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Anke Schulz

Fischkistendorf Lurup

Siedlungsprojekte, Schrebergärten, Bauwagen und Lager von 1920 bis 1950
Mit Beiträgen von Hans Ellger und Gordon Uhlmann.
In Kooperation mit umdenken – politisches Bildungswerk, Heinrich-Böll-Stiftung e.V.
Gefördert vom Kulturausschuss des Bezirksamtes Altona

140 Seiten | 2002 | EUR 15.50 | sFr 27.50
ISBN 3-87975-892-1 1

Titel nicht lieferbar!

 

Ein lebendiger Spaziergang durch Raum und Zeit des Luruper "Fischkistendorfs", der Siedlungsprojekte und Kleingärten.

Noch vor 50 Jahren wurde das Arbeiterviertel in Hamburgs Stadtrandgebiet Lurup »Dat Fischkistendorf!« genannt. Hier hatten die Bewohner, von denen viele in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit Ende der 1920er / Anfang der 1930er Jahre arbeitslos und infolge zunehmernder Verarmung auch obdachlos geworden waren, aus Verpackungsmaterialien der Fischindustrie in Selbsthilfe Siedlungen und Kleingärten gebaut.

Anke Schulz, selbst in Lurup aufgewachsen und angeregt von der Tradition der Hamburger Geschichtswerkstätten, blickt in diesem Buch anhand von Interviews mit ZeitzeugInnen und historischen Dokumenten zurück, um die Vergangenheit verstehen zu lernen, die bis heute viele Altbauten inmitten alter Gärten und Kleingartenkolonien prägte. Dabei sollen auch die Arbeiterbewegung und ihre kreativen Ideen im Umgang mit Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit noch einmal lebendig werden.

Die Darstellung erinnert an die Zeit des Nationalsozialismus, an die Schicksale der Zwangsarbeiter, die Geschichte des Frauen-Außenlagers Neuengamme in Eidelstedt (heute Lurup) und an die Verfolgung der Roma und Sinti. Anschaulich werden die Nachkriegsjahre des Improvisierens in diesem Viertel und der Wertewandel im Zuge des Wirtschaftswachstums, der zum Abriss der meisten Siedlungen führte, dargestellt. Das facettenreiche Bild von Lurup in den Jahren 1920 bis 1950 wird durch zahlreiche Abbildungen illustriert.

Die Autorin:
Anke Schulz, Literatur- und Sozialwissenschaftlerin, Schulungsleiterin in einer Weiterbildungseinrichtung für clean Lebende Drogenabhängige, ist nebenberuflich Autorin und Schriftstellerin.

