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Gine Elsner / Thomas Gerlinger / Klaus Stegmüller (Hrsg.)

Markt versus Solidarität

Gesundheitspolitik im deregulierten Kapitalismus

196 Seiten | 2004 | EUR 14.80 | sFr 26.60
ISBN 3-89965-078-6 1

Titel nicht lieferbar!

 

Kurztext:
Die AutorInnen diskutieren die widersprüchlichen Auswirkungen der neuen Gesundheitsreform, versuchen eine erste Bilanz und zeigen Alternativen zur Aufkündigung des bisherigen Solidaritätsgedanken in der Gesundheitsversorgung.


Am 1. Januar 2004 ist das "Gesundheitsmodernisierungsgesetz" in Kraft getreten. Das "Jahrhundertreformwerk", das von einer informellen großen Koalition von SPD, Grünen, CDU und CSU auf den Weg gebracht wurde, wird zunächst einmal dazu führen, dass vor allem diejenigen erheblich tiefer in die Tasche greifen müssen, die auf das Gesundheitssystem angewiesen sind: Zuzahlungen werden die Patienten belasten – Stichwort Praxisgebühr. Leistungen werden ausgeklammert – Stichwort Brillen. Andere Leistungen werden aus der paritätischen Finanzierung eliminiert – Stichwort Krankengeld.

Diesen problematischen Aspekten einer gesetzlichen Gesundheitsreform stehen andere, positive gegenüber: erstmalig wird es in der Bundesrepublik Einrichtungen geben, die an Ambulatorien oder Polikliniken erinnern. Eine integrierte Versorgung wird die starre Trennung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung aufheben. Die Patienten bekommen ein Mitspracherecht.

Rezensionen

Regelmäßig Titel zum Gesundheitswesen Jörg Trinogga bespricht in der Dezember-Ausgabe 2004 von "Brandenburger AOK-Forum" "Markt versus Solidarität": "Ein lesenswerter Band" aus dem "Verlag, der zu den wenigen gehört, die regelmäßig Titel zum Gesundheitswesen veröffentlichen" "Der auch hierzulande bekannte Arzt und Medizinsoziologe Hans-Ulrich Deppe wurde im März 65 Jahre alt. Zu diesem Tag, dem auch die Emeritierung als Hochschullehrer und Direktor des Instituts für medizinische Soziologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main folgte, stellten Freundinnen und Freunde, Mitstreiterinnen und Mitstreiter von Uli Deppe einen Band zusammen, der die aktuelle kritische Diskussion über das deutsche Gesundheitswesen und die Notwendigkeit seiner Veränderungzusammenfasst:
Gine Elsner, Thomas Gerlinger, Klaus Stegmüller (Hg.):
Markt versus Solidarität,
Gesundheitspolitik im deregulierten Kapitalismus, VSA-Verlag Hamburg 2004, 196 Seiten, EUR 14.80. Der Verlag, der zu den wenigen gehört, die regelmäßig Titel zum Gesundheitswesen veröffentlichen (mehr unter: www.vsa-verlag.de) fasst sehr kurz zusammen: 'Die AutorInnen diskutieren die widersprüchlichen Auswirkungen der neuen Gesundheitsreform, versuchen eine erste Bilanz und zeigen Alternativen zur Aufkündigung des bisherigen Solidaritätsgedanken in der Gesundheitsversorgung'. Nicht gesagt wird in dieser Kürze, dass der Band die Auffassungen des größeren Teils der wichtigen kritischen Beobachter des Gesundheitswesens zusammenfasst. Die Beiträge sind, wie immer in Sammelbänden, durchaus unterschiedlich, was die Lesbarkeit angeht. Sie unterscheiden sich auch im unmittelbaren 'Gebrauchswert' für die aktuelle gesundheitspolitische Diskussion. Der Beitrag der beiden WZB-Mitarbeiter Thomas Gerlinger und Uwe Lenhardt über die Erfahrungen mit integrierter Versorgung, so gut er ist, wurde leider zu früh abgeschlossen. Redaktionsschluss ist das eine, aus dem GMG folgende oder eben nicht folgende neue Versorgungsformen sind das andere. Und die halten sich nicht an Redaktionsschlüsse. Hier ist eine Fortschreibung wünschenswert, die ernüchternd ausfallen dürfte. Hagen Kühn, ebenfalls vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, schreibt in guter Tradition Uli Deppes zum wiederholten Mal über die 'Ökonomisierungstendenz in der medizinischen Versorgung', Hartmut Reiners, im Potsdamer Gesundheitsministerium zuständig für Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik, über die Kopfprämie in der GKV ('Wahnsinn mit Methode'). Beide Aufsätze müssten allein deshalb zur Pflichtlektüre erklärt werden, damit endlich die Dumpfbacken-Ebene mit den Mythen und Märchen im Gesundheitswesen verlassen werden kann. Der Beitrag von Heinz-Harald Abholz, jahrelang Kliniker in Berlin-Steglitz und Hausarzt in Schöneberg, seit Ende der 90er Jahre Lehrstuhlinhaber für Allgemeinmedizin an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf sollte vom BDA verbreitet werden, wenn er ein wirklicher Hausärzteverband sein möchte. Klaus Priester, Professor an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen und erst kürzlich vortragender und diskutierender Gast der AOK beim 'Gespräch am Nauener Tor', zieht eine vorläufige, ernüchternde Bilanz der Pflegeversicherung, die jeder zur Kenntnis nehmen sollte, der weiter über Pflegeversicherung diskutieren will. Ich könnte jeden einzelnen Beitrag erwähnen – es gibt keinen, der dem hohen Anspruch dieses Bandes nicht genügte. Namen wie Rosenbrock, Beck, Schmacke, Simon – um nur einige zu nennen – sprechen für sich. Es ist ein lesenswerter Band geworden, Uli Deppe darf zufrieden sein, sofern ihm daran liegt. Man sollte von allen, die sich an der Diskussion über Gesundheitsreformen beteiligen, einen Mindeststandard an Wissen verlangen – und dann gehörte der hier vorgestellte Titel zum Kanon der nachzuweisenden Literatur. Übrigens: man darf auch ihn zum Weihnachtsfest schenken." (Jörg Trinogga in der Dezember-Ausgabe 2004 von "Brandenburger AOK-Forum") Die Autorinnen und Autoren (neben den Herausgeber u.a. R. Rosenbrock, H. Kühn, W. Beck und N. Schmache) analysieren jeweils unterschiedliche Aspekte des Wandels in den Regulierungsstrukturen des Gesundheitswesens, der Prävention und der Krankenversorgung, wobei sie nicht verhehlen, dass ihr Engagement einem solidarischen Gesundheitssystem und einer Medizin gilt, die dieser Verntwortung gerecht wird. (umwelt-medizin-gesellschaft, 2/2004)

