinandersetzungen hinaus strategisch reflektieren, befindet sich in einem von Widersprüchen durchzogenen Feld. Einerseits haben wir es in den Unternehmen immer stärker mit Führungskonzepten zu tun, die auf Rationalisierung in begrenzter Eigenregie der Beschäftigten setzen. Dabei werden höhere Eigenverantwortlichkeit, Qualifikationen und Kompetenzanforderungen von Beschäftigten durchaus als positiv und als Chance individueller Entfaltung empfunden. Das kommt den gewandelten Arbeits- und Erwerbsorientierungen vor allem von Jüngeren und höher Qualifizierten entgegen. Andererseits erschließt die Aufwertung der betrieblichen und betriebsrätlichen Handlungsebene, deren Zeuge wir seit längerem werden, der gewerkschaftlichen Interessenvertretung zunächst jedoch kein Terrain, das zügig besetzt werden könnte. Für unsere Diskussionen im Rahmen der Arbeitszeitinitiative heißt das, dass wir noch stärker darüber nachdenken müssen, wie ein Gesamtkonzept gestaltet werden kann, in dem die verschiedenen Handlungsebenen aufeinander bezogen sind. Wichtig scheinen mir hier vor allem die Schnittpunkte zwischen der Tarifpolitik und dem aufgewerteten Feld der Betriebspolitik in Form dezentraler Einflussmöglichkeiten, verbesserter individueller Wahlmöglichkeiten sowie Mitbestimmungs- und Kontrollmöglichkeiten am Arbeitsplatz zu sein. Konkret heißt das, dass den Beschäftigten selbst künftig eine aktivere, wenn nicht die entscheidende Rolle bei der Realisierung vereinbarter Arbeitszeitregulierung zukommen muss. Für eine gewerkschaftliche Politik der Begrenzung und Gestaltung von Lage und Verteilung der Arbeitszeit bedeutet das, unmittelbarer als bisher an den Bedürfnissen und Interessen der Beschäftigten anzusetzen. Dazu bedarf es einer breiten Debatte über konsensfähige Leitbilder der Arbeitszeitregulierung. Denn nur, wenn sich die Beschäftigten mit den Regelungen identifizieren, werden sie ihnen auch Geltung verschaffen. Damit individuelle Präferenzen zum Zuge kommen können, bedürfen sie kollektiver Absicherung, beispielsweise in Form von geschützten Wahlmöglichkeiten von Vollzeit- und Teilzeitarbeitsmodellen, der Gleichstellung von Vollzeit und Teilzeit, in Form von Arbeitszeitkontenregelungen und erweiterten Möglichkeiten, die Erwerbstätigkeit z.B. durch Qualifizierungszeiten zu unterbrechen. Und was die Betriebs- und Personalräte betrifft, so fungieren diese zunehmend als Anker der Arbeitszeitregulierung – freilich in einem Umfeld, das ihnen dafür schwächer werdenden Halt bietet. Hilfreich wäre deshalb, darüber nachzudenken, Interventionsmöglichkeiten zu schaffen, die in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen definiert werden und Situationen beschreiben, in denen der Betriebs- bzw. Personalrat ins Spiel kommen muss. Was wir brauchen und im Zuge der weiteren Auseinandersetzungen erarbeiten müssen, ist eine Vorstellung davon, wie wir morgen leben wollen. Wir brauchen eine positive Alternative zu einer Entwicklung, in der die Gesellschaft im Angesicht immenser Akkumulation privaten Reichtums immer ärmer zu werden scheint. Die Anlage unserer Arbeitszeitinitiative als leitbildorientierter Prozess mit den Etappen Analyse, Debatte, Entwicklung praktischer Schritte bietet dafür einen guten Rahmen.