Leseprobe 1

Einleitung

Dat Fischkistendorf! Mit dieser Bezeichnung waren Hamburger Stadtrandbezirke wie Lurup und Osdorf noch vor 50 Jahren vor allem in den Innenstadtgebieten von Altona und St. Pauli unter der einfachen Bevölkerung bekannt. Aus diesen Stadtteilen kamen viele Arbeiter, vor allem ehemalige Beschäftigte der Fischverarbeitungsindustrie, die sich in den "Fischkistendörfern" niederließen, in Siedlungen, teilweise gebaut mit Verpackungsmaterialien aus der Fischindustrie oder sogar aus sperrholzdicken Eierkisten, von denen heutzutage einige als Slum bezeichnet werden würden. Diese Siedlungen waren Arbeitersiedlungen, und sie entstanden überwiegend in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit. Die meisten Siedler waren arbeitslos und infolge zunehmender Verarmung auch obdachlos geworden. Dabei fühlten sich die meisten von ihnen den Ideen der damaligen Arbeiterbewegung verpflichtet, und sie versuchten, die Idee der Selbsthilfe, sei es durch Gründung von Baugenossenschaften, sei es durch unorganisierte Formen des Siedelns, als eine der tragenden Ideen der alten Arbeiterbewegung zu realisieren. Heute ist das etwa 80 Jahre her, und so manche alte Luruperin weiß noch davon zu erzählen, so mancher alte Luruper hat in dieser Zeit seine Kindheit verbracht. Aber die Erinnerung an diese Siedlungen schwindet, die Generation jener Menschen, die über die damalige Zeit berichten können, stirbt nach und nach. Die Erinnerung an diese Lebenserfahrungen droht in einer Zeit des Massenkonsums und des allgemeinen Wohlstandes verloren zu gehen. Doch bereits die aktuellen Erfahrungen zeigen, wie wichtig eine Rückbesinnung, eine Vergegenwärtigung der lebensgeschichtlichen Bedeutung der alten Arbeitslosensiedlungen für unser kollektives Gedächtnis und unsere gegenwärtige Bewältigung der erneuten Massenarbeitslosigkeit sein können. Dieses Buch soll ein Versuch sein, zurückzublicken, den Spuren zu folgen, die Zeit verstehen zu lernen, die bis heute viele Altbauten inmitten alter Gärten und Kleingartenkolonien prägte, die Arbeiterbewegung und ihre kreativen Ideen im Umgang mit Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit noch einmal lebendig werden zu lassen. Das schließt die Erinnerung an die Jahre des Nationalsozialismus mit ein, in denen viele Menschen aus anderen Ländern, aus Frankreich, Italien, den baltischen Ländern, aus Polen, Russland und den Niederlanden, und auch deutsche Sinti und Roma nach Lurup und seine angrenzenden Stadtteile in Lager verschleppt wurden und Zwangsarbeit leisten mussten. Wenige Überlebende können heute noch davon berichten. So ist dieses Buch auch den Menschen gewidmet, die damals in den Lagern in Lurup und seinem Umland dem Nazi-Terror zum Opfer fielen. Ich möchte Leserinnen und Leser mitnehmen auf einen Spaziergang durch Raum und Zeit des alten Lurup in den Jahren von 1925 bis 1950. Welche Bauweisen gab es, wo waren markante Siedlungsvorhaben? Und was für Menschen siedelten dort, welche Schicksale hatten sie nach Lurup verschlagen? Zunächst sollen sie vorgestellt werden, die einzelnen Siedlungen, das Fischkistendorf Lurup, bestehend aus Arbeitersiedlungen, darunter die Kleingarten- und Schrebergartenvereine, die zu Arbeitersiedlungen wurden, die "wilden" Siedlungen in Bauwagen, Fischkisten oder Straßenbahnwagen, und schließlich sich an die Tradition der Siedlungsbewegung der alten Arbeiterbewegung einfügende Projekte, darunter "Uns Ohldeel", die älteste Arbeitersiedlung in Lurup, und die von Max Brauer ins Leben gerufene Siedlung "Elbkamp". Für alle Siedlungsformen im Lurup der damaligen Zeit kann die Bedeutung der Selbstversorgung, die durch die Gärten ermöglicht wurde, nicht hoch genug eingeschätzt werden. In den hier in Auszügen dokumentierten, 1936-1937 geschriebenen Briefen und Tagebüchern der Kommunistin Frieda Reimann, die 1946 von der englischen Militärregierung in die Bürgerschaft berufen wurde, zeigt sich eindrücklich die Bedeutung der Gärten und der dadurch möglichen Selbstversorgung für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Allein die Kleinviehhaltung und der Obst- und Gemüseanbau sicherte für die