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Lennart Laberenz (Hrsg.)

Schöne neue Öffentlichkeit

Beiträge zu Jürgen Habermas "Strukturwandel der Öffentlichkeit"

212 Seiten | 2003 | EUR 16.50 | sFr 29.50
ISBN 3-89965-043-3 1

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Die Untersuchung zum »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, in deren Zentrum die liberalen Elemente der bürgerlichen Öffentlichkeit und deren sozialstaatliche Transformationen standen, gewinnt durch die Dynamik der modernen bürgerlichen Gesellschaft immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven an Aktualität.


Fiel die Erstveröffentlichung 1962 noch in Zeiten eines CDU-Staates und der Ludwig Erhardschen "Formierten Gesellschaft", in denen die Thematisierung des emanzipatorischen Potenzials bürgerlicher Öffentlichkeit aufklärerische und kritische Impulse vermittelte, begründete Habermas eine unveränderte Neuauflage 1990 u.a. damit, dass die "nachholende Revolution" in den osteuropäischen Gesellschaften dem Text eine erneute Aktualität verliehen hat. Erst in dieser Zeit ist das Buch auch ins Englische übersetzt worden und fand eine perspektivenreiche Behandlung seiner Themen auch in der amerikanischen sozialwissenschaftlichen Diskussion statt. Mittlerweile ist der "zivilgesellschaftliche Aufbruch" von 1989 durch andere politische Dynamiken und deren Widersprüche überrollt worden: neoliberale Globalisierung, Renationalisierung und "postnationale Konstellationen", Populismus und Krise demokratischer Willensbildung und politischer Repräsentanz.

Diese Entwicklungen treffen ins Zentrum der Themen des Strukturwandels der Öffentlichkeit: Wie ist es heute, angesichts erneuter ökonomischer Transformationen kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten und von "Transnationalisierungsprozessen" um demokratische Öffentlichkeit, den öffentlichen Raum und die Funktion öffentlicher Meinung bestellt? Was bedeuten zunehmende Medialisierung von Politik und Amerikanisierung von Wahlkämpfen für einen emphatischen Begriff von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft als Korrektive staatlicher Politik? Dem gehen die Autoren dieses Bandes nach, indem sie den "Strukturwandel der Öffentlichkeit" von Jürgen Habermas in unterschiedlicher Weise zum Ausgangs- und Referenzpunkt nehmen.

