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Uwe-Jens Heuer

Marxismus und Glauben

316 Seiten | 2006 | EUR 19.80 | sFr 35.10
ISBN 3-89965-176-6 1

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Kurztext: Eine marxistische Auseinandersetzung um Glaube und Religion im Marxismus und seiner Geschichte, mit einem Kapitel über Religion und Sozialismus am Beispiel der DDR.


Eine der stärksten Formen der Ideologie ist der Glaube. Er hat in Gestalt des religiösen Glaubens eine weltgeschichtliche Rolle gespielt und spielt sie noch heute, wie sich an der Virulenz religiöser Fundamentalismen zeigen lässt. Soziale und politische Bewegungen werden immer wieder religiös aufgeladen. Der Marxismus ist, als Weltanschauung wie als soziale Bewegung, mit dem Vorwurf der Quasi-Religion konfrontiert. Der Weg von der Utopie zur Wissenschaft habe letztlich zu einer neuen "Heilslehre" geführt, wofür auch der "psychografische" Katzenjammer ehemaliger gläubiger Jünger spräche. Andererseits wird der Marxismus als Szientismus gegeißelt, für den Kategorien wie Glaube und Hoffnung nicht bestünden und der alle Probleme für gelöst hielte.

Uwe-Jens Heuer zeigt, welche innertheoretischen Auffassungen zu Religion und Glaube sich bei den Aufklärern, bei Marx und Engels selbst und ihren ersten Schülern finden lassen. Zum andern untersucht er die Geschichte des Sozialismus im Spannungsfeld von Glaube, Wissenschaft und Politik. Damit stellt er sich der Herausforderung, den doppelten Vorwurf an den Marxismus zu prüfen. Er schlussfolgert, dass als Lehre der Vergangenheit der Marxismus auf der Dominanz des Wissens bestehen müsse, aber auch des Glaubens als Grundlage von Aktivität und persönlichem Einsatz bedürfe.

Der Autor:
Uwe-Jens Heuer war Rechtswissenschaftler in der DDR und acht Jahre Bundestagsabgeordneter für die PDS. Letzte Buchveröffentlichungen: Im Streit. Ein Jurist in zwei deutschen Staaten (2002), Marxismus und Politik (2004).

Leseprobe 1

Kapitel 1
Marxismus und Glauben – die Problemstellung In meinem Buch "Marxismus und Politik"[1] wollte ich die Möglichkeiten und Grenzen der Politik in der Sicht von Marx und Engels und die entsprechenden Überlegungen in der marxistischen Schule darstellen. Das erforderte, besonders das Verhältnis von Ökonomie und Politik ins Visier zu nehmen. Ausgespart blieben weitgehend die Überlegungen zur Rolle der Ideologie, zur Kraft von Ideen, insbesondere des Marxismus selbst. Die stärkste Form der Ideologie ist der Glaube. Er hat in Gestalt des religiösen Glaubens eine große welthistorische Rolle gespielt und spielt sie wohl noch heute. Gegenwärtig wird sie vor allem durch den Begriff des Fundamentalismus charakterisiert. Ich sah also sowohl prinzipiell theoretische als auch aktuell-politische Gründe für das Thema "Marxismus und Glauben". Dabei will ich auch hier im Interesse des Charakters einer Einführung nicht die gesamte Literatur, die inzwischen ganze Bibliotheken umfasst, darstellen, sondern die Autoren selbst zu Worte kommen lassen. Das betrifft diesmal nicht nur die Marxisten, sondern auch – dem Thema entsprechend – die Zeugnisse der verschiedenen Religionen. Die Reichhaltigkeit der bisher gegebenen Antworten schließt wie schon in dem früheren Buch die Herstellung einer richtigen Linie, von der jeweils nach rechts oder links abgewichen wurde, aus. Der Leser wird schnell bemerken, dass Gleiches auch für die Religionen gilt. Dem Marxismus (einschließlich des Leninschen Werkes) wird in seinem Verhältnis zum Glauben heute zweierlei angekreidet. Dabei geht es sowohl um die Vergangenheit als auch um die Gegenwart. Einmal wird ihm vorgeworfen, dass er eine Quasi-Religion gewesen oder jedenfalls geworden sei. Zum anderen wird der Vorwurf erhoben, dass er allzusehr auf die Wissenschaft gesetzt habe, Kategorien wie Glaube und Hoffnung für den Marxismus nicht existierten. Dabei ist offenbar, dass beide Kritiken einander eigentlich ausschließen. Das hindert allerdings vor allem das Feuilleton nicht, beides miteinander zu verbinden. Freilich ist das Feuilleton nicht unbedingt der Logik verpflichtet. Bereits in der Auseinandersetzung von Eduard Bernstein und Karl Kautsky erhob Bernstein gegen Marx erhebliche Vorwürfe mangelnder Wissenschaftlichkeit. Am 26. August 1897 schrieb Bernstein an Kautsky, dass er im Gegensatz zur Methode die Resultate von Marx und Engels "nur noch theilweise" anerkennen könne.[2] Am 1. September 1897 verschärfte er, dass er in der Theorie immer mehr schwache Punkte sehe, und verwies besonders auf Marxens Scheitern beim dritten Band des Kapitals. Seine Briefe seien die Briefe eines Parteimannes, keine Geschichtsquelle, hieß es am 23. Oktober 1897. Kautsky hält Bernstein am 26. Juli 1898 entgegen: "Du hast unsere Taktik über den Haufen geworfen, unsere Wertlehre, unsere Philosophie." Ihre enge, ja freundschaftliche Zusammenarbeit war beendet. Auf Bernsteins Besorgnis, es würde niemand mehr wagen, ihn zu unterstützen, antwortete Kautsky, er glaube nicht, irgend jemanden daran hindern zu können, für Bernstein Partei zu ergreifen. "Du bist ebenso Kirchenvater wie ich und genießest das gleiche Ansehn." (30. November 1898) Schelz-Brandenburg, der Herausgeber dieser Briefe, wertete das Ganze als Kampf eines Bernstein, "der diese Käfighaltung der Theorie verhindern wollte", gegen einen Parteipolitiker, der den Marxismus zur Ideologie gemacht habe, die dann die Basis für Lenins Marxismus und für die Legitimation der "gescheiterten Gesellschaftsordnung" geliefert habe.[3] Sicherlich ist die Feststellung von den beiden Kirchenvätern nicht ganz falsch, stritten hier auch zwei Ideologen miteinander. Zugleich aber war Bernstein wirklich daran gelegen, den Wissenschaftscharakter des Marxismus gegen Kautsky und Marx selbst zu verteidigen. Das wurde von ihm 1899 in seiner Schrift "Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" offen ausgesprochen und zwar am Beispiel des berühmten Abschnitts "Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation" im 24. Kapitel des 1. Bandes des Kapital (MEW Bd. 23, S. 789).[4] Hier, wie im ganzen Werk gebe es einen "Dualismus, der darin besteht, dass das Werk wissenschaftliche Untersuchung sein und doch eine lange vor seiner Konzipierung fertige These beweisen will." Hier sei noch ein Element des Utopismus aus dem Kommunistischen Manifest zu verzeichnen. Marx war "doch schließlich Gefangener einer Doktrin", eines dialektischen Schemas.[5] Er selbst wende sich dagegen, "dass man die Wissenschaft als solche, anders denn als außerhalb der Partei stehende Sache behandle" (ebd. 206). Der Sozialdemokratie tue ein Kant not, "der einmal mit der überkommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend ins Gericht geht, der aufzeigt, wo ihr scheinbarer Materialismus die höchste und darum an leichtesten irreführende Ideologie ist" (ebd. 219). Bernstein erfuhr heftigste Ablehnung bereits auf dem Stuttgarter Parteitag im Oktober 1898, und dann noch stärker auf dem Parteitag in Hannover 1899, wo seine Anhänger nur 21 Stimmen erhielten. Allerdings wurde die praktische Politik mehr und mehr vom Geiste Bernsteins bestimmt. Ging es hier noch um Konflikte innerhalb der Partei, so wurden nach dem Ersten Weltkrieg und der Entstehung der kommunistischen Bewegung Angriffe auf den Marxismus von außen mit erheblich größerer Wucht geführt. Werner Sombart fasste 1919 die "vernichtende Kritik" des Marxismus im letzten Menschenalter zusammen. Er bezog sich auf die Lehre von der Diktatur des Proletariats, die Theorie über die Konzentration des Kapitals, die Sozialisierungstheorie, die Akkumulations-, die Verelendungs- und die Zusammenbruchstheorie.