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Freerk Huisken

Der "PISA-Schock" und seine Bewältigung

Wieviel Dummheit braucht / verträgt die Republik?

96 Seiten | 2005 | EUR 8.80 | sFr 16.10
ISBN 3-89965-160-X 1

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Kurztext: Wie ist es um die geistige Verfassung junger Menschen hierzulande bestellt? Genau dieser Frage widmet sich die vom "PISA-Schock" ausgelöste Debatte nicht.


Freerk Huisken untersucht ihren nationalistischen Kern und kommt zu dem Schluss: Auf dem Prüfstand steht nicht die Bildung, die der Jugend verpasst wird, sondern allein die Auswirkungen dieser Bildung auf das nationale Ansehen und auf die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Ökonomie werden besorgt registriert.

Die PISA-Studien haben in Deutschland für Aufregung gesorgt. Das miserable Abschneiden 15-jähriger Schülerinnen und Schüler galt und gilt als Blamage einer Nation, die sich nicht nur zu den gehobenen "Wissensgesellschaften" zählt, die sich nicht nur auf ihre Kultur und ihre Geistesleistungen einiges zu Gute hält, sondern die sich bisher auch eines Bildungswesens zu rühmen wusste, dessen Absolventen sich als überzeugte deutsche Demokraten, als "mündige Staatsbürger" fleißig der Rechte und Pflichten annahmen, die das Nachkriegsdeutschland für sie vorgesehen hatte.

Aus dem in den PISA-Studien festgestellten Abstieg aus der 1. Liga im Bildungsvergleich wurde das gleiche Schicksal für die deutsche Nationalökonomie abgeleitet. Denn über eines sind sich Öffentlichkeit, Politik und Fachwelt sehr einig: Bildung ist ein Wachstumsfaktor, eine Ressource für den Standort, ist Humankapital, mit dem "wir" unsere Rohstoffknappheit substituieren können und müssen. Eine klare Auskunft darüber, dass Wissenschaft und Bildung ganz im Dienste am Kapital aufzugehen haben.

Der Autor:
Freerk Huisken ist Hochschullehrer an der Uni Bremen und dort in der Lehrerbildung tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Kritik des Bildungswesens und der Erziehungswissenschaften, "Jugendgewalt" und Rechtsextremismus. Bei VSA erschien von ihm zuletzt: z.B. Erfurt. Was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungswesen so alles anrichtet (2002).