meist arbeitslosen Familien das Überleben, und das konnte auch Kinderarbeit notwendig machen, das konnte bedeuten, unter fast vorindustriell anmutenden Bedingungen Schwerstarbeit beim Eigenausbau der Hütten und Häuser und bei der Gartenarbeit leisten zu müssen. Es ermöglichte aber auch den Arbeiterinnen und Arbeitern einen Freiraum bei der Gestaltung von Haus und Garten, der aufgrund der heutigen Baugesetze, nach denen für viele Bautätigkeiten Normvorschriften vorliegen, so nicht mehr besteht. Die Lebensbedingungen der meist sozialdemokratisch und kommunistisch eingestellten Siedler änderten sich mit dem Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft grundlegend. Nicht wenige Luruper, Arbeiterbewegte wie Bürgerliche, arrangierten sich und identifizierten sich mit dem Nationalsozialismus. Die Nazis schikanierten systematisch diejenigen Bewohner der Arbeitersiedlungen, die für ihre politische Opposition bekannt waren. Viele wurden zusammengeschlagen, Buden wurden angezündet, manche kamen ins KZ. Keiner aus dieser Bevölkerungsgruppe war den Schikanen der Nazis so wehrlos ausgeliefert wie die Menschen aus anderen Ländern, die zur Zwangsarbeit nach Lurup verschleppt wurden. Im zweiten Kapitel werden die Lebensbedingungen unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beleuchtet, vor allem das Schicksal der vielen Menschen, die in den Lagern in Lurup lebten. Lager und das Außenlager des KZ Neuengamme bildeten Räume der Ausgegrenzten, der Ausgeschlossenen, und wurden von der Mehrheitsbevölkerung als nicht dazugehörig empfunden. Die geringe Besiedlungsdichte war ausschlaggebend als Standortfaktor für Zwangsarbeiterlager und Konzentrationslager. Vor allem italienische Militärinternierte und Jüdinnen aus Ost- und Südosteuropa, die ins KZ im Friedrichshulder Weg verschleppt worden waren, mussten für Überlebende der Bombennächte ab 1943 Plattenbauten errichten. Auch auf diese Weise entstanden also Siedlungen in Lurup. Hans Ellger wird mit Auszügen aus seinen umfangreichen Interviews Zeitzeuginnen zu Wort kommen lassen und den derzeitigen Stand der Forschung über das Frauen-Außenlager des KZ Neuengamme in Eidelstedt (heute Lurup) skizzieren. In einem weiteren Abschnitt dokumentiere ich NS-Aktenmaterial aus dem Archiv der Sinti- und Roma-Union, das Aufschluss gibt über ein mögliches Sinti- und Roma-Lager im Lederweg. Viele Sinti und Roma, die in Lurup gelebt hatten, fielen dem Massenmord der Nazis zum Opfer. Lurup wurde als Standort für ein Sinti- und Roma-Lager vor allem von der Behörde für Arbeit mit dem Argument favorisiert, es gäbe in diesem Stadtteil genug Möglichkeiten zur Zwangsarbeit für sie. Diese Zusammenhänge werden erstmalig mit diesem Buch öffentlich gemacht. Nicht nur für die Menschen in Lurup, die in Lagern und im KZ leben mussten, auch für viele Luruper, die zur Opposition gehört hatten, war das Kriegsende ein Akt der Befreiung. Aber die Not hatte mit dem 8. Mai 1945 noch kein Ende. Die Selbstversorgung gewann an Bedeutung, der Tauschhandel blühte, auch auf dem Schwarzmarkt. Im dritten Kapitel werden die Nachkriegsjahre und die Zeit beleuchtet, in der für viele Kohlenklau und für manche auch Lebensmitteldiebstähle das Überleben sicherten. Der Ausbau der Hütten und Häuser war ein schwieriges Unterfangen, so mancher schleppte mühselig Steine aus Kriegstrümmern nach Lurup, um das eigene Haus vor den kalten Wintern zu schützen. Fragen der Subsistenzwirtschaft waren für alle großen Parteien, zu denen damals auch noch die KPD gehörte, entscheidend. Das zeigen unter anderem Reden von Abgeordneten der SPD wie Borgner und Klabunde und der Vertreterin der KPD, Frieda Reimann, vor der Hamburger Bürgerschaft. Mit dem beginnenden Wirtschaftswachstum und dem Wiederaufbau kam es erneut zu einem Wertewandel, und es begann ein Prozess, den ich als zunehmende Stigmatisierung der Arbeitersiedlungen in Lurup und Osdorf empfinde. Tageszeitungen wie "Die Welt" begannen über Zustände in Luruper Siedlungen zu berichten, in denen gegen Regeln der Hygiene und der Baubehörde verstoßen werde. Schließlich kam es zu weitreichenden Abrissen von Behelfsheimen und Buden, auch der