[6] Nichts davon fand mehr Gnade vor seinen Augen. Er leitete daraus den Schluss ab: "Marx hat in wesentlichen Punkten geirrt. Nun war der gläubige Marxist in ähnlicher Lage, wie der gläubige Christ, als diesem die Naturwissenschaften das Fundament einrissen, auf dem die Bibel aufgebaut ist." Er lernte jetzt einsehen, "dass aller Glaube, der Gottesglaube wie der politische, seine Rechtfertigung nicht in irgendeiner wissenschaftlichen Wahrheit suchen dürfe." Entscheidend sei die Leidenschaft, der Wille zur Tat (ebd. 98f.). Es gehe jetzt darum, die "Kompetenzüberschreitungen der Wissenschaft aufzudecken" und vor allem "die religiöse Überzeugung aus den Klauen der Wissenschaft zu retten" (ebd. 100). Das "Bestreben, den Sozialismus aus den Umschlingungen des Marxismus zu befreien, fand nun aber eine kräftige Unterstützung in den Kreisen der Praktiker", was allerdings wieder auf Kosten des Ideals und des Pathos gehe (ebd. 101-103). Offenbar war für Sombart der Marxismus sowohl wissenschaftlich wie ideell am Ende. Bei den Bolschewisten wird nun allerdings kräftiger "Idealismus" festgestellt. "Seine Verbreiter sind Gläubige im Geiste: ihnen liegt nicht so sehr am Herzen, was ihre Lehre wirkt, als dass sie rein sei", schreibt er über "Staat und Revolution" von Lenin. "Wie alle Sektenstifter glauben denn auch die Bolschewiki im alleinigen Besitz der wahren Heilslehre zu sein" (ebd. 144). Das Kommunistische Manifest sei "das Evangelium der jetzigen Revolution bis auf den heutigen Tag". Sie könnten sich ebenso wie ihre erbitterten Gegner auf Marx berufen, aber eben auf den revolutionären Marx. Ihre Lehre sei mit einem Wort die "wesentlich negative Einstellung zur Welt", zur übersinnlichen wie zur wirklichen. Sie seien Gegner des Staates wie des Kapitals. Der Bolschewik sei "der Antimensch" (ebd. 145-147). Die Bolschewiki liebten nur "die Idee der Zerstörung" (ebd. 149). Sie seien "Glaubensstreiter ohne einen Glauben" (ebd. 150). Nach dieser Vernichtung folgt dann aber nach dem Lesen neuester Erklärungen von 1918 die Darstellung eines Reformgebäudes (ebd. 185). In dieser Schilderung des Schreckgespensts Bolschewismus fanden sich schon alle Elemente, die dann im deutschen Faschismus mit Hilfe der Goebbels’schen Propagandamaschine zur gewalttätigen Staatsdoktrin wurden. In dem Buch Adolf Hitlers "Mein Kampf" von 1925 und 1927 war sie für alle, die lesen wollten, verkündet worden: "Die jüdische Lehre des Marxismus lehnt das aristokratische Prinzip der Natur ab und setzt an Stelle des ewigen Vorrechts der Kraft und Stärke die Masse der Zahl und ihr totes Gesicht ... Sie würde als Grundlage des Universums zum Ende jeder gedanklich für Menschen faßlichen Ordnung führen."[7] Der Kampf gegen den Marxismus könne nicht allein mit Gewalt geführt werden. "Jede Weltanschauung, mag sie mehr religiöser oder politischer Art sein – manchmal ist hier die Grenze nur schwer festzustellen –, kämpft weniger für die negative Vernichtung der gegnerischen Ideenwelt als vielmehr für die positive Durchsetzung der eigenen ... Der Kampf gegen eine geistige Macht mit Mitteln der Gewalt ist aber so lange nur Verteidigung, als das Schwert nicht selbst als Träger, Verkünder und Verbreiter einer neuen geistigen Lehre auftritt ... Nur im Ringen zweier Weltanschauungen miteinander vermag die Waffe der brutalen Gewalt, beharrlich und rücksichtslos eingesetzt, die Entscheidung für die von ihr unterstützte Seite herbeizuführen" (ebd. 188f.). 1914 wäre es notwendig gewesen, "die gesamten militärischen Machtmittel ein(zu)setzen zur Ausrottung dieser Pestilenz" (ebd. 186). Was für die Innenpolitik gelte, müsse erst recht für die Außenpolitik gelten. "Der Kampf gegen die jüdische Weltbolschewisierung erfordert eine klare Einstellung zu Sowjet-Rußland. Man kann nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben" (ebd. 752). Mit dem Bolschewismus seien die Juden an die Spitze Rußlands getreten. "Das Ende der Judenherrschaft in Russland wird auch das Ende Rußlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung der Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird" (ebd. 743). Von Wissenschaft war hier überhaupt nicht die Rede. Der einen Heilslehre sollte national wie international eine andere, stärkere, mit Terror und Krieg entgegengestellt werden. Der Zusammenbruch dieser "Heilslehre" erfolgte fast schlagartig mit der vernichtenden Niederlage. Alexander und Margarete Mitscherlich analysierten: Die Enttäuschung am Führer mobilisiert die Gefühle gegen ihn, "die Enttäuschung darüber, dass seine Allmacht unbeständig war." Wird der Führer, so schreiben sie weiter, "durch die Wirklichkeit widerlegt, verliert er im weltpolitischen Spiel der Kräfte, dann geht nicht nur er unter, sondern mit ihm die Inkarnation des Ich-Ideals der von ihm fanatisierten Massen."[8] Ein "Religionsstifter", der verspricht, über das Wasser wandeln zu können, darf eben nicht untergehen. Durch diese schnelle Totalabsage an Hitler und seine Ideologie entfiel nicht nur die Abrechnung mit den Kräften, die ihn an die Macht gebracht hatten, es entfiel auch die Einsicht in den Zusammenhang dieses "ideologischen Gebräus" mit der herrschenden Ideologie der Weimarer Republik und des Kaiserreiches. Die Mitscherlichs stellten dann (1967!) resigniert fest, dass es einer großen Zahl, wenn nicht der Mehrheit der Bewohner der Bundesrepublik nicht gelungen sei, "sich in unserer demokratischen Gesellschaft mit mehr als ihrem Wirtschaftssystem zu identifizieren."[9] Diese Großideologie konnte das System, dem sie diente, den Verlust des Krieges, den sie vorbereitet und gerechtfertigt hatte, nicht überdauern. Wesentliche ihrer Bestandteile jedoch, die die deutsche Geschichte lange schon gezeichnet hatten, waren bestehen geblieben, allen voran der Antikommunismus. So wenig die NS-Ideologie aus dem Nichts entstanden ist, so wenig hat sie auch ein Nichts hinterlassen. Der Antibolschewismus blieb – in neuen Formen – erhalten. Es sei beachtenswert, schrieben die Mitscherlichs, "dass in der lange währenden Anlehnung der Bundesrepublik an die Vereinigten Staaten deren Hauptgegner und Hauptfeind auch der unsrige blieb" (ebd. 71). Eine Hauptrolle spielten dabei ehemalige Kommunisten. So veröffentlichte Arthur Koestler 1944 in den USA einen Artikel "Anatomie eines Mythos". Die Linke habe die Rolle des Glaubens, des Mythischen vernachlässigt, dann aber sei der Glaube im Faschismus und im Sowjetmythos zurückgekehrt, wobei es ihm vor allem um den Sowjetmythos in der europäischen Linken gehe.[10] Im heroischen Zeitalter hätten Sowjetmythos und Wirklichkeit einigermaßen übereingestimmt (ebd. 139). Die messianische Prophezeiung habe sich erfüllt (ebd. 140). Wie frühere Symbole, "das Goldene Zeitalter, das gelobte Land und das Himmelreich", bot jetzt Russland "wunderbare Entschädigung für ein Leben der Entbehrung und die Sinnlosigkeit des Todes ... Das Gebot, Rußland zu verteidigen, löste sich von der Wirklichkeit ab und wurde zur geistigen Wehr eines Glaubens gegen die von außen kommende Intervention des Zweifels. Der Fortschritt hatte seine verlorene Religion wiedergefunden: Sowjet-Rußland wurde das neue 'Opium für das Volk'." "Die Interessen des Weltproletariats wurden den Interessen der Sowjetunion untergeordnet ... Das Mutterland des Proletariats war die Festung, die erhalten werden mußte, selbst um den Preis der Opferung der Menschen außerhalb der Festung" (ebd. 141f.). Die kommunistischen Parteien gerieten in die Rolle "unfreiwilliger Hebammen des Faschismus". Warum aber haben die Millionen im Westen das alles – ständige Kursänderungen und Parteireinigungen – geschluckt, fragt Koestler. Seine Antwort lautet, "weil der wirkliche Gläubige (sei es der Christ, sei es der Sowjet-Mythos-Anhänger) in der Regel glücklicher und ausgeglichener ist als der Atheist oder Trotzkist", und eben deshalb unbewusste Abwehrmechanismen gegen die Wahrheit entwickle (ebd. 143), wobei die Sympathisierenden über beweglichere Mechanismen verfügten. Es bestehe aber auch die Gefahr, dass Idealisten zu Verrätern würden (ebd. 146). Offenbar gebe es, wie Koestler einleitend schrieb, ein tiefes menschliches Bedürfnis nach der Verbindung mit dem Absoluten, dem "ozeanischen Gefühl", wie Sigmund Freud es genannt hat (ebd. 17).[11] 1950 erschien, herausgegeben von Richard H. Crossman, zuerst auf Englisch, 1952 auf Deutsch, ein Buch mit Erinnerungen dreier "Aktivisten" Arthur Koestler, Ignazio Silone und Richard Wright und der "gläubigen Jünger" André Gide, Louis Fischer und Stephen Spender, unter dem programmatischen Titel: "Ein Gott, der keiner war". Dieses Buch hatte als Ganzes die Funktion, Ex-Kommunisten als die besten Zeugen der Anklage anzubieten.