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Anne Karrass / Ingo Schmidt u.a.

Europa: lieber sozial als neoliberal

AttacBasisTexte 11

96 Seiten | 2004 | EUR 7.00 | sFr 10.50
ISBN 3-89965-071-9

 

Kurztext: Die AutorInnen liefern eine kritische Einführung in die Geschichte und Funktionsweise der Europäischen Union, ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Beziehung zu den USA und die Osterweiterung.


Die AutorInnen liefern Anhaltspunkte für die konzeptionelle Ausarbeitung eines demokratischen und sozialen Europa. Sie geben einen geschichtlichen Überblick, betrachten die wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der EU und untersuchen, welche Folgen die Ausdehnung dieser Verhältnisse auf Osteuropa haben kann. Außerdem wenden sie den Blick nach Westen auf die transatlantischen Beziehungen der EU und benennen mögliche Eckpunkte einer Politik für ein anderes Europa in einer anderen Welt.

"Wir müssen konzeptionelle Alternativen zum vorherrschenden Markteuropa und der Militärlogik erarbeiten. Ebenso wichtig ist, die gemeinsame Aktionsfähigkeit der Bewegungen bei voller Wahrung des Ideen- und Meinungspluralismus zu erhalten.!

Die AutorInnen sind Mitglieder der bundesweiten EU-AG von Attac bzw. der EU-AG des wissenschaftlichen Beirats von Attac.

Rezensionen

"Die Konzentration auf die sozial- und wirtschaftspolitische Analyse der heutigen EU", schreibt Gerhard Klas im Neuen Deutschland vom 24./25. Juli 2004, "macht Sinn." Ein Attac-Buch fordert "Europa - lieber sozial als neoliberal"
Demokratisierung der Demokratie

Von Gerhard Klas
Wahrend die Diskussionen um die Europäische Union vor allem um die institutionelle Machtverteilung geführt werden, sind die grundsätzlichen Wert- und Zielvorstellungen der EU kaum Thema. Dieser Frage haben sich einige Autoren aus dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac gewidmet: "Europa: lieber sozial als neoliberal".

Das nicht einmal 100 Seiten umfassende Büchlein aus der VSA-Verlagsreihe AttaeBasisTexte beschäftigt sich hauptsächlich mit der sozialpolitischen Seite der Europäischen Union, aber auch mit ihrer historischen Dimension, der Ost-Erweiterung und den transatlantischen Beziehungen. Die Konzentration auf die sozial- und wirtschaftspolitische Analyse der heutigen EU macht Sinn. Denn das europäische Staatengebilde definiert sie sich vor allem als marktwirtschaftliches Projekt.

Im Verfassungsentwurf der EU steht das Wohl des Binnenmarktes folgerichtig an erster Stelle. Doch zu wessen Nutzen? Das ist die Leitfrage der Autoren. Zu ihnen zählen renommierte Wissenschaftler wie Frank Deppe und Jörg Huffschmid, aber auch weniger bekannte Autoren wie Hans-Jürgen Bieling, Klaus Dräger, Anne Karrass und Ingo Schmidt. Sie arbeiten mit im wissenschaftlichen Beirat und in der EU-Arbeitsgemeinschaft des globalisierungskritischen Netzwerks Attac.

Ihre grundsätzliche Diagnose des EU-Binnenmarktes ist deutlich: Einer immens hohen Erwerbslosigkeit und einem realen Lohnverlust der abhängig Beschäftigten steht eine gesamtwirtschaftliche Profitrate gegenüber, die sich seit den 80er Jahren nahezu verdoppelt hat. Das Datenmaterial, auf das sich die Autoren berufen, stammt nicht aus irgendeinem systemkritischen Forschungsinstitut, sondern aus dem statistischen Archiv der Europäischen Kommission, einer Apologetin der freien Marktwirtschaft par excellence.