Leseprobe 3

Sybille Stamm
Länger arbeiten macht arbeitslos – Stoppt die Zeitdiebe!
Die Arbeitszeitkampagne im ver.di- Landesbezirk Baden-Württemberg Verlust der Hegemonie Die Gewerkschaften haben die Hegemonie in der Zeitfrage verloren – in den Betrieben ebenso wie in der Gesellschaft. Mitte der 1990er Jahre kam der Zug der Arbeitszeitverkürzung nicht nur zum Stillstand, sondern hat auf Rückwärtsgang geschaltet. Dafür gibt es zahlreiche Gründe, die vor allem in einer sich verschlechternden beschäftigungs- und verteilungspolitischen Situation liegen. Aber: Diese Faktoren waren noch ein Jahrzehnt zuvor stichhaltige Argumente dafür gewesen, dass viele weniger arbeiten, damit nicht immer mehr auf Arbeitszeit Null gesetzt werden. Seitdem haben mit der Länge des Arbeitstages nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch Stress und Zeitnot zugenommen. Im Verhältnis von Ausdehnung und Intensivierung der Arbeit gibt es einen Knotenpunkt, jenseits dessen das eine nurmehr auf Kosten des anderen möglich ist, hatte Marx in seinen Ausführungen über den Arbeitstag geschrieben. Im flexiblen Kapitalismus der Gegenwart haben wir erfahren, dass dieser Knotenpunkt sehr variabel verschiebbar ist. Es ist eine der Ausdrucksformen politischer Defensive, bei der Beschreibung "objektiver" Veränderungen zu verharren und wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren: heißt sie nun Globalisierung, Standortkonkurrenz, Shareholder Value, Vermarktlichung oder Verbetriebswirtschaftlichung. Gewerkschaften – und mit ihnen alle sozialen Kräfte, die die Erkenntnis der Gestaltungsfähigkeit der sozialen Verhältnisse nicht gegen den Mythos marktradikaler Sachzwänge eingetauscht haben – sollten sich aus der kritischen Betrachtung des Vergangenen nicht ausnehmen. Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört, dass die Arbeitszeitfrage seit Mitte der 1990er Jahre politisch zu Gunsten einer ganzen Reihe anderer Abwehrkämpfe vernachlässigt wurde. So sehr, dass Versatzstücke der herrschenden neoliberalen Ideologie, wie die, dass Arbeitszeitverlängerung Arbeitsplätze sichert und hohe Lohn(neben)kosten diese gefährden, Eingang in die eigene Politik gefunden haben. Es ist höchste Zeit, dass wir uns über wirksame, d.h. argumentativ überzeugende und in politischen Aktionen umsetzbare Gegenstrategien verständigen. Wegducken geht nicht; die häppchenweise Überlassung von freier Zeit hat den Hunger nach Mehrarbeit nicht gestillt, sondern den Appetit noch angeregt. Die Angriffe auf die tariflich gesicherten Arbeitszeiten nehmen zu. Eisbrecherfunktion hatte im vergangenen Jahr der öffentliche Dienst mit der Kündigung der Arbeitszeitbestimmungen im BAT und der Einführung der 41-Stunden-Woche für Neueingestellte und bei Höhergruppierungen. Aber auch in der Druckindustrie, der Papierverarbeitenden Industrie, dem Einzel- und Großhandel drohen Arbeitgeberverbände und Konzerne, die tariflichen Arbeitszeitregelungen zu kündigen mit dem Ziel, länger arbeiten zu lassen. Die Breite der Angriffe in nahezu allen Branchen erfordert den Aufbau einer offensiven Widerstandslinie, um regulierte Arbeitszeiten zu schützen, den mit immer mehr Arbeit ohne Ende verbundenen Lohnabbau abzuwehren und das Thema Arbeitsumverteilung wieder als Kernthema in den politischen und gesellschaftlichen Raum zu tragen. Dass das möglich ist, zeigt die Brüchigkeit der ideologischen Hegemonie von Arbeitgeberverbänden und Regierenden. Alle Umfragen – nicht zuletzt auch die große Umfrage unter den ver.di-Mitgliedern[1] – belegen, dass die Beschäftigten ein großes Bedürfnis nach individueller Arbeitszeitgestaltung haben, und dass sie eher kürzer statt länger arbeiten wollen. Unter dem Druck von Arbeitgebern schleicht sich hinter dem Rücken agierender Gewerkschaften zunehmend eine – bisher noch nicht laut formulierte – Haltung ein, die in etwa lautet: "Lieber ein paar Stunden länger arbeiten, als den Arbeitsplatz verlieren". An diesem Widerspruch setzt die Arbeitszeitkampagne des ver.di Landesbezirks Baden-Württemberg an, mit dem Ziel, unsere Mitglieder zu unterstützen, sich gegen Arbeitszeitverlängerung zur Wehr zu setzen, und sie für die Durchsetzung ihrer eigenen Zeitbedürfnisse zu mobilisieren. Dabei geht es nicht nur um den Aufbau von Widerstandslinien