Leseprobe 1

Vorwort

"Strukturwandel der Öffentlichkeit (...) Revisionen ... Der Sozialstaatsgedanke sollte als Hebel für einen radikaldemokratischen Reformismus dienen, der die Perspektive für einen Übergang zum demokratischen Sozialismus mindestens offenhielt. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sei, wie Wolfgang Abendroth meinte, darauf angelegt, ›den materiellen Rechtsstaatsgedanken der Demokratie, also vor allem den Gleichheitssatz und die Verbindung des Gleichheitssatzes mit dem Teilhabedenken, im Selbstbestimmungsgedanken auf die Wirtschafts- und Sozialordnung auszudehnen‹. ... Wenn meine Distanz zu diesem Ansatz inzwischen gewachsen ist, kann dieser Umstand die in der Widmung ausgedrückte intellektuelle und persönliche Verpflichtung gegenüber Wolfgang Abendroth nicht verringern."
Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Vorwort zur Neuauflage 1990 Im Zentrum von Jürgen Habermas’ "Strukturwandel der Öffentlichkeit – Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft" steht die kritische Analyse der liberalen Elemente der bürgerlichen Öffentlichkeit und deren sozialstaatlichen Transformationen – sowohl nach der Seite der Erweiterung politischer und sozialer Teilhaberechte als auch nach der Seite paternalistischer wohlfahrtsstaatlicher Politik. Habermas verfolgt die Ablösung spätabsolutistischer repräsentativer Öffentlichkeit durch Formen literarischer Öffentlichkeit (Klubs, Presse etc.) des Bürgertums und deren weitere Überformung durch Kommerzialisierung und Massenmedien (Werbung, öffentliche Meinung etc.). Diese Veränderungen im politischen System resultieren aus der Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft, die Habermas einzufangen suchte und die seitdem keineswegs zum Stillstand gekommen ist. Solche gesellschaftlichen Transformationsprozesse zwingen immer wieder aufs Neue, sie theoretisch zu verarbeiten. Dies verleiht dem "Strukturwandel..." aus unterschiedlichen Perspektiven Aktualität. Habermas’ Analyse lässt sich aber nicht nur als sozialphilosophische und historisch unterfütterte Konzeptualisierung der widersprüchlichen Seiten dieses fortschreitenden Prozesses der Kommerzialisierung von Politik und Medien lesen. Mit der Öffentlichkeit und ihrem Strukturwandel im historischen Prozess der Ausdifferenzierung moderner kapitalistischer Gesellschaften ist ein gesellschaftlich relevanter Kernbereich thematisiert, dessen charakteristische Verfasstheit im Spannungsfeld von Staat und Ökonomie auf dem jeweiligen historischen Entwicklungsstand Auskunft über erweiterte politische Partizipationsmöglichkeiten und damit das Demokratisierungspotenzial der bürgerlichen Gesellschaft geben kann – und damit auch über mögliche weitergehende Emanzipationsprozesse, in denen strukturelle soziale Ungleichheiten, die der bürgerlichen Gesellschaft eingeschrieben sind, zurückgedrängt werden können. Bei aller Relativierung durch historisch veränderte und neuartige Befunde über Strukturen und Mechanismen von Öffentlichkeit liegt darin die zeitdiagnostische Qualität von Habermas’ Studie aus dem Jahr 1962. Die Entstehung dieser Untersuchung fällt in eine gesellschaftliche Umbruchsituation der Frühzeit der Bundesrepublik. Zum einen hatte sich die deutsche Sozialdemokratie zur "Volkspartei" transformiert, was seinen Ausdruck auch in der Verabschiedung des Godesberger Programms 1959 fand. Zum anderen fand Anfang der 1960er Jahre ein Übergang bürgerlicher Politik zum CDU-Staat und der "Formierten Gesellschaft" Ludwig Erhards statt. Gegen diesen damaligen Zeitgeist gerichtet, vermittelte Habermas’ Thematisierung des emanzipatorischen Potenzials bürgerlicher Öffentlichkeit einen Optimismus bezogen auf die politische Rolle von Öffentlichkeit. Nach rund 30 Jahren begründete Habermas eine unveränderte Neuauflage seiner Habilitationsschrift 1990 unter anderem damit, dass die "nachholende Revolution" in den osteuropäischen Gesellschaften dem Text eine erneute Aktualität verliehen habe. Gerade in den Bürgerbewegungen und politischen Umbrüchen in Osteuropa sei die gesellschaftsverändernde Kraft von aufgeklärter und kritischer Öffentlichkeit zum Tragen gekommen. Teile dieser Errungenschaften demokratischer Strukturen aus jener Aufbruchstimmung von 1989 unterliegen allerdings in den letzten Jahren immer mehr Entfremdungs- und Enteignungsprozessen oder – mit Habermas gesprochen – systemischer Kolonialisierung. Zu Beginn der 1990er Jahre ist dieser frühe Habermassche Schlüsseltext ins Englische übersetzt worden, was weiteren Diskussionsstoff von geschichtswissenschaftlicher und feministischer Seite auslöste und eine perspektivenreiche Behandlung der Habermasschen Themen und Thesen auch in der anglo-amerikanischen sozialwissenschaftlichen Debatte in Gang setzte. Mittlerweile ist der "zivilgesellschaftliche Aufbruch" von 1989 nicht nur in Osteuropa, sondern auch in den entwickelten kapitalistischen Metropolen durch parteipolitische (De-)Formierungen der sozialen Bewegungen der 1980er Jahre, andere politische Dynamiken sowie deren Widersprüche überrollt worden. Neoliberale Globalisierung, Renationalisierung und "postnationale Konstellationen", Populismus und Krise demokratischer Willensbildung und politischer Repräsentanz sind dafür die Stichworte. Diese Entwicklungen treffen ins