Leseprobe 1

Vorwort

Obwohl Gesundheitspolitik seit Mitte der 1970er Jahre unter den Vorzeichen der Kostendämpfungspolitik steht, hat sich das Gesundheitswesen und die Gesetzliche Krankenversicherung als deren Kerninstitution bis in die 1990er Jahre hinein stärker dem Zugriff von Privatisierungs- und Deregulierungsstrategien entziehen können als andere Bereiche der sozialen Sicherung. Sei einigen Jahren jedoch ist auch in der Gesundheitspolitik ein beschleunigter Wandel zu beobachten. Die hegemonialen Politikkonzepte setzen zum einen mit größerer Entschlossenheit als zuvor auf eine Privatisierung von Risiken. Dies wird insbesondere in der jüngsten Gesundheitsreform, dem zum 1.1.2004 in Kraft getretenen GKV-Modernisierungsgesetz (GMG), deutlich. Zum anderen richten sich gesundheitspolitische Handlungsstrategien auf eine Rationalisierung von Regulierungs- und Versorgungsstrukturen, die sich vor allem einer Liberalisierung des Vertragsrechts bedient. Zwar ist die Reichweite des Wandels bisher hinter den anfänglichen Zielsetzungen zurückgeblieben - sei es wegen innerer Widersprüche der Reformprogramme, sei es wegen des Widerstands einflussreicher Interessengruppen im Gesundheitswesen -, aber dennoch sind Veränderungen deutlich zu identifizieren. Diese Entwicklungen sind unter dem Gesichtspunkt sowohl der finanziellen Verteilungswirkungen als auch der Patientenversorgung von erheblicher Bedeutung. Die finanziellen Belastungen, die das GMG für die Versicherten, insbesondere für chronisch Kranke und sozial Schwache, mit sich bringt (Ausgliederung von Leistungen, Erhöhung von Zuzahlungen etc.), nehmen erheblich zu, und mit ihnen wächst die Gefahr, dass Angehörige dieser Gruppen aus finanziellen Gründen auf die Inanspruchnahme an sich notwendiger Gesundheitsleistungen verzichten oder sie hinauszögern. Lassen sich diesbezüglich recht eindeutige Folgewirkungen identifizieren, so sind die Auswirkungen der Modernisierung von Regulierungs- und Versorgungsstrukturen eher widersprüchlich: Einerseits eröffnen sich Chancen für eine effektivere und effizientere Versorgung; andererseits entstehen mit Wettbewerbsorientierung und Ökonomisierung sowohl für Leistungserbringer als auch für Finanzierungsträger neue Anreize, das normative Ziel einer qualitativ hochwertigen Versorgung kurzfristigen Kostendämpfungsinteressen unterzuordnen. Der vorliegende Band analysiert unterschiedliche Aspekte des Wandels in den Regulierungsstrukturen des Gesundheitswesens und in den Strukturen der Prävention und Krankenversorgung. Dabei werden sowohl grundlegende Fragen der Entwicklung des Gesundheitssystems als auch aktuelle Aspekte der Gesundheitspolitik mit Blick auf die jüngste Gesundheitsreform erörtert. Prävention und Gesundheitsförderung haben seit geraumer Zeit politische Konjunktur, nicht zuletzt weil man sich von ihnen gerade im Zeichen des demographischen Wandels mittel- und langfristig Kosteneinsparungen erhofft. Rolf Rosenbrock zeigt, dass die praktische Umsetzung aber weit hinter den ebenso zahlreichen wie vollmundigen Lippenbekenntnissen zurückbleibt. Insbesondere solche bevölkerungsbezogenen Kampagnen, die individuen- und kontextbezogene Interventionen miteinander verknüpfen, sind nach wie vor selten anzutreffen. Komplexe primärpräventive Interventionen stehen bei ihrer Durchsetzung vor hohen Hürden. Sie sind zum einen in der Regel mit einem hohen Aufwand verbunden, zum anderen ist ihre Wirksamkeit oftmals nur schwer nachzuweisen, weil Gesundheit und Krankheit das Ergebnis einer Vielzahl intervenierender Variablen sind und zudem der Zeitraum zwischen dem Ergreifen einer Maßnahme und dem Eintritt ihrer Wirkung sehr lang ist. Eine Evaluation derartiger Maßnahmen gestaltet sich somit noch weit schwieriger, als dies bei der kurativen Individualmedizin der Fall ist. In verbesserten, wissenschaftlich gesicherten Wirksamkeitsnachweisen sieht Rosenbrock eine wichtige Ressource zur Stärkung der Legitimationsgrundlagen komplexer primärpräventiver Interventionen. Allerdings stellen solche Nachweise allein keine hinreichende Bedingung für deren Durchsetzung dar; diese bedarf auch und vor allem des Eintretens für eine Stärkung der Primärprävention in den politischen Diskussions- und Entscheidungsarenen. Das Setzen ökonomischer Anreize erweist sich zur Steuerung der medizinischen Versorgung als untaugliches Unterfangen - zumindest dann, wenn ein an qualitativen Kriterien orientiertes, verantwortungsethisches