gegen Arbeitszeitverlängerung und Lohnsenkung, sondern auch darum, die Hegemonie über die Arbeitszeitfrage im gesellschaftlichen Raum zurückzugewinnen. Es geht um eine konzeptionell-inhaltliche und organisatorische Verzahnung der Arbeit in den Fachbereichen/Betrieben einerseits und im Landesbezirk und den Bezirken andererseits mit dem Ziel, betriebliche Konfliktfähigkeit zurückzugewinnen und auszubauen. Die Warnstreiks und Aktionen im Bereich der Landesbeschäftigten in Baden-Württemberg in drei Wellen – November, Februar und April –, insbesondere die zunehmende Konfliktbereitschaft auch in den vier großen Universitätskliniken des Landes, sind erste positive Ergebnisse der Arbeitszeitkampagne. Arbeitszeit und Beschäftigteninteressen Die Arbeitszeitfrage hat verschiedene Dimensionen, die für die Menschen wichtig sind. Deshalb sind folgende argumentative Zusammenhänge inhaltlicher Gegenstand unserer Arbeitszeitkampagne: Arbeitszeit und Beschäftigung: Hier muss thematisiert werden, dass angesichts anhaltender Massenarbeitslosigkeit Arbeitsumverteilung auf der Tagesordnung steht, weil Arbeitszeitverlängerung Arbeitsplätze nachweislich vernichtet. Arbeitszeit und Gesundheit: Der Zusammenhang zwischen Arbeitsverdichtung, Verlängerung der Arbeitszeit auf der einen und Gesundheitsgefahren auf der anderen Seite muss wieder stärker bewusst gemacht werden. Arbeitszeit und Lebenszeit: Hier geht es um den Wohlstand freier Zeit, um gesellschaftliche Zeitrhythmen, die in einer zeitfragmentierten Gesellschaft immer mehr angefressen werden. In diesen Zusammenhang gehören auch die Gefahren der Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 oder gar 70 Jahre. Arbeitszeit und Entgelt: Immer häufiger wird Arbeitszeitverlängerung unentgeltlich abverlangt. Die Scheinargumentation lautet: lieber länger arbeiten als auf Geld verzichten. Dabei ist Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich nichts anderes als Lohnkürzung. Das muss verdeutlicht werden. Insbesondere für die Teilzeitbeschäftigten, in der Regel Frauen, die ohnehin ein sehr enges Zeitkorsett haben und nicht einfach die Arbeitszeit verlängern können, stellt unentgeltliche Arbeitszeitverlängerung eine empfindliche Lohnsenkung dar. "Arbeitszeit auf dem Prüfstand" Die Arbeitszeitfrage gehört in den Betrieb. In der Alltagspraxis müssen die Auswirkungen von Arbeitszeitverlängerung deutlich werden. Das war vor 20 Jahren, als es um die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche ging, nicht anders. Damals haben wir in der IG Metall Baden-Württemberg die Aktion "Arbeitszeit auf dem Prüfstand" Betrieb für Betrieb durchgeführt. Was bringt Arbeitszeitverkürzung für die Arbeitsplätze, für den Menschen, für Freunde und Familie? – diese Fragen standen damals im Mittelpunkt der Aktionen. In der Arbeitszeitkampagne 2004/2005 geht es um andere Fragen und Aktionen: Wie viele Arbeitsplätze gingen verloren, wenn die Arbeitszeit auf 37/40/41 Stunden verlängert wird? Um wie viel wird das Entgelt gesenkt, wenn die Unternehmer die geplanten Arbeitszeitverlängerungen durchsetzen würden? Ein Beispiel: Im Arbeitskampf der RedakteurInnen im Frühjahr 2004 haben Betriebe errechnet, wie viele Redakteurs-Arbeitsplätze verloren gingen, wenn die Arbeitszeit von 36,5 auf 40 Stunden, wie von den Verlegern gefordert, erhöht würde. Während der Auseinandersetzung waren auf der Betriebsversammlung eines Zeitungsbetriebes die ersten drei Reihen mit 39 RedakteurInnen-Arbeitsplätzen mit schwarzen Kreuzen gekennzeichnet und blieben leer. Eine solche Aktion hat der Belegschaft schlagartig verdeutlicht, dass es um ihre eigenen Arbeitsplätze geht – eine Erkenntnis, vor der sich keiner wegdrücken kann. Im Forschungszentrum Karlsruhe haben Kolleginnen und Kollegen errechnet, dass mit der Verlängerung der Arbeitszeit auf 41 Stunden 227 Arbeitsplätze vernichtet würden. Auf einer Personalversammlung waren diese 227 Arbeitsplätze im Versammlungssaal durch eine Unfallabgrenzung markiert und blieben mitten im Saal als großer freier Raum leer. Die Belegschaft hat sofort verstanden, wie bedrohlich Arbeitszeitverlängerung für jeden einzelnen ist. Mit der Aktion "Arbeitszeit auf dem Prüfstand" von Juli bis Oktober 2004 wurde ermittelt, dass in Baden-Württemberg im Öffentlichen