Leseprobe 1

Einleitung

"Reform = Neuordnung, Umgestaltung, Verbesserung", so steht es im Fremdwörterlexikon. Und es gab einmal eine Zeit, da legte sich der Bürger die Ankündigung von Reformen genau so zurecht – mit Betonung auf der letztgenannten Bedeutung. Wenn "die da oben" eine Reform ankündigten, dann wurde zwar nicht das Himmelreich auf Erden versprochen – immerhin ging es wirklich nur um die "Neuordnung" der eingerichteten Verhältnisse und nicht um ihre Umwälzung. Doch irgendeine "Verbesserung" seiner Lebensverhältnisse erwartete er sich von so einer "Umgestaltung" schon. Vielleicht würde die Reform des Arbeitsrechts den Arbeitstag ein wenig verkürzen, die Reform des Schulwesens für kleinere Klassen sorgen, die Reform der Sozialversicherungen den Übergang zur Sozialhilfe hinauszögern usw. Diese Zeiten sind endgültig vorbei. Diese Interpretation politischer Reformtaten ist den Zeitgenossen ausgetrieben worden und zwar gründlich. Gestimmt hat sie ohnehin nie: Denn selbst die Einrichtung und der Ausbau des Sozialstaats mit Arbeitsschutz, Gesundheitswesen und Altersrente etc. galt gar nicht der Verbesserung der Einkommens- und Arbeitsverhältnisse von einkommensabhängig Beschäftigten. Die konnten zwar, gestützt auf "den Vergleich mit früher", einige Fortschritte festhalten. Die galten jedoch allein der Aufrechterhaltung ihrer Benutzbarkeit für Arbeitsverhältnisse, die ihre Benutzung ständig in Frage stellten, sollten also an den Ursachen ruinöser Benutzungsverhältnisse nichts ändern. Heute kommt die politische Ankündigung einer Reform einer Drohung gleich – allerdings ohne dass man sie durch wohlgefälliges Benehmen entschärfen könnte. Die Reform des Sozialstaats bringt die Verschlechterung der staatlichen Sozialleistungen, die Reform des Arbeitsmarkts macht Billigjobs salonfähig und drückt massiv auf die eingerichteten Einkommensverhältnisse, die Reform des Steuerwesens holt sich ganz gerecht an indirekten Steuern, was sie an direkten Steuern hier und da mal erlässt, die Reform des Gesundheitswesens belastet unter der Parole "mehr Eigenverantwortung" die privaten Einkommen und entlastet die Kassen. Jede politische "Umgestaltung" muss man fürchten. Regelmäßig erweist sie sich als Griff in die Taschen der "kleinen Leute". Um "Verbesserungen" ging und geht es schon bei allen Reformen. Verbessert werden soll jedoch die Lage der Nation, die man eigentlich nicht mit der Lage ihrer Bevölkerung verwechseln kann. Einst fiel darunter die Einrichtung von Sozialversicherungen, von Tarifrecht und Arbeitsschutz, von einem allgemeinen Bildungswesen und einer ebenso allgemeinen Krankenversicherung. Dies und einiges mehr galt als "Lösung der sozialen Frage". Heute fällt unter dasselbe Kriterium deren Demontage. Das liegt nicht an einem "Paradigmenwechsel", den sich regierende Parteien einfach mal ausgedacht haben, sondern an einer veränderten Weltlage, an der auch die hiesige Nation nicht zuletzt vermittels all der gelungenen Reformen der Vergangenheit mitgewirkt hat. Die "Umgestaltung", die heute vor allem unter dem Begriff Agenda 2010 und unter dem Namen eines inzwischen ziemlich unehrenhaft abgetretenen ehemaligen VW-Managers läuft, ist nichts anderes als das Bemühen, nach der inneren Zurichtung der Nation zu einem erfolgreichen kapitalistischen Gemeinwesen dessen gewachsene Macht in der internationalen Staatenkonkurrenz ebenso erfolgreich zum Einsatz zu bringen. Diese Konkurrenz, in der die übriggebliebenen "Industriestaaten" inzwischen ziemlich unter sich sind – sie hört auf den Namen Standortkonkurrenz –, hat es nicht nur deswegen in sich, weil die ökonomischen Konkurrenzsiege der einen Partei Niederlagen einer anderen bedeuten, sondern weil sich die Standortkonkurrenz – wieder einmal – zu einem imperialistischen Kampf um die Welt-(vor)herrschaft ausgewachsen hat. Deswegen fasst sich nationale Politik inzwischen auch in dem einen Programmpunkt zusammen, der von keiner der Parteien, die als regierungstauglich gelten, bestritten wird: Wie lässt sich die gesamte Nation, wie lassen sich Land und Leute, mit allem, was das Land an Kapitalreichtum zu bieten hat und was die Leute sind, als Ressourcen für diese Konkurrenz um den Erfolg nationaler Standorte zurechtmachen und in ihr einsetzen? Dieser Gesichtspunkt dominiert die nationale Politik. Und er wird überhaupt nicht dementiert. Denn der Sachzwang "Globalisierung", von dem sich Politiker heute zu Sozialabbau und anderen Anschlägen auf die Lebensverhältnisse der Bürger genötigt sehen, ist nichts anderes als diese mit neuer Offensive geführte Konkurrenz der führenden Nationen. Das Schulwesen macht da keine Ausnahme. Die PISA-Studie ist der willkommene Anlass zu einer "Umgestaltung" des gesamten Bildungswesens, die sich letztlich demselben imperialen Zweck verdankt. Eine Waffe soll es, besser: soll die in ihr ausgebildete Jugend im Kampf um die Aneignung von Reichtum und bei der Mehrung von Weltgeltung sein. Was meinen Politiker wohl, wenn sie permanent betonen, dass "Bildung und Forschung von strategischer Bedeutung für die Zukunft unseres Landes (!) sind" (E. Bulmahn, Juni 2002)? Und was will G. Schröder mit der Regierungserklärung gesagt haben, in der er betonte, dass "wir Spitze bleiben wollen in der Weltwirtschaft" (März 2003)? Wenn Schüler und Studenten bei ihrem Protest gegen Reformmaßnahmen, die vermittels neuer Wege und Einrichtungen die Konkurrenz verschärfen und darüber die Leistungsfähigkeit des Bildungswesens für die Standortbelange erhöhen, diese als "Deform" kritisieren, dann haben sie zwar Recht, wenn sie auf erhebliche Unbequemlichkeiten und auf den Leistungsdruck verweisen, der auf sie zukommt. Doch irren sie, wenn sie das Reformwerk für eine "Deformierung" des Bildungswesens, mithin für eine missratene, die eigentlichen nationalen Bildungsanliegen verfehlende Bildungsreform halten. Sie sollten die Worte führender Politiker ernst nehmen, wenn die schon mal von ihrer gewohnheitsmäßigen Tour, jeden Anschlag auf die Lebensverhältnisse der Bürger als Dienst an ihnen vorzustellen, sehr pointiert abweichen. Die beiden nachfolgenden Texte – sie stellen Überarbeitungen von Vortragsmanuskripten aus den Jahren 2002/2003 dar – unternehmen den Versuch, die PISA-Debatte und die sich anschließenden Reformen ohne derartige heimatverbundenen (Vor-)Urteile über Politiker, die angeblich immer dann ihren "wahren Auftrag" verfehlen, wenn sie den Bürgern neue Härten verpassen, zu untersuchen. Das ist dann eine einfache Übung, wenn man sich von der sittlichen Selbstverpflichtung auf den demokratischen Nationalismus verabschiedet hat, der die regelmäßige Ermächtigung der Herrschaft durchs Volk für eine Art Vorleistung des Volkes hält, die dann die Herrschaft mit guten Taten fürs Volk zu honorieren hat.

Inhalt:

Einleitung (Leseprobe)
PISA und die Folgen
oder: Wieviel Dummheit braucht/verträgt die Republik?
1. Die PISA-Debatte
2. Der PISA-Befund
3. Die Reformdebatte
Schulreform nach PISA
Das Beispiel Bremen
1. Das neue Bremer Schulkonzept2. Die Reformmaßnahmen im Einzelnen3. Schule als Standortfaktor – eine Zusammenfassung

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