[12] Koestler schildert seine Entwicklung zum Revolutionär, das Zerbrechen der Partei 1933, eine Reise in die Sowjetunion, die Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg und seinen Parteiaustritt. Im Dezember 1931, im Alter von 26 Jahren, hatte er sich der KPD angeschlossen, beeindruckt vom Zusammenbruch des häuslichen Mittelstandidylls und dem Elend der Millionen Arbeitslosen. Er arbeitete für die Partei, lernte bürokratische Funktionäre kennen, die Partei bereitete die Illegalität vor, ohne den Ernst der Lage wirklich zu erkennen. Er selbst schreibt dann, diese Entwicklung abschließend: "Gewöhnlich versieht die Erinnerung die Vergangenheit mit einer romantischen Aureole. Hat man aber einem Glauben abgeschworen ... so verhält es sich gerade umgekehrt ... Ich habe auf diesen Seiten versucht, die Stimmung wieder einzufangen, in der ich diese Ereignisse erlebt habe, und ich bin mir bewußt, daß dies mißlungen ist. Scham, Zorn und Ironie mengen sich in die Darstellung ein; die Begeisterung von damals erscheint als klägliche Verwirrung; die innere Gewißheit jener Tage als die Phantasie eines Rauschgiftsüchtigen ... Wir alle, die wir uns von der großen Illusion unserer Zeit einfangen ließen ... verfallen entweder dem entgegengesetzten Extrem oder sind zu einem lebenslänglichen Katzenjammer verurteilt."[13] In Sowjetrußland sah er die asiatische Rückständigkeit, sah die Opfer des Hungers, "das alles aber war leicht zu schlucken, für den, der sich im Zustand der Gnade des absoluten Glaubens befand" (ebd. 56-58). Nach der Rückkehr aus Spanien (vier Monate war er in Franco-Spanien eingekerkert), weigerte er sich, die POUM (linksradikale Partei mit trotzkistischen Tendenzen) für verräterisch zu erklären (ebd. 65). Im Frühjahr 1938 verkündete er öffentlich als Kriegserklärung an die Kommunisten: "Es gibt keine Unfehlbarkeit einer Person, einer Bewegung, oder einer Partei" und "Eine schädliche Wahrheit ist besser als eine nützliche Lüge" (ebd. 69). Als 1939 zu Ehren Ribbentrops die Hakenkreuzfahne in Moskau gehisst wurde, war für ihn endgültig Schluss (ebd. 70). Der Bericht des Schriftstellers Ignazio Silone ist anderer Art. Für ihn genügt es nicht, aufrichtig zu sein, es gehe auch darum, die Integrität zu wahren (ebd. 77). Er wuchs in den Gebirgsgegenden Süditaliens auf, deren soziale Verhältnisse "von Rohheit, Hass und Betrug strotzten" (ebd. 78). Die Begegnung mit der Arbeiterbewegung war für ihn die Entdeckung eines neuen Erdteils. "Der Eintritt in die Partei der proletarischen Revolution" kam für ihn "einer Bekehrung, einer grenzenlosen Hingabe gleich". Es hieß, "mit den eigenen Verwandten zu brechen, es hieß keine Stellung zu finden" und die eigene innere Welt zu erschüttern (ebd. 93). Die Begeisterung der Jugend in Russland war echt, wurde aber durch die ausbleibende Demokratisierung untergraben. Auf einer Vorbereitungsberatung der Komintern 1927 sollte eine Erklärung gegen eine Broschüre Trotzkis angenommen werden, die keiner kannte. Silone weigerte sich. Togliatti, der ebenfalls teilgenommen hatte, erklärte ihm, dass dieser zweifellos unangenehme Zustand der Komintern hingenommen werden müsse. Silone trat aus der KP aus, schloss sich aber keiner der Sekten an. "Mein Glaube an den Sozialismus aber ... ist in mir lebendiger denn je." Er ist "wieder das, was er war, als ich mich zum erstenmal gegen die alte Ordnung auflehnte ... das Bedürfnis nach wirklicher Brüderlichkeit." "Mit gemeinsamen Theorien kann man vielleicht eine Schule gründen, nicht aber ... eine Kultur, eine Zivilisation, eine neue Form menschlichen Zusammenlebens" (S. 107-109). 1966 analysierte Arnold Künzli psychografisch einen Zusammenhang von jüdischem Selbsthass und Karl Marxens Vision von der Mission des Proletariats, von der Marx allerdings nie gesprochen hat.[14] Er vermutet, dass die in "'Zur Judenfrage' erreichte Klimax seines jüdischen Selbsthasses ... zu einer so radikalen Verdrängung seines Judentums und damit zu einer derartigen Radikalisierung seiner Entfremdung geführt" habe, "dass er psychisch in die Situation eines Ertrinkenden geriet". Das aber habe zur Folge gehabt, dass in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie "das verdrängte Judentum in Marx erst recht mächtig wurde". "Das Volk Israel .... feierte im Proletariat, ihm unbewußt, seine Auferstehung ... Die Übereinstimmung der Marxschen Vision von der heilsgeschichtlichen Mission des Proletariats mit der biblischen Prophetie von der heilsgeschichtlichen Mission des Volkes Israel ist so vollkommen ... dass der Text von Marx – ersetzt man Proletariat durch 'Israel', Klasse durch 'Volk' und umgekehrt – oft geradezu der Bibel entnommen zu sein scheint" (ebd. 636). Dieser Glaube aber, so seine Schlussfolgerung, "ist heute als ein Mythos erwiesen" (ebd. 817). 1983 konstatierte er in einem Sammelband "Marx heute"[15] einen Widerspruch von Orthodoxie und Ketzertum auch im Sozialismus (ebd. 75). Richard Löwenthal sprach von der Marx’schen Diesseitsreligion, der Heilserwartung des weltlichen Propheten Marx, die heute im Schwinden sei (ebd. 115, 131f.). In einer Anhörung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages am 12.2.1993 zum Thema "Marxismus-Leninismus und die soziale Umgestaltung der SBZ-DDR" erhielt Konrad Löw zum Unterthema "War der SED-Staat marxistisch?" Gelegenheit, an den aggressiven Antimarxismus anzuknüpfen, jetzt allerdings gestützt auf die Totalitarismus-Doktrin. Marx habe an eine "heilsgeschichtliche Notwendigkeit einer weltweiten kommunistischen Ordnung" geglaubt. Löw erklärte: "Alle wesentlichen Merkmale des Totalitarismus werden von seinem Postulat einer Diktatur des Proletariats erfüllt." Er bezog sich dabei unter anderem auf sein Referat zum Thema "Marx und der Terrorismus – War die Begünstigung der terroristischen Roten Armee Fraktion durch die DDR ideologisch zu begründen?"[16] Im Schwarzbuch des Kommunismus wird 1997 als weitere Steigerung vom Marxismus-Leninismus als verbrechenserzeugender, kriminogener Ideologie gesprochen.[17] Für das Feuilleton sei aus vielen Äußerungen ähnlicher Art Hans-Dieter Schütt zitiert: "Mag der Marxismus eine Religion der Übersichtlichkeit gewesen sein, die aus bestehender Welt erlöste, indem sie Geschichte in eine fadenschnurige, klar einsehbare, gesetzmäßig erfüllbare Aufwärtsentwicklung umträumte –, so darf jetzt, in Zeiten neuerlicher strahlender Sieger, alles Unübersichtliche, Unbegreifliche, Dunkle als Ausdruck von Widerstand und Abkehr begriffen werden ... Da sei es logisch, dass sich zum Beispiel Theater wieder darauf besinnen, jenseits politischer Erlösungsfantasien just den Gedanken der Transzendenz aufzuwerfen ... Theater und Religion, das ist kein Ausweichen vor der Not der Zeit." Gunnar Decker schrieb wenig später: "Heilsgeschichte setzt sich bis Hegel und Marx fort, säkularisiert Gottesreicherwartung. Geschichte folgt einem Plan und hat ein Ziel ... Wer aus dem Osten kam, der hatte gelernt, die Rituale der Macht unauffällig zu unterlaufen, dem war klar, dass all die Menschheitsbeglückungsreden reine Lüge waren." Weiter heißt es dann: "Es wächst unausrottbar das Unkraut im Garten der Verwissenschaftlichung", und abschließend: "Es gibt keine Haltegriffe mehr in der geistigen Welt, seit diese 1789 in Bewegung geraten ist."[18] Soweit die Beispiele für den Vorwurf der Quasireligion. Die Kritik der Wissenschaftsgläubigkeit kann mit Dostojewski beginnen, der in seinem letzten 1880 abgeschlossenen Roman "Die Brüder Karamasoff" einen der Brüder, Aljoscha Fjodorowitsch, zitiert: Er wäre, "wenn er sich überzeugt hätte, dass es Unsterblichkeit und Gott nicht gibt, sofort zu den Atheisten und Sozialisten übergegangen, denn der Sozialismus ist nicht nur eine Arbeiterfrage ... sondern hauptsächlich eine atheistische Frage, die Frage der gegenwärtigen Inkarnation des babylonischen Turmes, der ausdrücklich ohne Gott gebaut wird, nicht zur Erreichung des Himmels von der Erde aus, sondern zur Niederführung des Himmels auf die Erde."