Anders als die Kommission jedoch lesen die Autoren dies Material kritisch und decken die Folgen dieser gigantischen Umverteilungspolitik auf: Die Weigerung, individuelle Risiken von Krankheit oder Erwerbsunfähigkeit durch die Gesellschaft abzufedern, erstsolidarisiert und zerschlägt Gesellschaftlichkeit. Das ist zwar keine ganz neue Erkenntnis, sie kann aber angesichts der Penetranz neoliberaler Propaganda, die den Abbau des Sozialstaates und Lohnverzicht predigt, nicht oft genug wiederholt werden.

"Die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung für zentrale Risiken der Menschen ist ein wesentliches Kennzeichen eines fortschrittlichen europäischen Gesellschaftsmodells", schreibt Jörg Huffschmid. "Ausgebaute soziale Sicherungssysteme geben den einzelnen Menschen auch die politische Sicherheit, sich nicht allen Zumutungen von Seiten der Wirtschaft unterwerfen zu müssen uhd selbst aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft teilnehmen zu können" - deshalb seien sie, so Huffschmid weiter, "ein wesentliches Element jeder demokratischen Gesellschaft - und ein natürlicher Gegner jeder neoliberalen Gegenreform."

Dem Anspruch des Buches, konzeptionelle Alternativen zur neoliberalen Ausrichtung der heutigen EU zu entwickeln, wird besonders das letzte Kapitel gerecht. Die Volkswirtschaftlerin Anne Karrass und Klaus Dräger, Mitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Linken/Grüne Nordische Linke im Europaparlament, haben es geschrieben. In Abgrenzung zum EU-Verfassungsentwurf entwickeln sie ein Konzept für ein demokratisches, soziales und ziviles Europa: Sie plädieren für eine einheitliche Besteuerung der Unternehmen auf hohem Niveau, sie wollen die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank beschneiden, und sie fordern europaweite Regeln gegen Sozialdumping sowie eine EU-Außenwirtschaftspolitik, die sich am Ziel einer ökologisch-solidarischen Weltwirtschaft statt an einer skrupellosen Ausbeutung der Dritten Welt orientiert.

Die Fixierung der EU auf die globale Exportwirtschaft und damit die Unterwerfung ihrer Ökonomie unter die weltweite Konkurrenz weisen sie auch mit dem Argument zurück, dass die EU kaum abhängig von solchen Exporten sei. Nur zehn Prozent des Handels wickelt die EU außerhalb ihres Binnenmarktes ab. Deshalb erscheine es aberwitzig, so die Autoren, dass "Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Preisstabilität" im Mittelpunkt der EU-Wirtschaftspolitik stünden. Denn damit konzentriere sich die EU darauf, "den weltweiten Standortwettbewerb anzuheizen, der die bekannten negativen Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft hat".

Die Institutionen der EU, Kommission, Rat, Parlament und auch die Europäische Zentralbank, stellen sie in ihrem Entwurf nicht zur Disposition. Allerdings fordern die Autoren, dass sie wenigstens im Sinne demokratischer Prinzipien funktionieren müssen, wie sie in den Nationalverfassungen niedergelegt sind, und nicht hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution zurückfallen dürfen. In Anlehnung an den französischen Philosophen Etienne Balibar sei darüber hinaus die "Demokratisierung der Demokratie" nötig, die der Bevölkerung mehr direkten Einfluss auf Sozialstaat, Rechtssystem, Medien und Kultur ermöglichen soll.

Die Verfechter des Neoliberalismus werfen ihren Gegnern vor, keine Alternativen zu haben. Anne Karrass und Klaus Dräger beweisen mit dem letzten Kapitel das Gegenteil. In ihren Vorstellungen von einem anderen Europa haben sie wichtige Elemente einer möglichen Alternative und eine interessante Grundlage für künftige Diskussionen skizziert.