Handeln für den und mit dem Patienten eine Leitmaxime der betreuenden, pflegenden und versorgenden Personen sein soll. Der sich mit zunehmender Ökonomisierungstendenz unweigerlich einstellende Interessenkonflikt zwischen der Loyalität zu den anvertrauten Patienten, die Berücksichtung ihrer Bedürfnisse und Versorgungsnotwendigkeiten, und dem einzelwirtschaftlichen Rentabilitätskalkül wird - wie Hagen Kühn ins Zentrum seines Beitrags stellt - mehr und mehr durch eine Rationierung hinter dem Rücken der Patienten "gelöst", mit welchen subjektiven Begründungen auch immer. Er belegt diesen Zusammenhang, der auch aus anderen Versorgungsbereichen und anderen Gesundheitssystemen bekannt ist, anhand von Ergebnissen einer empirischen Untersuchung an deutschen Krankenhäusern. Ein breites Spektrum rationierender Praktiken konnte ermittelt werden. Die Ökonomisierung der Versorgungskultur ist erheblich fortgeschritten, die Ideologie der Medizin ist bereits weitgehend durch die Ideologie des Markts ersetzt. Erachtet man den Umgang mit Gesundheit und Krankheit als einen geeigneten Gradmesser für den zivilisatorischen Charakter einer Gesellschaft, so erweist sich die auf Gesundheit und Krankheit bezogene Politik - die Gesundheitspolitik in Deutschland der vergangenen Dekaden - als ein zivilisatorischer Rückschritt. Kai Michelsen und Klaus Stegmüller weisen hin auf eine weitgehende Ignoranz der vorherrschenden Gesundheits- und Sozialpolitik gegenüber dem Verursachungszusammenhang von Arbeit/Arbeitsmarkt und Gesundheit bzw. Krankheit. Die Wechselwirkungen zwischen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen auf der einen und dem medizinischen und gesundheitlichen Versorgungssystem auf der anderen Seite werden - zumal unter den Bedingungen des "aktivierenden Sozialstaats" im "flexiblen Kapitalismus" - in eine Politik gegossen, die sich im Hinblick auf eine Eindämmung der Krankheitsrisiken, insbesondere der arbeitsbedingten, als kontraproduktiv herausstellen. Sie geht - so das Fazit - mit einer Zunahme der gesundheitlichen Belastungen der Beschäftigten wie der Arbeitslosen einher und verschärft in der Tendenz eher die soziale Ungleichheit vor Krankheit und Gesundheit, als dass sie diese zum zentralen Aufgreifkriterium einer zivilisierenden Gesundheitspolitik nehmen würde. Nadja Rakowitz erinnert in ihrem "Blick zurück nach vorn" an einige Einsichten, die im Zusammenhang der linken Debatten der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zur Kritik der bürgerlichen Medizin gewonnen wurden. Das Aktuelle an den derzeit laufenden gesundheitspolitischen Debatten kann - so die Überzeugung - nur im historischen Zusammenhang, in der Bezugnahme auf frühere und in der Abgrenzung zu früheren Debatten angemessen, was heißt: ideologiekritisch begriffen werden. In diesem Zusammenhang analysiert sie wichtige Debatten jener Zeit, in denen die spezifische Formbestimmtheit medizinischen Denkens und Handelns im Kapitalismus, hier insbesondere der Ärzteschaft, einer fundamentalen Kritik unterzogen wurde: Orientierung am naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff, die Stabilisierungs- und Reparaturfunktion sozialer Verhältnisse der Medizin, die Orientierung auf das Individuum, die Propagierung der Ideologie des "Selbstverschuldens" sowie die Mystifizierung der Arzt-Patient-Beziehung. Ein wenig nostalgischer Blick zurück kann so ein erhellendes Licht auf die aktuellen gesundheitspolitischen Debatten werfen. Diese wiederum stehen bekanntermaßen unter den Vorzeichen der Kostendämpfung. Der fortgesetzte Anstieg der Beitragssätze hat in diesem Zusammenhang die Frage nach einer Reform der Finanzierung auf die Tagesordnung gesetzt. Besonders einflussreich ist in diesem Zusammenhang das vor allem von konservativer und liberaler Seite präferierte Konzept einer für alle Versicherten einheitlichen Kopfprämie, das mittlerweile in unterschiedlichen Varianten vorliegt. Hartmut Reiners diskutiert dieses Konzept und zeigt, dass es den selbst gesteckten Ansprüchen nicht gerecht werden kann: Weder führt es zu mehr Verteilungsgerechtigkeit noch sichert es eine demographie- und konjunkturresistente Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Vielmehr würde ein solches Finanzierungsmodell beträchtliche soziale Schieflagen heraufbeschwören, weil es untere und mittlere Einkommen überproportional stark belasten würde. Reiners plädiert statt dessen für die Einführung einer