Dienst, in der Druckindustrie und Papierverarbeitung, im Einzel- und Großhandel, 64.668 Arbeitsplätze vernichtet würden, sollten sich die Unternehmer mit ihren Forderungen nach Arbeitszeitverlängerung durchsetzen. Generationen-Zeitvertrag Die Angst um den Arbeitsplatz und die ideologische Beeinflussung durch Medien, Politik und Unternehmer verführen Beschäftigte zu einer inneren Haltung, bloß nicht aufzufallen, sich anzupassen, auch wenn man von der Propaganda der Gegenseite nicht überzeugt ist. "Man kann ja doch nichts machen ..." – dieser Fatalismus muss aufgebrochen werden. Wie? Indem man zum Beispiel an den Widersprüchen, die jeder in sich trägt, anknüpft. Eine Seite dieses Widerspruchs, die Arbeitszeitverlängerung verbietet, ist die Verantwortung für die nachwachsende Generation, die Jugend, die eigenen Kinder. Mit der Aktion "Alt für Jung" wird betrieblich und auf Marktplätzen ein neuer Generationen-Zeitvertrag entwickelt. Im Betrieb läuft es so: Auf einem großen Plakat werden Fotos und Namen derjenigen gesammelt, die von Entlassung oder Nichtübernahme bedroht sind. Auf einem zweiten Plakat sammeln wir Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten – auch mit Namen und Foto. Wenn acht Vollzeitbeschäftigte erklären, dass sie täglich auf eine Stunde Arbeitszeit verzichten würden, kann ein neuer Arbeitsplatz für die Jugend geschaffen werden. Hintergrund ist natürlich: Jenen, die einen Vollzeit-Arbeitsplatz haben, soll eine Art "schlechtes Gewissen" gemacht werden, wenn sie bereitwillig länger arbeiten würden. Diese Aktion soll im Frühjahr/Sommer 2005 ausgebaut werden, auch in Form von großen Fotowänden für öffentliche Aktionen auf Plätzen und in Fußgängerzonen. Deutlich werden soll, dass jede Stunde Arbeitszeitverlängerung eines einzelnen Beschäftigten eine Stunde vernichteter Zukunftschance für einen jungen Menschen bedeutet. Folgerichtig lautet das Motto der Arbeitszeitkampagne "Statt Arbeitszeit verlängern... Arbeit umverteilen! Der Jugend eine Chance!" Aktion "Pünktlich Feierabend..." – Männer gegen Arbeitszeitverlängerung Dies ist ein weiterer Aktionsansatz, den unsere Väter und Männer entwickelt haben in der richtigen Überzeugung, dass die Arbeitszeitfrage keine alleinige Frauenfrage, sondern zunehmend eine Männerfrage ist. Dazu gibt es Flyer, Infomaterial etc. Diese Aktion soll zukünftig verstärkt mit Info-Ständen in Fußgängerzonen und auf Marktplätzen, aber auch im Betrieb genutzt werden, um die Männer an ihre Verantwortung für Familie und insbesondere für die junge Generation zu erinnern. Alles hat seine Zeit Die Arbeitszeitfrage ist bündnisfähig:   Mit der Jugend, weil ihre Zukunft bedroht ist.   Mit Frauen, denen Arbeitszeitverlängerung Zugänge zur Erwerbsarbeit versperrt und deren berufliche Weiterentwicklung behindert wird.   Mit Männern, für die die Zeit eines patriarchalischen Rollenverhaltens eigentlich bereits überwunden war.   Mit den vielen zivilgesellschaftlich aktiven Gruppen, Verbänden, Initiativen, die gemeinsame Zeit in sozialen, kulturellen, politischen Fortschritt umsetzen wollen.   Mit den Kirchen, denen nicht nur der arbeitsfreie Sonntag eine Herzensangelegenheit ist. ver.di Baden-Württemberg hat deshalb ein landesweites soziales Bündnis mit den Kirchen, dem Landesjugendring, dem DGB und attac initiiert und einen Appell für menschengerechte Arbeitszeiten veröffentlicht. Zwischenzeitlich gibt es in der Mehrzahl der ver.di-Bezirke regionale Bündnisse gegen Arbeitszeitverlängerung. Wir rechnen damit, dass wir im Frühjahr 2005 in mehreren Branchen gegen die Forderung der Arbeitgeber nach längeren Arbeitszeiten streiken müssen. Gefährdungsbereiche gibt es in der Druckindustrie, aktuell in der Papierverarbeitung, aber ebenso im Einzel- und im Großhandel. Wir müssen in der Breite streikfähig werden, und das bedeutet, dass wir die Köpfe und Herzen unserer Beschäftigten in der Arbeitszeitfrage gewinnen und ihre Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes überwinden müssen. Wir werden in der Öffentlichkeit und in den Betrieben den Beweis antreten, dass sich im Kampf um die Arbeitszeit die Zukunft der jungen Generation, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie Demokratie und Kultur unserer Gesellschaft entscheidet. Es geht um sehr viel.