Protest von Teilen der Bevölkerung konnte das nicht aufhalten. Statt der selbsterbauten Hütten wurden nun Mietshäuser gebaut, die an die Kanalisation angeschlossen sind und den Regeln von Baubehörde und Gesundheitsamt standhalten. Für die Hygiene und den Gewässerschutz sicher ein Fortschritt. Aber immer wenn ich durch diese Hochhaussiedlungen gehe, frage ich mich, ob sie ihren Bewohnern auch so viel Geborgenheit und Gemütlichkeit zu geben vermögen wie die selbstgestalteten Arbeitersiedlungen. Als Tochter einer Luruper Arbeiterfamilie, die dank der Bildungspolitik der 1970er Jahre auf das Gymnasium gehen und danach Literatur- und Sozialwissenschaften studieren konnte, habe ich mich über Jahrzehnte hinweg auf unterschiedlichsten Wegen mit den Erfahrungen meiner Familie auseinander gesetzt. Es wurde eine bis heute währende Auseinandersetzung mit meiner Mutter, die nach und nach zu erzählen begann. Angeregt von der Tradition der Hamburger Geschichtswerkstätten, begann ein ausgesprochen fruchtbarer Dialog zwischen meiner Mutter und mir. Im Laufe der Jahre begann ich, mich für Oral History zu interessieren, ich organisierte narrative Interviews mit zahlreichen Zeitzeuginnen zur Geschichte Lurups und sammelte weiteres Material. Von meiner Mutter erfuhr ich die Lebensgeschichte meiner Großeltern, Anni und Ernst Riemenschneider, die unter größten Mühen in Lurup zu siedeln begonnen hatten. Ihr Lebensweg wird dieses Buch wie ein roter Faden durchziehen, beide werden der LeserIn immer wieder begegnen. Aber auch viele andere alte Luruperinnen und Luruper werden zu Wort kommen. Immer wieder habe ich versucht, meine Nachforschungen mit Dokumenten zu untermauern. Ich machte nicht nur narrative Interviews mit Menschen, die als Zeitzeugen über das damalige Lurup berichten konnten, ich suchte auch nach Dokumenten in Archiven und Bibliotheken. Das facettenreiche Bild über Lurup und die Lebensbedingungen der Menschen der damaligen Zeit, das in meinem Kopf entstand, mag vielleicht nicht in jedem Falle einer distanziert-wissenschaftlichen Haltung standhalten. Es ist geprägt von immer auch subjektiven Eindrücken, von Begegnungen mit Menschen, mit Häusern und Straßen. An einigen Stellen habe ich versucht, diesen subjektiven Blick lyrisch werden zu lassen, und so finden sich einige Gedichte in diesem Buch. Aber ich hoffe auch, mit meiner Vorgehensweise deutlich zu machen, wie wichtig mir eine kritische und an Dokumenten überprüfbare Form der Beschreibung dieser Aspekte von Arbeiterbewegung und NS-Vergangenheit ist. Die Darstellung des Außenlagers des KZ Neuengamme habe ich aus diesem Grunde in die Hände von Hans Ellger gelegt, der langjährig über dieses Thema forscht und die Datenlage besser beurteilen kann als ich. Bei der Darstellung der Hintergründe eines möglichen Sinti- und Roma-Lagers habe ich versucht, mich nur an das enge Material der NS-Dokumente zu halten. Vor allem meiner Mutter danke ich für die geduldige Auseinandersetzung, für die Bereitschaft, mir zu erzählen, für ihre vielen Fragen und für ihre Konfliktbereitschaft. Ohne sie hätte dieses Buch nicht realisiert werden können. Stellvertretend für die vielen Menschen, die dieses Projekt ermöglicht haben, danke ich besonders Frau Littmann vom Archiv für Zeitgeschichte, Gordon Uhlmann vom Forum Zukunftsarbeit am Hamburger Museum der Arbeit, Hans Ellger, Doktorand der Universität Hamburg, Ilona Konrad aus dem Projektteam der Ausstellung "Suche Arbeit – Brauche Zukunft", in der ich erstmals über Lurup vortragen durfte, Sabine Tengeler und dem Luruper Forum, der Barmbeker Geschichtswerkstatt, dem Archiv der Rom- und Cinti Union e.V., dem Archiv der Gedenkstätte Neuengamme, dem Seniorenverband "Sozialdemokraten sechzig plus", der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Kurt Erlebach und dem Archiv der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte in Hamburg Eppendorf, der Nichte Frieda Reimanns, Frau Borrmann; Herrn Barenschee und allen anderen Lurupern und Luruperinnen, die mich mit Fotomaterial und Textdokumenten bei meiner Recherche unterstützten, und nicht zuletzt Marion Fisch und Ursel Anton vom VSA-Verlag.