Bürgerversicherung, die nicht nur den sozialen Ausgleich zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen stärken, sondern auch eine nachhaltige Stabilisierung der GKV-Finanzen gewährleisten könnte. Die Finanzierungsschwierigkeiten der GKV wurden in den letzten Jahren auch durch die fortgesetzte Abwanderung von Mitgliedern in die Private Krankenversicherung (PKV) verschärft. Mit diesem quantitativen Bedeutungszuwachs ging zugleich ein gesundheitspolitisch initiierter Prozess der zunehmenden Annäherung zwischen PKV und GKV einher. In beide Systeme - stärker sicherlich in die GKV - sind aus der Sicht des jeweils anderen "systemfremde" Regularien und Prinzipien eher schleichend implementiert worden, ohne dass jedoch die sogenannte "Friedensgrenze" grundsätzlich in Frage gestellt worden wäre. Dies ändert sich allerdings - wie Wolfram Burkhardt zeigt - mit der Diskussion um die Bürgerversicherung und das Kopfprämienmodell. Damit werden im einen Fall die Existenzberechtigung der PKV, im anderen grundlegende Funktionsprinzipien der GKV in Frage gestellt. Nicht zuletzt erklärt sich hierdurch die vehemente propagandistische Offensive der privaten Versicherungswirtschaft gegen das Modell der Bürgerversicherung, die sich auf eine massive Unterstützung interessierter Akteure in und außerhalb des Gesundheitswesens stützen kann. Im Gegensatz dazu erfährt das Modell der Bürgerversicherung - bislang jedenfalls - keine vergleichbare Unterstützung, die Burkhardt insbesondere von Seiten der sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften einfordert. Auch die zukünftige Finanzierung der Pflegeversicherung ist Gegenstand politischer Kontroversen, und auch hier haben Privatisierungskonzepte Konjunktur. Klaus Priester zeigt, dass angesichts demographischer und sozialstruktureller Veränderungen der staatlich fixierte Beitragssatz in Höhe von 1,7 % in absehbarer Zukunft in der Tat nicht mehr ausreichen wird, um den gegenwärtigen Leistungsumfang der Pflegeversicherung aufrechtzuerhalten. Aber die Probleme der Pflegeversicherung gehen weit über Finanzierungsfragen hinaus. Priester identifiziert vor allem gravierende Qualitätsdefizite, die eine Rationalisierung der Steuerungs- und Versorgungsstrukturen dringend erforderlich machen. Dabei geht er davon aus, dass für eine bedarfsgerechte Versorgung mit pflegerischen Leistungen zusätzliche öffentliche Finanzmittel, möglicherweise in Form eines Bundeszuschusses, bereitgestellt werden müssen. Aber nicht nur das Finanzierungssystem, sondern auch die Versorgungsstrukturen werden zunehmend von Veränderungsbestrebungen erfasst. Die hohe Bedeutung der Rolle des Hausarztes, der als "Generalist" die Funktion des gate-keepers, des "Lotsen" durch die Versorgungslandschaft für seine Patienten übernimmt, kann als unbestritten gelten und hat in den gesundheitspolitischen Reformwerken der vergangenen Dekaden ihren Niederschlag insofern gefunden, als es verschiedentlich zu mehr oder weniger erfolgreichen Ansätzen der Stärkung der hausärztlichen Versorgung kam. Heinz-Harald Abholz macht darauf aufmerksam, dass nicht zuletzt das Maß des Bedeutungszuwachses von Seiten der Politik dadurch bestimmt wird, ob und inwieweit hiervon ein Beitrag zur Kosteneinsparung im ambulanten Sektor zu erwarten ist. Dies lässt sich beispielsweise anhand der Regelungen zur ärztlichen Honorarpolitik oder am Beispiel der propagierten "Hausarztmodelle" aufzeigen. Dadurch kommt dem "Generalisten" eine nicht zu unterschätzende politische Bedeutung im Hinblick auf eine Stabilisierung der GKV zu, die oftmals von der Profession selbst nicht reflektiert wird. Eine zweite, eminent politische Bedeutung des "Generalisten" - in Abgrenzung zur Tätigkeit des "Spezialisten" - liegt nach Abholz wesentlich in der Nähe des Hausarztes zu seinen Patienten, in seinen spezifischen Qualifikationen und in seiner empathischen Herangehensweise an die Versorgungs- und Betreuungsaufgaben. Nicht nur die Stärkung des Hausarztes, sondern auch die Schaffung sektorenübergreifender Versorgungsformen gehörten seit den 1990er Jahren zu den zentralen Anliegen der Gesundheitspolitik. Thomas Gerlinger und Uwe Lenhardt zeigen, dass sich die staatlichen Bemühungen um eine Förderung integrierter Versorgungsstrukturen bisher kaum im Versorgungsalltag niedergeschlagen haben. Die Gründe sehen sie in vielfältigen Fehlanreizen, die in erster Linie auf widersprüchliche Zielorientierungen in den gesundheitspolitischen