Zentrum der Themen des "Strukturwandels der Öffentlichkeit" von 1962/1990: Wie ist es heute, angesichts erneuter ökonomischer Transformationen kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten und von "Transnationalisierungsprozessen" um demokratische Öffentlichkeit, den öffentlichen Raum und die Funktion öffentlicher Meinung bestellt? Was bedeuten zunehmende Medialisierung von Politik und Amerikanisierung von Wahlkämpfen für einen emphatischen Begriff von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft als Korrektive staatlicher Politik? In seiner groß angelegten Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats in "Faktizität und Geltung" (1992) hat Habermas den Fokus aus dem "Strukturwandel der Öffentlichkeit" erweitert und verschoben: "Grundrechtliche Garantien allein können freilich Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft vor Deformation nicht bewahren. Die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit müssen vielmehr von einer vitalen Bürgergesellschaft intakt gehalten werden." Aber wie ist es zu Beginn des 21. Jahrhunderts hierzulande um diese vielbeschworene Vitalität der Zivilgesellschaft bestellt? Auch die modernisierte Sozialdemokratie pflegte noch vor kurzem vollmundig den bürgergesellschaftlichen Diskurs. Mittlerweile werden in diesem Diskurs die repressiven Töne einer Politik des "Förderns durch Fordern" immer lauter. Basta-Reden, Hartz-, Rürup- und Herzog-Kommission, stille "große Koalitionen", exklusive Professionalisierung und Abgehobenheit der politischen Klasse, Aushöhlung innerparteilicher Willensbildungsprozesse im Kleinen und Privatisierung und Kapitalisierung sozialer Infrastruktur im Großen tun das Ihre, den zivilgesellschaftlichen vorpolitischen Raum (Hannah Arendt) wie das politische System insgesamt weiter zu deformieren. Zum Spannungsverhältnis von Habermas’ Untersuchung und ihren zeitgeschichtlichen Bezügen gehören auch Thesen einer politisch-theoretischen Analyse, die nur wenige Jahre nach Habermas’ "Strukturwandel..." publiziert wurde. Ihre unterliegende damalige Zeitdiagnose stand quer zu einer "optimistischen" Lesart von Habermas’ Öffentlichkeitsbuch und wurde zu einem Klassiker der 1968er Literatur: "Es entwickelt sich ein neuartiger, durch die Zusammenarbeit der Parteiführungsstäbe untereinander bedingter Herrschaftsmechanismus, in dem verdinglichte, obrigkeitliche Machtzentren in sich zirkulierend ein Konkurrenzverhältnis eingehen. Es versteht sich: hier ist die Rede von Parteien verschiedener Richtung, aber gleichen Typus: von Ordnungsparteien, die – spinozistisch gesprochen – sich in dem Modus, nicht in der Substanz einer konservativen Politik unterscheiden." (Johannes Agnoli, Transformation der Demokratie, 1968) Mit dem "Strukturwandel der Öffentlichkeit" versuchte Habermas, solche Veränderungs-, Entfremdungs- und Deformationsprozesse im Rückgang auf die sozialen, politischen und ideologischen Grundstrukturen der bürgerlichen Öffentlichkeit theoretisch-systematisch zu erfassen: "Der Integration des öffentlichen und privaten Bereichs entsprach nämlich eine Desorganisation der Öffentlichkeit, die einst Staat und Gesellschaft vermittelte. Diese Vermittlungsfunktion geht vom Publikum auf solche Institutionen über, die sich, wie die Verbände, aus der Privatsphäre oder, wie die Parteien, aus der Öffentlichkeit heraus gebildet haben und nun Machtvollzug und Machtausgleich im Zusammenspiel mit dem Staatsapparat intern betreiben; dabei bemühen sie sich über die ihrerseits verselbständigten Massenmedien bei dem mediatisierten Publikum um Zustimmung oder mindestens Duldung. Publizität wird gleichsam von oben entfaltet, um bestimmten Positionen eine Aura von good will zu verschaffen. Ursprünglich garantierte Publizität den Zusammenhang des öffentlichen Räsonnements sowohl mit der legislativen Begründung der Herrschaft als auch mit der kritischen Aufsicht über deren Ausübung. Inzwischen ermöglicht sie die eigentümliche Ambivalenz einer Herrschaft über die Herrschaft der nichtöffentlichen Meinung: sie dient der Manipulation des Publikums im gleichen Maße wie der Legitimation vor ihm. Kritische Publizität wird durch manipulative verdrängt." Dieser theoretische Spannungsbogen in Habermas’ früher Zeitdiagnose macht seinen "Strukturwandel der Öffentlichkeit" zu einem Bezugspunkt, um die eigenen Zeitdiagnosen an veränderten Wirklichkeiten einer immer noch bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu überprüfen und zu schärfen. Im Jahr 2002 ist die Habilitationsschrift von Jürgen Habermas 40 Jahre alt geworden – Grund genug für eine Neubesichtigung seiner Thesen. Die vier vergangenen Jahrzehnte haben das Buch nicht antiquiert und die Debatten um den Themenkomplex der Öffentlichkeit weitergeführt. Dem gehen auch die Autorinnen und Autoren dieses Bandes nach, indem sie den "Strukturwandel der Öffentlichkeit" von Jürgen Habermas zum Ausgangs- und Referenzpunkt genommen haben und Stärken und Schwächen eines weitgespannten Untersuchungsfeldes ausloten – mit zeitdiagnostischem Bezug auf Fragen neoliberaler Hegemonie, Geschlechterdemokratie, öffentlicher Güter, Institutionenkritik, Nationalismus und Formen öffentlicher Kommunikation bis hin zur geschichtlichen Rolle einer Kultur des Witzes. Christoph Lieber (VSA-Verlag)