[19] Ein anderer Bruder, Iwan Fjodorwitsch, erklärt: "Ein Naturgesetz: 'Der Mensch muß die Menschheit lieben' – existiere überhaupt nicht, und wenn es bis jetzt auf der Erde trotzdem Liebe gäbe, geschähe dieses nicht nach einem Naturgesetz, sondern einzig darum, weil die Menschen noch an ihre Unsterblichkeit glaubten." Wenn man also "im Menschen den Glauben an seine Unsterblichkeit vernichtete, in ihm nicht nur die Liebe, sondern überhaupt jede lebendige Kraft zur Fortsetzung des irdischen Lebens" versiegte, es würde alles "erlaubt sein, sogar die Menschenfresserei." Der Egoismus, sogar bis zum Verbrechen, würde "dem Menschen nicht nur erlaubt sein, sondern für ihn als unvermeidlicher, vernünftigster und womöglich edelster Ausweg in seiner Lage" anzuerkennen sein. "Es gibt keine Tugend, wenn es keine Unsterblichkeit gibt" (ebd. 113f.). Der Staretz Sossima als Vertreter russischer Gläubigkeit verkündet: Die Menschen wollen sich "der Wissenschaft nachfolgend, einzig mit Hilfe ihrer Vernunft gerecht einrichten, aber bereits ohne Christus, und schon verkünden sie, es gäbe kein Verbrechen, es gäbe auch keine Sünde. Und von ihrem Standpunkt aus haben sie ja auch recht: denn wenn es für dich keinen Gott gibt, was ist dann überhaupt noch Verbrechen? In Europa erhebt sich das Volk schon mit Gewalt gegen die Reichen" (ebd. 515f.). 1909 rezensierte Max Adler, der österreich-ungarische marxistische Sozialdemokrat das Buch Karl Kautskys von 1896 (zweite Auflage 1909) über den Ursprung des Christentums. Ich werde darauf im 3. Kapitel näher eingehen. Kautsky habe die materialistische Geschichtsauffassung in glänzender Weise angewandt. Er habe "in das innere Getriebe des geschichtlichen Lebens Einblick" gewährt. Er enthülle uns "zunächst die glanzvolle, sieghafte und machtstrotzende Römerwelt als eine Welt des Verfalles". Kautsky habe nachgewiesen, dass die antike Wirtschaftsordnung "trotz ihres scheinbaren äußeren Fortschritts zum Sklavengroßbetrieb und zu einer hochentwickelten Geldwirtschaft doch ein technischer und ökonomischer Rückschritt war hinter die Stufe der kleinbürgerlichen Landwirtschaft, die sie verdrängte". Daraus ergab sich die Wirkung einer Auffassung, die sich auf eine göttliche Hilfe richtete, "wo alle irdische zu versagen schien".[20] Kautsky habe auch den damaligen revolutionären Charakter des Judentums, seines nationalen Messianismus aufgedeckt (ebd. 429f.). Was aber fehle, sei die Darstellung der Kraft und Leidenschaft des religiösen Bewusstseins, eines religiösen Fortschritts und die Rolle konkreter Personen, wie etwa des Paulus. Der eigentliche Mangel liege darin, dass in seiner materialistischen philosophischen Grundanschauung der Religion "eine eigene Bewußtseinsrealität, eine der ursprünglichen Funktionsweise des psychischen Lebens" abgesprochen werde, sie lediglich "falsches Bewußtsein, eine mehr oder minder bewußte Täuschung, bestenfalls eine Illusionierung darstellt", womit die Aufdeckung einer neuen Stufe "des Gedankens- und Gefühlslebens" in Gestalt einer religiösen Bewegung verkannt werde (ebd. 431f.). Hermann Cohen, Paul Natorp, Rudolf Stammler und andere setzten sich vor dem ersten Weltkrieg für eine ethische, auf Kant gestützte Begründung des Sozialismus ein.[21] Walter Benjamin, der 1940 auf der Flucht vor den Faschisten an der französisch-spanischen Grenze Selbstmord beging, schrieb kurz vor seinem Tode: "Der Konformismus, der von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen ist, haftet nicht nur an ihrer politischen Taktik, sondern auch an ihren ökonomischen Vorstellungen ... Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte." Der vulgär-marxistische Begriff von Arbeit "will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahr haben."[22] "Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert." Dagegen war in der SPD "von Schmidt und Stadler bis zu Natorp und Vorländer ... die klassenlose Gesellschaft ... als unendliche Aufgabe definiert." "In Wirklichkeit gibt es nicht einen Augenblick, der seine revolutionäre Chance nicht mit sich führte ... als Chance einer ganz neuen Lösung im Angesicht einer ganz neuen Aufgabe." "Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge (der Weltgeschichte U.-J.H.) reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse" (ebd. 167f.). "Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht" (ebd. 160). Koestler kritisierte 1944 die rein vernunftgemäße Haltung der Linken. Auf einem "kommunistischen" Schriftstellerkongress habe André Malraux zur schönen neuen Welt gefragt: "Und was ist zu dem Mann zu sagen, der von einem Straßenbahnwagen überfahren wird?" Wir seien alle "von dem Glauben an ein persönliches Fortleben abgeschnitten worden." "Der Mensch der Gotik hatte eine Antwort auf diese Frage. Das scheinbar Zufällige war Teil eines höheren Planes. Das Schicksal war nicht blind." "Aber die einzige Antwort, die Malraux nach einem peinlichen Schweigen bekam, war: 'In einem vollkommenen sozialistischen Transportsystem wird es keine Unfälle geben'."[23] Leszek Kolakowski wandte sich 1957 gegen den Versuch, "die Pflicht aus der Notwendigkeit abzuleiten und die Kriterien der moralischen Beurteilung aus der vermeintlichen Kenntnis der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit zu gewinnen." Sarkastisch erklärte er: "Wenn die Zoologen zu der Einsicht gelangen, dass die Ära des Menschen auf der Erde zu Ende geht und dass die Ära der Ameisen anbricht, hat der Geschichtsphilosoph nichts anderes zu tun, als allen zu empfehlen, sich freiwillig auf den Ameisenhaufen zu setzen, um dort ihr Gerippe zu lassen; das wird sicher von Vorteil für den Fortschritt sein, wenn man einmal festgestellt hat, dass der Fortschritt das Gesetz der Geschichte ist."[24] Aus der Gegenwart sei eine Stellungnahme von Jan Rehmann in dem von Wolfgang Fritz Haug herausgegebenen Wörterbuch des Marxismus hinzugefügt. Marx und Engels hätten den Glauben als religiösen Glauben im Gegensatz zu Denken und Theorie behandelt. Auch das in der DDR herausgegebene Philosophische Wörterbuch führe unter Glauben nur den religiösen Glauben an, als das "durch religiöse Anschauung normierte Denken und Handeln".[25] Aber wo immer es zur umwälzenden Mobilisierung des Glaubens komme, "handelt es sich um Konstellationen, in denen der Glaube gegen die herrschenden Religionsformen angerufen wird."[26] Marx und Engels hätten sich insgesamt vom deutschen Kulturprotestantismus "einen religiös besetzten Glaubens-Begriff vorgeben lassen, den sie im Zuge der Religionskritik verabschieden ... Es fehlt die Frage nach den überlebensnotwendigen Glaubens-Fähigkeiten der reziproken Zuverlässigkeit, denen die Religion eine spezifische Form verleiht." Die Religionskritik werde "weitgehend im Namen der Wissenschaft geübt und (es) wird darauf verzichtet, das religiös Geformte aus dieser Form herauszulösen" (ebd. 799). Mit der Charakterisierung des Marxismus-Leninismus als wissenschaftlicher Weltanschauung[27] war das Problem nur scheinbar gelöst. Ich habe hier eine Anzahl Belege für die am Marxismus seit über einem Jahrhundert und oft ins Grundsätzliche reichende Kritik angeführt, für den Vorwurf des Quasi-Religiösen einerseits, des Szientismus andererseits. In den Belegen ist in meinen Augen Richtiges und Falsches zu konstatieren. Eine Widerlegung oder Bestätigung konnte nicht in diesem Kapitel erfolgen. Hier ging es nur darum, die historische Dauerhaftigkeit der Kritik an einigen Beispielen zu zeigen und damit die Notwendigkeit ernster Auseinandersetzung deutlich zu machen. Diese Auseinandersetzung selbst ist der Gegenstand des ganzen Buches. Aus alledem ergab sich für mich die Aufgabe, sowohl eine Geschichte der Religion als auch eine Geschichte des Marxismus zu skizzieren, um dann auf dieser Grundlage abschließend meine, natürlich auch sehr vorläufigen Überlegungen zum Stellenwert des Glaubens im Marxismus zu entwickeln. Was die Geschichte des Marxismus betrifft, so konnte ich in erheblichem Umfang auf eigene Arbeiten zurückgreifen. Das Gebiet der Religion war dagegen für mich Neuland. Hier musste ich mich stark auf Übersichtsdarstellungen anderer, vor allem von Hans Küng, stützen und konnte nur vereinzelt, besonders zu Luther und im Kapitel 5, in größerem Umfang auf Quellen zurückgreifen.