Handlungsprogrammen der politischen Entscheidungsträger zurückzuführen sind sowie in der Persistenz institutioneller Reformblockaden. Die im GKV-Modernisierungsgesetz 2003 getroffenen Neuregelungen zur integrierten Versorgung zielen darauf, einige der identifizierten Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Insofern erweisen sich die gesundheitspolitischen Akteure durchaus als lernfähig. Allerdings vollziehen sich diese Lernprozesse weiterhin auf dem bereits eingeschlagenen Modernisierungspfad, auf dem der Gesetzgeber die gewachsenen korporatistischen Strukturen mit starken Wettbewerbselementen zu durchsetzen versucht. Zwar haben sich die Chancen auf eine stärkere Integration der Versorgungsstrukturen verbessert, allerdings wird abzuwarten sein, ob sie bei den Akteuren einen hinreichend starken Anreiz zur Entwicklung von integrierten Versorgungsformen schaffen und sie zugleich mit der Fähigkeit ausstatten, diese in den Verhandlungssystemen des Gesundheitswesens und im Versorgungsalltag auch durchzusetzen. Mit Blick auf die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) bewertet Winfried Beck deren Beitrag zur Versorgungsintegration eher skeptisch. Er sieht den mit dem GKV-Modernisierungsgesetz weiter vorangeschrittenen Prozess in Richtung einer "Entmachtung" der KV, eines weiteren Aufbrechens ihres Versorgungsmonopols in Form des Sicherstellungsauftrages durchaus ambivalent. Für ihn ist derzeit noch nicht absehbar, ob diese Entwicklung sich als sinnvolle Strukturinnovation in Richtung auf mehr Versorgungsrationalität und -qualität oder als chaotisches Vertragswirrwarr mit dem vordringlichen Ziel der Kosteneinsparung erweisen wird. Nicht zuletzt jedoch haben die KVen diesen Erosionsprozess selbst befördert, indem sie durch ihre Blockadepolitik notwendige Neuerungen und Verbesserungen in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung immer wieder verhinderten. Das Monopol der Vertragsätze in Form der KV erweist sich damit als entscheidende Innovationsbarriere und kann demzufolge für sich keinen Bestandsschutz mehr reklamieren. Auch im Hinblick auf die Qualitätssicherung wurde in der Debatte über das GKV-Modernisierungsgesetz die Rolle der KVen - wie im Übrigen auch der Krankenkassen - in Frage gestellt. Insbesondere die Einrichtung eines "Qualitätsinstituts" wurde zwischen den Parteien und Interessengruppen überaus kontrovers diskutiert. Norbert Schmacke skizziert den letztlich gefundenen Kompromiss und erörtert die Aufgaben des neuen "Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen". Angesichts des unbefriedigenden Entwicklungsstandes der Versorgungsforschung in Deutschland sieht er in dieser Einrichtung eine Chance, die Auseinandersetzung um den Konflikt zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit in der gesundheitlichen Versorgung weiterzuführen. Auf diese Weise könnte - so Schmacke - auch die Frage nach der Steuerung in der GKV wiederbelebt werden. Der Beitrag von Michael Simon arbeitet am Beispiel der Einführung des Fallpauschalensystems Diagnosis Related Groups (DRG) im Krankenhaus eine bemerkenswerte historische Kontinuität der Krankenhauspolitik des Bundes heraus: Leitmotiv der Einführung des neuen Vergütungssystems, die nach den abermals revidierten Planungen nun 2007 abgeschlossen sein soll, ist nun gerade nicht eine dringend erforderliche Verbesserung der Versorgungsqualität, sondern primär eine finanzielle Entlastung der Krankenkassen. Mehr noch: Im Rückblick lässt sich von einer originären Krankenhauspolitik der verschiedenen Bundesregierungen, die sich an den Bedarfslagen der Bürger orientiert, schlechterdings nicht reden. Das aktuelle "Großexperiment" unterscheidet sich damit in seiner Intention nicht grundlegend von solchen auf den stationären Sektor bezogenen Reformvorhaben, wie sie bereits in den 1950er Jahren debattiert und teils umgesetzt wurden: Bis auf eine kurze Phase zwischen Ende der 60er und Mitte der 70er Jahre wurde und wird die Krankenhauspolitik für Ziele und Zwecke anderer Politikfelder instrumentalisiert, vordringlich fiskal- und wirtschaftspolitischer Natur. Inwieweit über die Vetoposition der Bundesländer im Bundesrat, den nun mit der Einführung der DRGs verbundenen Begehrlichkeiten und der Experimentierfreudigkeit des Bundes - wie bereits in der Vergangenheit des öfteren geschehen - Einhalt geboten werden kann, muss zum jetzigen Zeitpunkt offen bleiben. Hermann Schulte-Sasse setzt