[1] Siehe Steffen Lehndorff / Alexandra Wagner: "Mein Engagement hängt von den konkreten Bedingungen ab" – Welche Arbeitszeitprobleme haben Dienstleistungsbeschäftigte, was erwarten sie von ver.di?, in: F. Bsirske u.a.: Es ist Zeit: Das Logbuch der ver.di-Arbeitszeitinitiative, Hamburg 2004, S. 195ff.

Inhalt:

Jörg Wiedemuth
Perspektive neue Zeitverteilung (Leseprobe)
Der Ansatz der ver.di-Arbeitszeitinitiative
Frank Bsirske
Arbeitszeitverlängerung in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit:
Ein Projekt der gesellschaftspolitischen Gegenreform
(Leseprobe)
Oskar Negt
Gesellschaftliche Krise und die neuen Herausforderungen der Gewerkschaften
Diskussion:
Erweiterung des kulturellen und politischen Mandats der Gewerkschaften

Ergebnisse der ver.di-Arbeitszeitbefragung


Steffen Lehndorff
Herausforderungen an die Arbeitszeitpolitik der Gewerkschaften
Arbeitszeitprobleme und -wünsche von Dienstleistungsbeschäftigten im Spiegel der ver.di-Umfrage
Alexandra Wagner
Gender matters
Zu den Unterschieden der Arbeitszeiten und Arbeitszeitwünsche von Männern und Frauen

Arbeitszeit im Lebenslauf


Eckart Hildebrandt
Alltägliche und biographische Lebensführung
Birgit Geissler
Zeitpolitik und Lebensplanung
Kerstin Jürgens
Fragen an eine Arbeitszeitpolitik des Lebenslaufs
Corinna Barkholdt
Arbeits(zeit)verteilung in der Lebenslaufperspektive – Die Lebenslaufpolitik in den Niederlanden
Margret Mönig-Raane
Arbeit, Zeit und Chancen gerechter verteilen
Tarifpolitische Schlussfolgerungen

Zeit, Leistung und Gesundheit


Sighard Neckel
Leistung in der Marktgesellschaft
Über die Gleichzeitigkeit der Ausweitung und Aushöhlung des Leistungsprinzips
Alfred Oppolzer
Ein humanes Maß für die Arbeitszeit
Arbeits- und gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse und Anforderungen menschengerechter Gestaltung der Arbeitszeit
Ulf Kadritzke
Moderne Zeiten. Einige Gedanken zur Kolonisierung der Lebenswelt durch die "neue Arbeit"
Thomas Haipeter
Flexibilisierung der Arbeitszeiten
Zu den Problemen einer wettbewerbsorientierten Arbeitszeitregulierung

Arbeitszeitverlängerung? – Nein danke!