[1] Uwe-Jens Heuer, Marxismus und Politik, Hamburg 2004.
[2] T. Schelz-Brandenburg (Hrsg.), Eduard Bernsteins Briefwechsel mit Karl Kautsky (1895-1905), Frankfurt a.M./New York 2003. Vgl. dazu U.-J. Heuer, Revisionismusstreit, in: junge Welt, Ostern 2004.
[3] T. Schelz-Brandenburg, Eduard Bernstein und Karl Kautsky. Entstehung und Wandlung des sozialdemokratischen Parteimarxismus im Spiegel ihrer Korrespondenz 1897 bis 1932, Köln/Weimar/Wien 1992, S. 397f.
[4] K. Marx/F. Engels, Werke Bd. 1ff., Berlin 1964ff., hinfort als MEW zitiert.
[5] E. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 2. Auflage 1921, Neuauflage Berlin/Bonn 1984, S. 207-209.
[6] W. Sombart, Sozialismus und Soziale Bewegung, Jena 1919, S. 72-98.
[7] A. Hitler, Mein Kampf, München 1941, Gesamtauflage aller bisherigen Ausgaben 7,6 Millionen, es wird eine späteres Wachstum auf 10 Millionen angenommen.
[8] A. Mitscherlich/M. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, Leipzig 1990, S. 41, 44, 71, 82.
[9] Ebenda, S. 42.
[10] A. Koestler, Der Yogi und der Kommissar, Baden-Baden 1974, S. 134-138.
[11] Vgl. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), Frankfurt a.M./Hamburg 1953, S. 91.
[12] Das ist auch die Quintessenz des Vorworts von N. Podhoretz zur 1987 neu von R.H. Crossman herausgegebenen Auflage des Buches "The God That Failed", deutsch "Ein Gott, der keiner war", Zürich 1950. F. Borkenau charakterisiert in seinem Schlusswort zur deutschen Ausgabe das autobiographische Bekenntnis abtrünniger Kommunisten als unentbehrliches "Element im Kampfe der höheren Zivilisation um ihre Selbstbehauptung gegenüber der orientalischen Despotie" (S. 297). M. Boveri zitiert im Bd. 3 ihrer Untersuchung "Der Verrat im 20. Jahrhundert" das Selbstzeugnis des US-Amerikaners Whittaker Chambers: Der Denunziant "hat dieses besondere Wissen, weil er jene Gesichter, Stimmen, Leben der anderen kennt und einmal in ihrem Vertrauen, in einem gemeinsamen Glauben mit ihnen gelebt ... hat ... Wenn all das nicht wäre, wäre er als Denunziant wertlos. Weil er wertvoll ist, wird er von der Polizei geschützt" (Zwischen den Ideologien: Zentrum Europa, Hamburg 1957, S. 164). Dem Hymnus H.M. Broders und der meisten anderen Autoren des Kursbuches 116 "Verräter" vom Juni 1994 auf den Verrat im Gegensatz zur "Standfestigkeit, die nichts anderes anzeigt als intellektuelle Unbeweglichkeit und faule Selbstgenügsamkeit" (Verrat muss sein, S. 3), hält T. Rothschild entgegen: "Dass es Einsichten sind, die jemanden heute Positionen einnehmen lassen, die er früher bekämpft hat, glaube ich ... nur, wenn es mit einigem Risiko verbunden ist, sie zu verteidigen" (Zungenküsse mit der Macht, Freitag vom 8.7.1994).
[13] Ein Gott, der keiner war, München 1962, S. 51f.
[14] A. Künzli, Karl Marx. Eine Psychographie, Wien/Frankfurt a.M./Zürich 1966.
[15] Marx heute (Hrsg. O.K. Flechtheim), Hamburg 1983.
[16] K. Löw, War der SED-Staat marxistisch?, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Hrsg. Deutscher Bundestag, Baden-Baden/Frankfurt a.M., Bd. III/1, S. 26, S. 31-32.
[17] Das Schwarzbuch des Kommunismus, München/Zürich 1997, S. 821.
[18] H.-D. Schütt, Gott-Los, in: Neues Deutschland vom 11.6.2004; G. Decker, Ohne Traum ist immer nur Wahnsinn, ebenda 11./12.12.2004.
[19] F.M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, München/Zürich 1952, S. 44.
[20] M. Adler, Karl Kautskys "Urchristentum", in: ders., Ausgewählte Schriften (A. Pfabigan und N. Leser Hrsg.), Wien 1981, S. 427f.
[21] W. Eichhorn, Geschichte und Moralgesetz: Der Streit um den "ethischen Sozialismus", Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 243, Jahrgang 1998, H. 4, S. 39.
[22] W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Allegorien kultureller Erfahrung, Leipzig 1984, S. 161f.
[23] A. Koestler, a.a.O., S. 137f.
[24] L. Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative, München 1961, S. 90-92.
[25] Philosophisches Wörterbuch (Hrsg. G. Klaus und M. Buhr), Leipzig 1974, Bd. 2, S. 1052.
[26] Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus (Hrsg. W.F. Haug), Bd. 5, Hamburg 2001, S. 787-792.
[27] Philosophisches Wörterbuch, a.a.O., S. 1287.

Leseprobe 2

Glauben im Marxismus

Der Ausgangspunkt Wissenschaft ist für den Marxismus unverzichtbar. Die marxistische Theorie ist entstanden aus Hoffnungen, Glaubenssätzen, noch unbewiesenen Hypothesen. Ihre Weiterentwicklung, auch die Aufgabe widerlegter Vorstellungen, ist Voraussetzung des weiteren Fortschritts, der Debatte um die Rolle der Religionen, aber auch um den Platz des Glaubens im Marxismus selbst. Dabei bleibt für mich die umstürzende Erkenntnis Kants, der als theoretisches Resümee der Aufklärung Wissenschaft und Religion trennte, die Wissenschaft vom Vorrang des Glaubens befreite, bleibender Bestandteil des Denkens. Es sei ihm unmöglich, "die menschliche Erkenntnis über alle Grenzen möglicher Erfahrung hinaus zu erweitern", was den Beweis Gottes ebenso ausschließe wie den Beweis der Unsterblichkeit der Seele. Was allein bleibe, sei die moralische Gewissheit. In seiner letzten einschlägigen Schrift von 1793 lehnte Kant jeglichen "Religionswahn" ab, das eigentliche Ziel sei ein guter Lebenswandel. Die Tugendlehre, als der eigentliche Zweck, bestehe im Gegensatz zur Gottseligkeitslehre (dem Mittel) darin, "durch sich selbst (selbst ohne den Begriff von Gott)" zur Stärkung der Tugendgesinnung zu kommen (vgl. Kap. 3, S. 107f., 111). Fichte ging 1798 über Kant, dessen Glück seine Obskurität sei, hinaus. Eine Erklärung der Welt "aus Zwecken einer Intelligenz" sei auf dem Gebiet "der reinen Naturwissenschaft ... totaler Unsinn". Das einzig mögliche Glaubensbekenntnis sei "fröhlich und unbefangen vollbringen, was jedesmal die Pflicht gebeut, ohne Zweifeln und Klügeln über die Folgen". "Der Begriff von Gott als einer besondere Substanz" sei unmöglich, "damit die wahre Religion des freudigen Rechttuns sich erhebe", für die er dann Goethes Faust und Schillers Worte des Glaubens zitiert (Kap. 3, S. 113f.). Ich habe mich in Kapitel 5 (S. 194f., 209f.) mit dem alles legitimierenden Gesetzesglauben im orthodoxen Marxismus-Leninismus auseinandergesetzt, den quasi-religiösen Zügen des Glaubens mit Stalin als quaisi-religiösem Propheten, mit dessen Erschütterung durch den XX. Parteitag der KPdSU und schließlich dem Fortbestand unwiderleglicher Glaubenssätze bis zum Schluss. Aber kann die Verwerfung derartiger Dogmen zu der Schlussfolgerung führen, dass es überhaupt keine historischen Gesetze gäbe? Michael Brie hat in seinem Beitrag zur Broschüre "Sozialismus als Tagesaufgabe"[43] sich einer derartigen Schlussfolgerung genähert, zwischen dem politisch-praktischen Ausgangspunkt bei Marx und seinem geschichtsphilosophischen Paradigma unterschieden (Brie S. 28) und grundsätzlich postuliert: "Wenn wir an Marxens emanzipativ-solidarischem Anspruch festhalten wollen, so müssen wir mit dem geschichtsphilosophischen Paradigma des Marxismus brechen." (ebd. 34) Dieser Anspruch sei die Formulierung, dass es darum ginge, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (MEW 1/385). Historisch widerlegt aber sei alles, was als Theorie entwickelt worden sei (ebd. 38f.). Der totale Verzicht auf die theoretischen Ergebnisse marxistischen Denkens unter Berufung auf den Marx’schen moralischen, politisch-sozialen Ausgangspunkt wäre eine tödliche Reduktion. Der emanzipative politisch-soziale Ausgangspunkt von Marx hat seine Wissenschaft hervorgebracht. Erst durch seine (und Engels) ungeheure wissenschaftliche Arbeit wurden die ursprünglichen Thesen (zum Teil) wissenschaftlich überprüfbar und auch in erheblichem Umfang später Bestandteil des allgemeinen wissenschaftlichen Standards. Sein Ausgangspunkt entsprach der Auffassung vieler Demokraten, wird auch heute noch von vielen Christen geteilt. Aber nur in seinem (und Engels) Werk wurde er zur Theorie erhoben. Marxist ist nur derjenige, der diese sich immer weiter entwickelnden Erkenntnisse teilt, sie überprüft, an ihrer Umsetzung mitwirkt. Für die Aufklärer – und auch hieran ist anzuknüpfen – gab es keinen Gegensatz von Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Zweifellos standen bei ihnen die Naturwissenschaften als Vorbild der Exaktheit im Vordergrund, aber stets, wenn von Wissenschaft im allgemeinen die Rede ist, ist auch die Gesellschaft gemeint. Aber man muss noch einen Schritt weiter gehen. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften sind die Gesellschaftswissenschaften, teils ausgesprochen, wie etwa bei den Marxisten, oder unausgesprochen, wertend, parteilich. Wer sich mit einer interessengespaltenen Gesellschaft auseinandersetzt, ist mit ihren antagonistischen oder nichtantagonistischen Konflikten konfrontiert. Dabei gilt natürlich auch hier die Anforderung der Wahrheit der Aussagen.[44] Hans Heinz Holz erklärte in einem Vortrag auf einer Konferenz der Leibniz-Sozietät, dass es im Gegensatz zu Meinungen und Einstellungen, die auf prinzipiell nicht entscheidbaren Glaubensüberzeugungen beruhen, in bezug auf "wahrheitsfähige Aussagen und daraus folgende Verhaltensweisen .... keine Toleranz des Falschen geben (könne), sobald der Wahrheitswert einer Erkenntnis festgestellt ist; in unabgeschlossenen Diskussionsprozessen sind dagegen alle nicht-absurden Auffassungen zu tolerieren."[45] Auch die Leugnung von Konflikten ist Parteinahme. Ein der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft systemkritisch gegenüberstehendes Herangehen muss natürlich auf Widerspruch stoßen, kann aus Sicht der Herrschenden in Wirtschaft und Staat kaum als förderungswürdig erscheinen. Je umfassender das Prinzip des Shareholder-Value sich durchsetzt, je direkter der Einfluss des Kapitals auf die Forschung wird, desto notwendiger wären kritische Gesellschaftswissenschaften und desto mehr werden sie eingeschränkt. Werden die Gesellschaftswissenschaften etwa durch Neurobiologie als Leitwissenschaft verdrängt, fällt die Wertung fort. Der Hirnforscher Wolf Singer, Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts, schrieb in der ZEIT vom 10. Mär 2005 vom freien Willen als illusionärem sozialen Konstrukt und stellte konsequent den strafrechtlichen Begriff der Schuld in Frage. Es gebe im Gehirn keine Entscheidungsinstanz. "Dem entscheidenden Ich fehlt der Sessel, auf dem es sitzt." Wir täten sehr vieles aus Motiven, die uns nicht bewusst werden. "Deshalb erfinden wir nachträglich Motive für etwas, was wir getan haben." Lutz Wingert hielt dieser Position entgegen: "Nach wie vor ist Erziehung ein sprachlicher und sozialer Prozess. Sonst ließe sich Sozialisierung durch Medikamentierung ersetzen", und erklärte grundsätzlich: Die Hirnforscher neigten dazu, "die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnismittel mit unseren Erkenntnisgrenzen schlechthin gleichzusetzen."[46] Schiller hat, wohl im Anschluss an Kant zur Willensfreiheit aphoristisch geantwortet: "Auf theoretischem Feld ist weiter nichts mehr zu finden, Aber der praktische Satz gilt doch: Du kannst, denn du sollst!"[47] Michael Schaefer weist auf die Gefahren dieses Kampfes um Finanzmittel hin. Die kalifornische Stanford-Universität gebe 500 Millionen Dollar für ein Update ihrer Hirnscanner aus. "Und Ergebnisse müssen spätestens in zwei Jahren publiziert sein, so verlangen es die Geldgeber und die Lebensläufe der Wissenschaftler."[48] In Südkorea war der ungeheuerliche Betrug des Stammzellforschers Hwang Woo-Suk mit Versagen der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle, der Unantastbarkeit politisch richtig positionierter Forscher und staatlichem Ehrgeiz im Konkurrenzkampf verknüpft.[49] Die wichtigsten und auch durch die seitherige Entwicklung bestätigten wissenschaftlichen Aussagen von Marx und Engels betreffen einmal den historischen Materialismus, also die Einsicht, "dass die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklung eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen" und zweitens die Aufdeckung des "Bewegungsgesetz[es] der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft"( MEW 19/335f.). Ich habe in meinem Buch "Marxismus und Politik" unter Berufung auf Marx und Engels hier von einem "naturgesetzlichen Gesamtprozess" gesprochen.[50] Die Entwicklung seit 1990 hat alle Überlegungen, der Kapitalismus werde von selbst zusammenbrechen (Kautsky, Luxemburg), widerlegt. Es gibt offenbar keine "natürliche Schranke" des Kapitalismus. Gefährlich war für ihn der gewaltsame Ausbruch des Jahres 1917. 1990/91 ist diese Epoche zu Ende gegangen. Der "naturgesetzliche" Gesamtprozess geht wieder in der ganzen Welt mit voller Kraft voran. Die beiden Gesichter dieses Prozesses, sein Januskopf, bleiben Zivilisation und Barbarei. Immer noch gleicht der menschliche Fortschritt "jenem scheußlichen heidnischen Götzen ..., der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte" (MEW 9/226; vgl. auch zur Opferung der Individuen, ja ganzer Klassen MEW 26.2/111). Ist diese Analyse zutreffend, gibt es kein ökonomisches Hindernis für das perpetuum mobile, so schlägt wiederum die Stunde der Politik. Marx und Engels hatten das Subjekt dieser Politik benannt. Es ist offensichtlich, dass ihre Antworten nicht mehr die Antworten von heute sein können. Aber das widerlegt keineswegs ihre Analyse des kapitalistischen Gesamtprozesses. Auch die Unsicherheit in Bezug auf das Subjekt einer politisch bewirkten Umkehr hebt deren Notwendigkeit nicht auf. Jedenfalls zwei Thesen von Marx und Engels zum Staat scheinen mir durch die Entwicklung des vorigen Jahrhunderts widerlegt (vgl. dazu im einzelnen Heuer, Marxismus und Politik S. 208-221). Bei der ersten These handelt es sich um das rasche Fortwerfen der politischen Hülle, um das baldige Absterben des Staates nach der siegreichen proletarischen Revolution. Die Repression nahm sicherlich im Laufe der Jahre ab, blieb aber bestehen. Der Staat fiel keineswegs von selbst. Er ist nicht minder zählebig als die Gesetze des Marktes. Solange es Knappheit gibt, wird es einen Staat geben müssen. Insofern sollten wir uns für die absehbare Zukunft von dem Ziel einer Gesellschaft ohne Macht und Herrschaft verabschieden. Widerlegt ist zweitens die Annahme von Marx und Engels von der sich ständig verstärkenden Zentralisierung des bürgerlichen Staates und die damit verbundene Auffassung, dass es keine demokratischen Verbesserungen geben könne, die in der kommunistischen Bewegung fortwirkte, aber auch die Vorstellung von Bernstein und Kautsky und der sich auf sie stützenden Sozialdemokraten von der ständigen Entwicklung der Demokratie. Die Entwicklung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie und ihrer Freiheitsrechte im Innern ist eng verknüpft mit kolonialer Unterdrückung nach außen. Die Zustimmung des eigenen Volkes, das ja auch bestimmte Früchte genießt, kann die Unterdrückung anderer Völker nicht rechtfertigen. Jede Opposition gegen den global aktiven Imperialismus, wenn sie ein ganzes Land erfasst, muss sich, wenn sie dauerhaft bleiben soll, auf die Staatsmacht stützen. Gerade deshalb ist der Kampf gegen die "Schurkenstaaten" ein zentraler Bestandteil der imperialistischen Strategie. Wir können heute nicht mehr gewiss sein, dass auf den Kapitalismus der Sozialismus folgen wird. Es ist möglich, aber eben nicht gewiss, dass es wieder einen erneuerten Sozialismus geben wird, auch wenn wir heute nicht wissen, wann und auf welchem Wege das geschieht. Überhaupt lehrt uns die Erfahrung, dass es in vielen Fällen richtiger ist, von Möglichkeiten zu sprechen, von Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten. Herbert Hörz hatte bereits Anfang der 1970er Jahre von einem dialektischen Determinismus in Natur und Gesellschaft gesprochen.