Inhalt:

Vorwort (Leseprobe)
Lennart Laberenz
Schöne neue Öffentlichkeit?
Anmerkungen zu Herrschaft und Öffentlichkeit unter dem Vorzeichen des Neoliberalismus
Martin Gegner
Die Entmaterialisierung der Öffentlichkeit
Über die Verengung eines dialektischen Konzepts und den Gebrauch in neoliberalen Zeiten
Sabine Lang
Der geschlechterdemokratische Strukturwandel der Öffentlichkeit
Jürgen Habermas in der feministischen Debatte
Cathleen Kantner / Udo Tietz
Dialektik, Dialog und Institutionenkritik
Zum Institutionenverständnis der Kritischen Theorie
Lennart Laberenz
Die Rationalität des Bürgertums
Nation und Nationalismus als blinder Fleck im Strukturwandel der Öffentlichkeit
Marcus Llanque
Räsonnement und Deliberation
Zu einem Grundproblem öffentlicher Kommunikation bei Habermas
Agnes Heller
Der Strukturwandel der Öffentlichkeit
und das Entstehen der Witzkultur

Autorenreferenz

Martin Gegner ist Diplompolitologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Agnes Heller ist Hannah-Arendt-Professorin für Philosophie an der Graduate Faculty der New School for Social Research in New York. Dr. Cathleen Kantner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für vergleichende Strukturanalyse an der Humboldt Universität zu Berlin. Lennart Laberenz ist Student der Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sabine Lang ist Politikwissenschaftlerin und lehrt zurzeit in den USA als Visiting Assoc. DAAD Professorin an der Henry M. Jackson School of International Studies der University of Washington. Dr. Marcus Llanque ist wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt Universität zu Berlin, Institut für Sozialwissenschaften. Dr. Udo Tietz ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für theoretische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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