einen anderen Akzent. Nicht die ihm wohlbekannten Risiken des DRG-Systems stehen im Mittelpunkt seines Beitrags sondern deren Chancen. Die positiven Seiten einer solchen Vergütungsform sieht er insbesondere darin, dass sie ein höheres Maß an Transparenz sowohl über das Leistungsgeschehen selbst als auch über die mit der Leistungserbringung verbundenen Prozesse und Kosten mit sich bringen. Letzteres ist insofern von besonderer Bedeutung, als damit elementare Voraussetzungen für die Verbesserung der Behandlungsqualität geschaffen werden können, indem bisherige, meist unhinterfragte und an institutionellen Eigeninteressen ausgerichtete Routinen auf den Prüfstand geraten und Perspektiven für kooperative, berufsgruppenübergreifende Behandlungsstrategien eröffnet werden können. Eine der sozial- und verteilungspolitisch einschneidendsten Regelungen des GKV-Modernisierungsgesetzes stellt die Ausgliederung des Krankengelds aus dem paritätisch finanzierten Leistungskatalog der GKV dar. Gine Elsner und Jürgen Wolters unterstreichen in ihrem Beitrag die besondere Skandalträchtigkeit dieser ab 2006 geltenden Regelung, indem sie auf der Basis von empirischen Befunden den Nachweis führen, dass es gerade die arbeitsbedingten Erkrankungen sind, die einen hohen Anteil an den langfristigen Arbeitsunfähigkeiten ausmachen. Für die Arbeitgeber bedeutet die Privatisierung einer vormals paritätisch finanzierten Leistung eine doppelte Entlastung: Zum einen eine finanzielle, denn das "Umfinanzierungsvolumen" dürfte bei rund fünf Milliarden Euro liegen; zum anderen eine arbeitspolitische, denn das zumindest durch die Mitfinanzierung des Krankengelds begründete Interesse an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen zur Verhinderung arbeitsbedingter Erkrankungen dürfte gegen Null tendieren. Bewegen sich die Gestaltung des Versorgungssystems im ambulanten und stationären Sektor zumeist noch in einem bloß nationalstaatlichen Rahmen, so zeigt Rolf Schmucker, dass die nationalstaatliche Souveränität über die Systeme der Krankenversorgung und Krankenversicherung - von der Öffentlichkeit weithin unbemerkt - bereits in vielfältiger Hinsicht durch das europäische Markt- und Wettbewerbsrecht eingeschränkt ist. Er geht in seinem Beitrag der Frage nach, in welcher Weise die Debatte über die "Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" Rückwirkungen auf die Gesundheitspolitik in Europa nach sich zieht. Hierbei geht es vor allem darum, ob und inwieweit derartige Leistungen, zu denen auch die Gesundheitsversorgung zählt, der Marktliberalisierung und Privatisierung entzogen werden können. Der Autor sieht in dieser Diskussion eine Chance, soziale Zielsetzungen stärker als bisher im europäischen Integrationsprozess zur Geltung zu bringen. Zugleich macht er deutlich, dass die Diskussionen auf der europäischen Ebene von zentraler Bedeutung für die zukünftige Entwicklung der Gesundheitspolitik sind. Der vorliegende Band versammelt Beiträge von Kollegen, Freunden und politischen Mitstreitern Hans-Ulrich Deppes, der im März 2004 seinen 65. Geburtstag feiert. Hans-Ulrich Deppe leitet seit 1973 das Institut für Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Er hat über ein breites Spektrum von Themen auf dem Gebiet der Sozialmedizin, Medizinsoziologie und Gesundheitssystemforschung wissenschaftlich gearbeitet. Als Mediziner mit sozialwissenschaftlichem Hintergrund stellt er wie nur wenige andere Wissenschaftler den gesellschaftspolitischen Kontext medizinischen Denkens und Handelns ins Zentrum seines wissenschaftlichen und politischen Wirkens. Für ihn erwächst der Medizin aus ihrer schuldhaften historischen Verstrickung in die faschistische Barbarei wie aus ihrer Einbettung in aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen eine besondere gesellschaftliche Verantwortung, die als Leitmotiv für sein Wirken in Forschung und Lehre und für seine Einmischung in politische Prozesse gelten kann. Dieser Überzeugung folgend ist ihm die kritische Begleitung der Gesundheitspolitik der letzten 30 Jahre ein besonderes Anliegen. Seine wissenschaftliche und politische Arbeit steht im Zeichen des Engagements für eine solidarische Gesundheitspolitik und für eine Medizin, die dieser gesellschaftlichen Verantwortung zur Entwicklung eines demokratischen, sozialen und humanen Gesundheitswesens gerecht wird. Uli widmen wir diesen Band. Gine Elsner / Thomas Gerlinger / Klaus Stegmüller
Im Januar 2004