[51] Dabei würden dynamische Gesetze, die nur eine Möglichkeit der Verwirklichung vorsehen, den Grenzfall bilden (Hörz S. 118) gegenüber den statistischen Gesetzen, wiederum in Natur und Gesellschaft, bei denen für das Verhalten der Systemelemente eine "gesetzmäßig verbundene Reihe von Möglichkeiten existiert, von denen eine zufällig verwirklicht wird" (ebd. 112). Es könne und müsse auch von mehr, gleich oder weniger wahrscheinlich gesprochen werden (ebd. 116). Die zweifellos wesentlich erweiterte wissenschaftliche Erkenntnis von Natur und Gesellschaft schränkt den Bereich des Glaubens ein. Viele Fragen, die früher von der Religion beantwortet wurden, sind inzwischen Gegenstand der Wissenschaft geworden. Beispielhaft sei auf die ungeheure Wirkung verwiesen, die vom Darwinismus ausgelöst wurde, wenn es auch vor allem in den USA (vgl. oben in diesem Kap., S. 272f.) sehr aktive Gegenströmungen gibt. Auch viele Aussagen zur Gesellschaft, etwa zur Geschichte, auch der Religionsgeschichte, sind inzwischen Feld der Wissenschaft, auch des wissenschaftlichen Streits. Das alles hat aber nicht zum Ende der Religion geführt, die nach wie vor für viele Millionen Menschen Hilfe und Stütze ist. Kann oder muss sogar der Marxismus auch dieses Feld – ganz oder teilweise – bestellen, ohne dem Glauben das Primat der Religion oder einer Quasi-Religion einzuräumen? Das ist die Frage nach der, wie Marx es genannt hat, "positive(n) Aufhebung der Religion" (vgl. Kap. 4, S. 134f.). Es gibt eine lange Ahnenreihe derer, die den Wert des Glaubens betont haben, aber jegliche transzendentale Begründung der Moral ablehnten, also sie innerweltlich ableiteten und meinten, damit keineswegs unmoralischer zu sein als jene, die sich dabei auf Gott beriefen. Diese Ahnenreihe begann schon im Altertum. In diesem Buch habe ich mich zunächst auf die Aufklärer bezogen und dann auf Marx und Engels. Hierher gehören weiter alle jene, die in den Spuren von Marx weiter gingen, aber auch viele, die gleich ihnen, mit ihnen verbündet oder auch mit ihnen kämpfend, ihr Handeln auf innerweltliche Maximen stützten. Von den Aufklärern will ich nur an einige Formulierungen aus dem 3. Kapitel erinnern. Als erster ihrer Vorläufer sei Spinoza genannt. Es habe "zweifellos derjenige im echten Sinne seine Pflicht erfüllt, der jedem in dem Maße hilft, wie es die Gesetze der Gesellschaft, also Eintracht und Ruhe, gestatten". Spinoza gehöre, wie Hermann Klenner schreibt, "zur Tradition all derer, die die Welt ohne jede Transzendenz aus sich selbst also zu erklären und .... zu verändern unternehmen" (vgl. Kap. 3, S. 72f.). In Denis Diderots Bericht über die "Unterhaltung eines Philosophen mit der Marschallin von C" fragt der Philosoph: "Können Sie sich nicht vorstellen, dass man so glücklich geboren ist, eine wirklich große Freude darin zu finden, Gutes zu tun?" Die Religion habe manche kleinen Übel verhindert und manche kleineren Wohltaten erzeugt, aber zugleich furchtbare Verwüstungen erzeugt (Kap. 3, S. 79.). Claude-Adrian Hélvetius analysierte den Einfluss der Religion einerseits und der Gesetze andererseits auf die Tugend der Menschen: "Von allen Vorschriften beeinflussen nur jene die Geister beständig, deren Wahrheit bewiesen ist ... Prinzipien, die geachtet werden, weil sie offenbart sind, sind immer am unsichersten. Da sie täglich vom Priester ausgelegt werden, sind sie ebenso veränderlich wie seine Interessen und stehen fast immer zum allgemeinen Interesse im Widerspruch" (vgl. Kap. 3, S. 90). Holbach schließlich, der entschiedenste unter ihnen, greift die Religion unmittelbar an: Die Religion zeige den Menschen "ihr Glück in den höheren Regionen; durch Blendwerk und phantastische Erzählungen hindert sie den Menschen daran, den bequemeren Weg zu bemerken, den die Natur ihm darbieten würde, wenn er nur statt seine Augen hartnäckig gen Himmel zu richten, auf seine Füße schauen wollte". Aus alledem gehe hervor, "wie wichtig es ist, die Sterblichen von ihren religiösen Vorurteilen zu heilen, die ihrerseits ihre politischen Vorurteile entstehen lassen, diese wiederum verderben ihre Sitten" (vgl. Kap. 3, S. 93f.). Immanuel Kant postulierte den kategorischen Imperativ der praktischen Vernunft: "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest." (vgl. Kap. 3, S. 108). Karl Marx hat nach seiner Forderung auf positive Aufhebung der Religion in offensichtlicher Anknüpfung an Kant, ihn konkretisierend, hinzugefügt, die Kritik der Religion ende mit der Lehre, "dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (vgl. Kap. 4, S. 134f.). Wenn bei Marx von der Idee die Rede ist, "die unsere Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat", wenn wir die gewaltigen Sätze wieder lesen, dass es nicht darum gehe, der Welt zu sagen: "Lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug: Wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein", sondern darum, ihr zu zeigen, "warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will",[52] dann wird beides ganz deutlich, der moralische, politisch-soziale Ausgangspunkt und die Notwendigkeit, Verhältnisse zu analysieren, um sie zu ändern, Kämpfe zu analysieren, um in ihnen Partei zu ergreifen. Erkenntnis und Parteinahme sind für Marx und – so meine ich jedenfalls – für Marxisten notwendig verbunden. In der 11. Feuerbach-These hat das 1845 seinen knappsten Ausdruck gefunden: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern." (MEW 3/7) Ich will die Ahnenreihe der Marxisten fortsetzen, die sich mit dem Problem Marxismus und Glauben herumgeschlagen haben, wie ich sie in diesem Buch angeführt habe. Dabei sind in meinen Augen herausragend Antonio Gramsci und Ernst Bloch und – bereits aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, bisher nicht erwähnt und auch heute noch unser Zeitgenosse – Adam Schaff. Der von Lenin 1909 im innerparteilichen Kampf wegen einer "Form des Übergangs vom Sozialismus zur Religion" scharf angegriffene Lunatscharski hatte 1908 und 1911 für eine Religion plädiert, in welcher "Gott der Mensch selbst ist". Es müsse auch dem Marxismus darum gehen, Altruismus, Liebe, Hoffnung, Freude und insbesondere Ideale zu wecken. Von einem Übergang zum religiösen Glauben konnte also wohl keine Rede sein (vgl. Kap. 5, S. 182). Gramsci stellte eine ganz andere Frage. Ihn bewegte die Rolle der Partei in Vorbereitung der Revolution und was man dabei von der Katholischen Kirche lernen könne und müsse. Er greift die Fragestellung von Marx auf. Wie könnte man "die Religion im Bewusstsein des Menschen aus dem Volke zerstören, ohne sie gleichzeitig zu ersetzen?" Das Grundproblem "jeder Weltauffassung, jeder Philosophie, die zu einer kulturellen Bewegung, einer 'Religion', einem 'Glauben' geworden ist", sei, "die ideologische Einheit in dem gesamten gesellschaftlichen Block zu bewahren, der durch eben diese bestimmte Ideologie zementiert und vereinigt wird". Gramsci schlussfolgert, und damit sind wir wieder bei unserer Grundfrage, "dass in den Massen als solchen die Philosophie nur als Glaube gelebt werden kann". Die einzelne Frau und der einzelne Mann aus dem Volk wisse sich dem intellektuell überlegenen ideologischen Gegner nicht gewachsen. Wie aber behaupten sie sich? "Das wichtigste Element hat unzweifelhaft nichtrationalen Charakter, ist Glaube." Der Glaube woran? "Besonders an die gesellschaftliche Gruppe, der er angehört ... der Mann aus dem Volk denkt, dass sich so viele nicht irren können" (vgl. Kap. 5, S. 203f.). Ganz anders als der leninistische Parteitheoretiker argumentiert zum Thema der von der Religionsphilosophie kommende, in Metaphern schwelgende Philosoph Ernst Bloch. Er postulierte die Kategorie des objektiv Möglichen als Grundlage der Hoffnung. Zum Marxismus gehöre der Kältestrom der Wissenschaft wie der Wärmestrom der Hoffnung und des Glaubens. Ohne die Intention auf die bessere Welt "gäbe es keine Unenttäuschbarkeit, keinen Glauben ans Ziel, keinen austeilbaren Überfluss des Glaubens". Man sterbe "doch nicht für ein bloßes durchorganisiertes Produktionsbudget" (vgl. Kap. 5, S. 208). 