Leseprobe 2

Das Beispiel einer Arbeiterfamilie:
Meine Großeltern Anni und Ernst Riemenschneider

In den Arbeitslosensiedlungen in Lurup fanden sich Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammen. Zu den Menschen, die sich innerhalb der Arbeiterbewegung als "Proletarier" verstanden, gehörten Ungelernte ebenso wie arbeitslose Akademiker und verarmte Selbständige. Sie alle einte die Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft als Lohnarbeiter vermarkten zu müssen. Viele waren zudem Migranten aus den unterschiedlichsten Regionen Europas. Das lag auch an der besonderen Situation Hamburgs als Hafenstadt. Hamburg war von jeher eine Stadt der Migranten gewesen, Menschen aus Polen, aus Galizien, aus Rumänien, Ungarn, aus Ostpreußen und Mecklenburg, aus Schleswig-Holstein und aus Bayern zogen in die Stadt in der Hoffnung auf Arbeit, um weiterzureisen nach Kanada und in die Vereinigten Staaten, um sich als Seemann zu verdingen oder als Dienstmädchen, um Wohnraum und ein kleines Glück zu finden. Beispielhaft für viele Arbeiter, die sich in den Arbeitslosensiedlungen Lurups zusammenfanden, soll hier der Lebenslauf eines jungen Paares geschildert werden, das in Lurup auf einer moorigen Müllhalde billiges Siedlungsland gefunden hatte. Es ist die Lebensgeschichte meiner Großeltern, Anni und Ernst Riemenschneider, erzählt nach den Erinnerungen ihrer Tochter Ursula, meiner Mutter. Nach einem tragischen Unfall während eines Straßenkampfes wurde der etwa zwölfjährige Waisenjunge Ernst Riemenschneider in dem kleinen Dorf seiner Heimatgemeinde in Bayern geächtet. Er hatte aus Versehen beim Kampfspiel einem anderen Knaben ein Auge mit einem selbstgebastelten Karabiner ausgeschossen, ein Unfall, der sein Leben maßgeblich prägen sollte. Er wurde aus dem Ort verwiesen und war zunächst auf sich selbst gestellt. Er wurde, mit heutigen Worten benannt, ein Straßenjunge. Der Bub schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, als Ziegenhirte, mit Tingeltangel auf Jahrmärkten, brachte sich selbst Mandoline spielen bei und spielte auf Plätzen und an Straßenecken, verkaufte Scherenschnitte und Schattenbilder. Ein Foto aus Familienbesitz zeigt den unscheinbar wirkenden Knaben circa 1910 bei der Arbeit in einer Bonbonfabrik in Donauwörth. Als Jugendlicher unternahm Ernst weite Wanderungen, zog von Stadt zu Stadt, reiste aus Neugierde und vielleicht auch aus Furcht vor dem Ersten Weltkrieg durch Italien, ohne sich jedoch um Aufenthaltsgenehmigungen und Ausländerbehörde zu scheren. Dort arbeitete er illegal als Hirtenjunge. Er kam wegen einer fehlenden Aufenthaltsgenehmigung in Neapel ins Gefängnis, wurde während des Ersten Weltkrieges als Deutscher in Italien der Spionage verdächtigt und wieder nach Deutschland abgeschoben. Reguläre Arbeit fand er als Ungelernter nicht. Wenn es ihm möglich war, mietete er sich als Obdachloser ein Bett für die Nacht, eine "Schlafstelle" in Arbeiterfamilien, die den Zuverdienst durch den "Kostgänger" dringend benötigten. Er beschloss, nach Kanada auszuwandern, also ging er zunächst in die Hafenstadt Hamburg. Aber in Hamburg-St. Pauli verliebte er sich in ein junges Dienstmädchen, heiratete, bekam zwei Töchter, und so blieb er. Das Dienstmädchen Anna Sohst, in das er sich verliebt hatte, kam aus Dömitz. Als Älteste von zwölf Geschwistern hatte auch sie bereits als Kind arbeiten müssen. Der Vater, alkoholkrank und gewalttätig, ging keiner Arbeit nach. Mutter und Tochter mussten die Familie durchbringen, und so verdiente die älteste Tochter Geld hinzu, indem sie sich als Wasser- und Holzträgerin verdingte. Das bedeutete, morgens vor der Schule aus dem Dömitzer Brunnen das Wasser für die wohlhabenderen Bürger der Stadt zu schöpfen und in die Häuser zu tragen, nach der Schule Holz zu sammeln und es gebündelt in die Familien zu bringen. Nach der Schulzeit schickte der Vater sie zu einem Bauern als Magd und versoff ihr ohnehin kärgliches Gehalt. An eine Berufsausbildung für das Mädchen dachte niemand. Aber es blieb zeitlebens ein unerfüllter Traum meiner Großmutter, auf die höhere Töchterschule gegangen zu sein. Als Tochter aus armem Hause war sie besonders erniedrigenden Gefahren ausgesetzt. Auf einem der einsamen Wege, die sie als Magd zu gehen hatte, wurde sie vergewaltigt. Sie wurde schwanger und erlitt eine Fehlgeburt, eine traumatische Erfahrung, die sie nie wirklich bewältigen konnte. Als älteste Tochter fühlte sie sich für ihre Geschwister verantwortlich und finanzierte mit ihrem Verdienst den Nachhilfeunterricht für einen ihrer Brüder, der so einen Schulabschluss erringen konnte. Mit den Jahren verdingte sie sich in immer wieder anderen Städten, so auch in Hamburg. Sie arbeitete gerade in einer Lokstedter Bürgersfamilie als Dienstmädchen, als sie Ernst Riemenschneider kennen lernte und sich verliebte. Das junge Paar heiratete, nachdem Anna ihre erste Tochter, Maria, geboren hatte. Maria kam behindert zur Welt und verstarb nach 1935 in einem Schleswiger Heim für behinderte Kinder, angeblich an Masern, möglicherweise vernachlässigt von PflegerInnen, die dem Euthanasie-Gedanken der Vernichtung so genannten lebensunwerten Lebens anhingen. Ernst und Anna hatten nun also ein Kind. Aber wohin? Beide fanden keinen Wohnraum, und Ernst, der, da er illegal Strom angezapft hatte, gerade in Haft gewesen war, fand keine Arbeit. Er organisierte einen Straßenbahnwagen und entdeckte billiges Pachtland in Bahrenfeld. 1930 endlich bekam die Familie eine günstige Gelegenheit, um in Lurup billig an Land heranzukommen. Sie verkauften den Straßenbahnwagen und begannen in der Eckhoffstraße (heute Jevenstedterstraße) auf einem Grundstück zu siedeln, einer Sumpffläche, die als Müllhalde genutzt wurde.