Inhalt:

Vorwort (Leseprobe)
Rolf Rosenbrock
Gesundheitswissenschaftliche Perspektiven und Gesundheitsförderung
Hagen Kühn
Die Ökonomisierungstendenz in der medizinischen Versorgung
Kai Michelsen / Klaus Stegmüller
Gesundheit und Gesundheitspolitik im flexiblen Kapitalismus
Nadja Rakowitz
Blick zurück nach vorn
Hartmut Reiners
Wahnsinn mit Methode: Die Kopfprämie in der GKV
Wolfram Burkhardt
Die Privaten Krankenkassen - Kampf um Marktanteile
Klaus Priester
Die Pflegeversicherung: Vom "Jahrhundertwerk" zum "Luxusgut"?
Heinz-Harald Abholz
Die politische Funktion des Hausarztes
Thomas Gerlinger / Uwe Lenhardt
Integrierte Versorgung: Von der Stagnation zum Aufbruch?
Winfried Beck
Entmachtung der Kassenärztlichen Vereinigung
Sinnvolle Strukturinnovation oder Beginn des Chaos?
Norbert Schmacke
Der Staatsmedizin noch einmal entkommen?
Michael Simon
Krankenhauspolitik - ein historischer Bogen
Hermann Schulte-Sasse
Das Krankenhaus der Zukunft - wie kann es aussehen?
Gine Elsner / Jürgen Wolters
Krankengeld und arbeitsbedingte Krankheiten
Rolf Schmucker
Gesundheit als "Dienstleistung von allgemeinem Interesse"