Gerhard Bosch
Es gibt noch Gestaltungsmöglichkeiten in der Arbeitszeitpolitik
Christa Hasenmaile
Arbeitszeitverlängerungen abwehren!
Sybille Stamm
Länger arbeiten macht arbeitslos – Stoppt die Zeitdiebe! (Leseprobe)
Die Arbeitszeitkampagne im ver.di- Landesbezirk Baden-Württemberg
Günther Waschkuhn
Unsere Erfahrungen im Einzelhandel bestätigen: Eine arbeitszeitpolitische Initiative ist nötiger denn je!
Margareta Steinrücke
Zum geschlechter- und familienpolitischen Unsinn von Arbeitszeitverlängerung
Detlef Hensche
Arbeitszeitverkürzung in Zeiten des Standortwettbewerbs
Kurt Martin
Zur arbeitszeitpolitischen Situation im öffentlichen Dienst

Für ein anderes Zeitbewusstsein


Karlheinz A. Geißler
Alles. Gleichzeitig. Und zwar sofort

Autorenreferenz

Corinna Barkholdt arbeitet am Lehrstuhl für soziale Gerontologie der Universität Dortmund. Gerhard Bosch ist Professor an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg und Vize-Präsident des Instituts Arbeit und Technik in Gelsenkirchen. Frank Bsirske ist Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Berlin. Birgit Geissler ist Professorin für Soziologie an der Universität Hannover. Karlheinz A. Geißler ist Professor für Wirtschafts- und Sozialpädagogik an der Bundeswehrhochschule in München. Thomas Haipeter ist Mitarbeiter am Institut für Arbeit und Technik, Gelsenkirchen. Christa Hasenmaile ist Landesfachbereichsleiterin Medien, Kunst und Kultur, Druck und Papier, industrielle Dienste und Produktion im ver.di Landesbezirk Bayern. Detlef Hensche, langjähriger Vorsitzender der IG Medien, ist Rechtsanwalt in Berlin. Eckart Hildebrandt ist Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin, Abteilung Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung. Kerstin Jürgens ist Assistentin am Institut für Soziologie an der Universität Hannover. Ulf Kadritzke ist Professor für Industrie- und Betriebssoziologie an der Fachhochschule für Wirtschaft, Berlin. Steffen Lehndorff ist Direktor des Forschungsschwerpunktes Arbeitszeit und Arbeitsorganisation am Institut für Arbeit und Technik, Gelsenkirchen. Kurt Martin ist Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes und Fachbereichsleiter Gemeinden. Margret Mönig-Raane ist stellvertretende Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Berlin. Sighard Neckel ist Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in Frankfurt/Main und Professor für allgemeine Soziologie an der Justus Liebig Universität in Gießen. Oskar Negt war bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für Soziologie an der Universität Hannover. Alfred Oppolzer ist Professor für Arbeits- und Gesundheitswissenschaften an der Universität Hamburg/Dept. Wirtschaft und Politik (ehemals HWP), Hamburg. Sybille Stamm ist ver.di-Landesvorsitzende in Baden-Württemberg. Margareta Steinrücke ist Referentin für Frauenforschung an der Arbeitnehmerkammer Bremen mit den Schwerpunkten Geschlechterforschung und Soziale Ungleichheiten. Gabriele Sterkel ist Gewerkschaftssekretärin in der tarifpolitischen Grundsatzabteilung von ver.di, Berlin. Alexandra Wagner ist Geschäftsführerin des FIA-Forschungsteams Internationaler Arbeitsmarkt, Berlin. Günther Waschkuhn ist Landesfachbereichsleiter Handel im ver.di Landesbezirk Berlin Brandenburg. Jörg Wiedemuth ist Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung von ver.di, Berlin.

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