Leseprobe 1

Vorwort

Osterweiterung und EU-Verfassung stehen gegenwärtig ganz oben auf der europäischen Tagesordnung. Darüber hinaus bündeln sie zentrale Entwicklungslinien der europäischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Ob sie auch einen Wendepunkt dieser Geschichte darstellen, ist dagegen noch offen. Der Beitritt von acht Staaten Ost- und Mitteleuropas (sowie von Zypern und Malta) zur Europäischen Union im Mai 2004 stellt hinsichtlich der Zahl der beteiligten Länder und ihrer Bürger sowie der Einkommensunterschiede zwischen alten und neuen Mitgliedsländern die umfassendste der bisherigen Erweiterungsrunden der EU dar. Noch stärker als diese empirischen Sachverhalte betont die offizielle Politik jedoch, dass erst die Osterweiterung das im Kalten Krieg gespaltene Europa wiedervereinigen würde. Die darin enthaltene Annahme, es gäbe eine historisch unveränderliche Einheit Europas, ist jedoch recht zweifelhaft. Dies macht insbesondere die ungeklärte Frage nach einem EU-Beitritt der Türkei deutlich. Wo die Grenzen Europas verlaufen, ist höchst umstritten. Darüber hinaus sind beim EU-Gipfel in Brüssel, der im Dezember 2003 einer europäischen Verfassung den Weg bereiten sollte, Konflikte aufgebrochen, welche im (west-)europäischen Integrationsprozess seit langem angelegt waren. Dass sich die Regierungschefs der gegenwärtigen und zukünftigen Mitgliedsländer nicht auf die Stimmrechtsverteilung im Europäischen Rat einigen konnten und damit die geplante Einführung einer europäischen Verfassung vorläufig blockiert haben, hat einmal mehr gezeigt, dass die Entwicklung der EU fast vollständig von der Regierungspolitik ihrer Mitgliedsländer bestimmt wird. Kaum Einfluss hat dagegen die Bevölkerung, soweit sie keine Lobby in Brüssel hat. Dieses demokratische Defizit der EU, das häufig und zu Recht beklagt wird, wird auch durch die europäische Verfassung nicht ausgeglichen. Die weitestgehende Vorstellung einer demokratischen Form für ein gemeinsames Europa, die von einem "europäischen Staat" mit ausgeprägten demokratischen Strukturen ausgeht, wurde von unterschiedlichen politischen Gruppierungen bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs propagiert. Der "europäische Staat" sollte an die Stelle der Nationalstaaten treten, deren Machtkonkurrenz in zwei Weltkriegen maßloses Leid und Elend produziert hatte. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges konnten sich diese Ideen nicht durchsetzen; im Westen erlebten die Nationalstaaten ein unerwartetes Comeback. Im Laufe der Entwicklung der EU haben sich ihre Außengrenzen wiederholt verschoben. Zugleich ist die Macht- und Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedsstaaten immer wieder verändert worden. Im Zentrum stand dabei vor allem der Prozess einer beschleunigten Markt- und Währungsintegration. Während sich die Regierungen in diesem Bereich immer wieder darauf einigen konnten, Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verlagern, haben sie sich in anderen Bereichen ernsthaften Macht- und Kompetenzverschiebungen stets widersetzt. Im Ergebnis wurde auf diese Weise nicht nur die neoliberale Ausrichtung der Integration festgeschrieben, sondern auch die Ausbreitung sozialer Unsicherheit und Ungleichheit gefördert. Angesichts von Undurchsichtigkeit und demokratischem Defizit ist es kaum verwunderlich, dass die soziale Unsicherheit, die sich insbesondere seit Ende der 1970er Jahre parallel zum europäischen Integrationsprozess ausgebreitet hat, häufig der EU angelastet wird. Nationalisten ziehen daraus den Schluss, die nationalstaatliche gegenüber der europäischen Ebene wieder zu stärken und den Integrationsstand zurückzuschrauben. Progressive Kräfte verlangen hingegen, dass die EU für eine wirtschafts- und sozialpolitische Kurskorrektur genutzt wird und die europäischen Entscheidungsprozesse zugleich demokratisiert werden. Die in diesem Sinne organisierten Proteste gegen die neoliberale Formierung und die Übermacht der Wirtschaftsinteressen haben dazu geführt, dass Keimformen einer europäischen politischen Öffentlichkeit entstanden sind. Dies gilt umso mehr, als die EU-Gipfeltreffen seit einiger Zeit einen festen Platz im Protestkalender der globalisierungskritischen Bewegung haben. Der vorliegende AttacBasisText will Anhaltspunkte für die konzeptionelle Ausarbeitung eines demokratischen und sozialen Europa liefern. Zu diesem Zweck wird zunächst ein geschichtlicher Überblick gegeben, bevor die wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der EU näher betrachtet werden. Anschließend untersuchen wir, welche Folgen die Ausdehnung dieser Verhältnisse auf Osteuropa haben kann und wenden dann den Blick nach Westen auf die transatlantischen Beziehungen der EU. Mögliche Eckpunkte einer Politik für ein anderes Europa in einer anderen Welt werden am Schluss des Buches benannt. Januar 2004
Hans-Jürgen Bieling, Frank Deppe, Klaus Dräger, Jörg Huffschmid, Anne Karrass, Ingo Schmidt