Autorenreferenz

Heinz-Harald Abholz ist Geschäftsführender Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin des Zentrums für Medizinische Psychologie, Soziologie, Statistik und Allgemeinmedizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Winfried Beck ist Facharzt für Orthopädie in Offenbach und war Delegierter in der Landesärztekammer Hessen von 1976 bis 1996 und Vorsitzender des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) von 1986 bis 2003. Wolfram Burkhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Medizinische Soziologie des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Gine Elsner ist Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Thomas Gerlinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Hagen Kühn ist Leiter der Arbeitsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Uwe Lenhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Kai Michelsen hat eine Vertretungsprofessur an der Fachhochschule Fulda, Fachbereich Pflege und Gesundheit, inne. Klaus Priester ist Professor für Sozialmedizin, Medizinsoziologie und Gesundheitswissenschaften an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen. Nadja Rakowitz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Medizinische Soziologie des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Hartmut Reiners ist Leiter des Referats Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg in Potsdam. Rolf Rosenbrock ist Professor für Gesundheitspolitik an der Technischen Universität Berlin und Leiter der Arbeitsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Norbert Schmacke ist Professor für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bremen und leitet die Arbeits- und Koordinierungsstelle Gesundheitsversorgungsforschung. Rolf Schmucker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Medizinische Soziologie des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Hermann Schulte-Sasse ist Staatssekretär in der Senatsveraltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz in Berlin. Michael Simon ist Professor an der Evangelischen Fachhochschule Hannover. Klaus Stegmüller ist Professor an der Fachhochschule Fulda, Fachbereich Pflege und Gesundheit. Jürgen Wolters ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesverband der Betriebskrankenkassen, Abteilung Gesundheit, in Essen.

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