Leseprobe 3



Inhalt:

Einleitung (Leseprobe)

Kapitel 1: Arbeitslosensiedlungen und Kleingärten


Lurup und seine Bevölkerung ab 1925
Der Luruper Raum zwischen Altona und Hamburg
Grandkutscher, Fahrradfahrer und Fußgänger
Müll und Kies
Kindheit in Lurup
Ausflugsort und Tanzlokale
Ausbau der Infrastruktur durch Notstandsarbeiten
Das Militär
Industrieansiedlungen, Handwerk, mittelständische Unternehmen
Bevölkerungsstruktur im Wandel: Arbeitslosensiedlungen
Mit Selbsthilfe und alternativer Kreativität gegen die Wohnungsnot der 30er Jahre
Siedlungen in Osdorf, Eidelstedt, Lurup und Stellingen
Das Beispiel einer Arbeiterfamilie: Meine Großeltern Anni und Ernst Riemenschneider (Leseprobe)
Bauwagen, Straßenbahnwagen, Eisenbahnwagen
Fischkisten, Behelfsheime, Buden und Hütten
Das öffentliche Bild von Krise und Erwerbslosenexistenz
(Gordon Uhlmann)
Siedlungsprojekte
Schrebergärten und Kleingartenvereine
Siedlungsgemeinschaft "Uns Oldeel"
Siedlungsgemeinschaft "Elbkamp"
Lohnarbeit und Subsistenzwirtschaft
"Das Land hat mich doch im vorigen Jahr in dieser Zeit fast ganz und gar ernährt" – aus Briefen und Tagebüchern Frieda Reimanns

Kapitel 2: Lurup unter der Herrschaft des Nationalsozialismus


Eine Mauer aus Feindseligkeit und Angst
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten
"Arbeitsscheue Volksgenossen" und der "freiwillige Arbeitsdienst"
"Die Ortsgruppe als Siedlungszelle"
Übergriffe auf Siedlergemeinschaften
Schulzeit in Lurup unter dem Nationalsozialismus
Lurup und Eidelstedt im Krieg
Juden, Zeugen Jehovas, Asoziale, Sinti und Roma: Ausgrenzung, Verfolgung, Mord
Lager und Konzentrationslager in Lurup, Eidelstedt und Stellingen
Sinti und Roma in Lurup und Stellingen
Lager für Russen, Polen und Italiener
Plattenbauten im Kleiberweg
Ein Barackenlager am Friedrichshulder Weg – ein Frauenaußenlager des Konzentrationslagers Neuengamme (Hans Ellger)

Kapitel 3: Die ersten Nachkriegsjahre


Angst vor Ausländern
Anti-Ziganismus bei den Luruper Behörden
Kohlen, Zucker und Eier klauen
Trümmerschutt aus Rothenburgsort nach Lurup
Die ersten Kinderfeste bei Eberhard
Eidelstedter und Luruper Hühnerfragen im Hamburger Senat
"Warum müssen wir Frauen wählen?"
Die ersten freien Wahlen im Hamburger Nordwesten
Wohnraum und Baumaterial
Die Baupolizei schreitet ein

Lurup damals und heute – Zusammenfassung und Ausblick


Anmerkungen
Bildnachweis

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