Inhalt:

1. Vorwort (Leseprobe)
2. Entwicklungsphasen der europäischen Integration
Aufbauphase
Konsolidierungsphase
Krisen- und Stagnationsphase
Der neue Integrationsschub
Die Europäische Union als Handlungsraum
Neue Herausforderungen
3. Wirtschafts- und Sozialpolitik: Neoliberale Formierung statt europäisches Gesellschaftsmodell
Die erste Phase: Binnenmarkt und Währungsunion
Ökonomische und soziale Ergebnisse: Weniger Wachstum, mehr Arbeitslosigkeit und Ungleichheit
Die zweite Phase: Sozialabbau für die Finanzmärkte
Widersprüche und Widerstände: Zeit für ein europäisches Gesellschaftsmodell
4. Die Osterweiterung
Neue Qualität der Erweiterung
Divergierende nationale Interessen
"Euroimperialismus"
Markt- statt Sozialintegration
Zwei-Klassen-System
Alternativen zum Neoliberalismus
5. Transatlantische Beziehungen: Vom Juniorpartner zum Rivalen der USA?
Europäisches Wachstum im Windschatten des US-Imperiums
Vom Nachkriegsboom zu transatlantischen und innereuropäischen Spannungen
Transatlantische Arbeitsteilung wiederhergestellt: US-Führung und europäische Exportförderung
Triumph des US-Imperiums?
6. Ein anderes Europa in einer anderen Welt?
Projekt Demokratische EU
Projekt Soziales Europa
Projekt "Zivilmacht EU"
Europäische Konvergenz sozialer Bewegungen?
Zum Weiterlesen

Autorenreferenz

Hans-Jürgen Bieling ist Hochschuldozent für europäische Integration am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. (Kapitel 2) Frank Deppe ist Professor für Politikwissenschaften an der Philipps-Universität in Marburg. (Kapitel 4) Klaus Dräger ist Fraktionsmitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke. (Kapitel 6) Jörg Huffschmid ist Professor für Politische Ökonomie und Wirtschaftspolitik an der Universität Bremen, Mitglied der deutschen und der Europäischen Memorandum-Gruppe. (Kapitel 3) Anne Karrass ist Gründungsmitglied der bundesweiten EU-AG von Attac und promoviert zum Thema Finanzpolitik in der EU. (Kapitel 6) Ingo Schmidt lehrt an der Universität Göttingen und ist Mitglied der EU-AG des wissenschaftlichen Beirats von Attac. (Kapitel 5)

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