1968 veröffentlichte Ernst Bloch, der nach 1961 nicht in die DDR zurückgekehrt war, in der Bundesrepublik sein großes Buch über "Atheismus im Christentum".[53] Es stellt gewissermaßen eine spiegelverkehrte Aufnahme unseres Themas dar. Im Abschnitt "Zum Verhältnis Marxismus und Religion" betont er, der klassenbewusste Arbeiter habe "so viele geistliche Besorger seines Heils bei der Macht stehen [sehen], die ihn ausbeutete und unterdrückte". "Das Opium fürs Volk dampfte immer, schließlich schmeckte der ganze Glaube danach." (Bloch S. 87f.) Für Marx war der Himmelsdunst wieder mit der Täuschungsideologie zu verbinden, "nicht der absichtlichen, subjektiven, was für die älteren Zeiten unhaltbar, wohl aber der objektiven, gesellschaftlich zwangsläufigen", was allerdings die Religion mit der Kirche fast gleichsetze (ebd. 89). "Aufrechte Haltung und Wille zum Wissen, macht den Tenor der großen Religionskritik aus." (ebd. 90) Zugleich ist er bemüht, auch der Mystik Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; vom antiken Denker Plotin, über Johann Meister Eckhart, Joachim di Fiore und schließlich auch die Hussiten und Thomas Müntzer, "in denen ideologisch zwar nicht Klarheit herrschte, aber der mystische Nebel doch nicht eben der Herrenklasse half", was man schwerlich a priori reaktionär nennen könne (ebd. 93). Bei der Bibel sei nicht "Entmythologisierung" gefordert, sondern "Enttheologisierung" (ebd. 111). Die beiden vorletzten Teile des Buches sind überschrieben Aut Caesar aut Christus und Aut Logos aut Kosmos und der letzte, 45. Abschnitt des vorletzten Teils lautet dann: "Keine Parallele, doch folgerichtige Seltsamkeit: das Menschenhafte und der Materialismus brechen beide in 'göttliche Transzendenz' ein, setzen sich statt ihrer." (ebd. 303-354) Die Polemik Lenins gegen Lunatscharski treffe zwar zu Recht diejenigen, die zwischen Kirche und Partei vermitteln wollten. Allerdings läge es ganz anders, wenn "die alten-religös-rebellischen Archetypen" aus den Unterdrückungsmythen herausgeschafft würden. Die Herrenkirche habe schließlich "die Ketzer ebenso gern, wenn nicht lieber verbrannt als die Atheisten ... denn die Ketzer als Kritiker vor allem vom Urchristentum, folglich vom inneren schlechten Gewissen und ehemals guten Baugrund der Kirche her waren ihr zentral gefährlicher" (ebd. 314). Der neue Baum dürfe nicht auf dem Boden der Trivialität stehen, was auch die Entwicklung zum Nihilismus bedeuten könne, "wie er so gefährlich von einem Atheismus ohne Implikationen" vor allem ohne den Hoffnungs-Fundus sich verbreitet (ebd. 316). Es geht ihm also um die Aufhebung der Transzendenz, an deren Stelle das ständige Überschreiten (transzendere) des Gegenwärtigen trete. "Das Messianische ist das rote Geheimnis jeder revolutionär, jeder in Fülle sich haltenden Aufklärung." Der Himmel allerdings müsse leer sein. Bloch fasste zusammen: "Atheismus mit konkreter Utopie ist im gleichen gründlichen Akt die Vernichtung der Religion wie die häretische Hoffnung der Religion, auf menschliche Füße gestellt." (ebd. 317) Es bleibt der aufrechte Gang, das, "was stoisch das uns in uns selbst Aufrechterhaltende, das Vermögen zum Unabhängigen genannt wurde", das Standhafte als "Impavidum ferient ruinae".[54] "Noch nicht todüberwindend, aber vor keinem Fehlschlag, Beilschlag, Schicksalsschlag kapitulierend" (ebd. 331). Er schließt dann damit, dass "der Blick nach vornhin den nach Oben abgelöst" hat (ebd. 346). Damit sei die Allianz von Revolution und Christentum wie in den Bauernkriegen im Experiment Zukunft möglich, getreu der Losung Florian Geyers "nulla crux, nulla corona" (ebd. 353f.). Hans Heinz Holz hat in einer Einleitung zu Schriften von Ernst Bloch55 Größe und Gefahren dieser Hoffnungsphilosophie deutlich gemacht: "Wie etwas, was noch nicht ist, ontisch genau genommen also nicht ist, im Seienden bereits anwesend sein kann, ist eine große Frage" (Holz S. 17). Das Transzendieren wird vom Himmel auf die Erde verlegt. Aus der notwendigen Anforderung an die Phantasie ergibt sich, dass "Bloch seine Sache immer wieder an den Werken der Kunst, an den Inhalten des Mythos exemplifiziert", mit Allegorien und Gleichnissen operiert (ebd. 19, 24). So verschieden die Argumentation dieser Denker zum Glauben im Marxismus auch ist, sie alle lehnen einen transzendentalen, also unwiderleglichen Glauben als Dogma ab, postuliert von der Orthodoxie als verbindliche Überzeugung von der Richtigkeit bestimmter, vom Staat sanktionierter Lehrsätze der Kirche, wie Küng über die Ostkirche schreibt. Im Westen seinerseits war, wie Küng feststellt, "die Trinitiätslehre ... zu einer intellektuell höchst anspruchsvollen Begriffskunst, einer Art höheren 'Trinitäts-Mathematik' geworden, der selbst Theologen und Prediger weithin mit Desinteresse begegnen, die man aber dem vernünftigen Menschen noch immer einfach als 'mysterium stricte dictum' hinstelle, das er mit einem 'sacrificium intellectus' ('Hinopfern des Verstandes') einfach zu akzeptieren habe", was mit dem Weg zur Staatskirche verbunden war (Kap. 2, S. 30f.). Für den Atheisten ist das alles Menschenwerk, für Küng jedenfalls vieles. Dennoch hält er am Offenbarungscharakter aller drei Religionen fest. Sie sind ohne Transzendenz, also außerweltliche Herkunft von Gott nicht denkbar. Religiöser Glaube ist Gewissheit einer offenbarten Wahrheit, unerschütterliches und zu lebendes Vertrauen auf Gott mit Vernunft und Herz. Daraus ergibt sich notwendig eine Überordnung der geoffenbarten Wahrheit gegenüber der menschlichen Vernunft. Besonders scharf wurde das formuliert in der dem karthagischen, 225 verstorbenen Tertullian, immerhin ein Denker von juristischem Rang, zugeschriebenen Sentenz: "credo, quia absurdum" (vgl. Kap. 2, S. 67). Pascal rief in seinen "Gedanken", 1670, lange nach seinem Tod, veröffentlicht, aus: Hochmütiger, "welches Paradoxon du für dich selbst bist. Demütige dich, ohnmächtige Vernunft!" Die Existenz des Menschengeschlechts zwischen Unschuld und Verderbtheit sei ohne Beistand des Glaubens nicht begreiflich. Es sei "nicht zu bezweifeln, dass es nichts gibt, was unserer Vernunft stärker widerstrebt, als wenn man sagt, dass die Sünde des ersten Menschen jene schuldig gemacht habe, die unfähig scheinen, daran teilzuhaben, da sie so weit von jener Quelle entfernt sind" (vgl. Kap. 2, S. 54). Später leitete Sören Kierkegaard (1813-1855) aus derartigen Grundaussagen des Christentums die Notwendigkeit für das Individuum ab, "sein Denken aufs Spiel" zu setzen, also die Unvermeidlichkeit des Paradoxen. Das Christentum habe sich "als das Paradox verkündigt und die Innerlichkeit des Glaubens für das gefordert, was den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit – und dem Verstand das Absurde ist" (Kap. 2, S. 67). Die Schwierigkeit, Entscheidungen aus einer offenbarten Religion und gleichzeitig (gleichrangig ?) aus irdischen Interessen abzuleiten, wurde in der Auseinandersetzung um die Haltung der EKD nach 1961 deutlich (Kap. 5, S. 237f.). Diese Crux ergibt sich für jedes religiöse Denken, aber auch für das quasireligiöse Denken im Marxismus . Karl Barth unternahm es, wie eingangs dieses Kapitels gezeigt, den Begriff des Dogmas von der Verbindlichkeit zu befreien. Der marxistische Glauben – ich wähle in diesem Zusammenhang hinsichtlich des Marxismus das Wort Glauben und nicht das Wort Glaube, weil er nicht die Kompaktheit des Dogmas der Religionen hat und nicht unabhängig vom Wissen bestehen kann, ihm letztlich untergeordnet ist – also kann und darf nicht dogmatisch-orthodox im Sinne seiner Unwiderleglichkeit, seiner Durchsetzung mit staatlicher Autorität sein, darf sich nicht über die Wissenschaft erheben. Warum aber brauchen ihn dann Marxisten, ist er für sie notwendig? Der grundsätzliche Ausgangspunkt besteht ausgesprochen oder nicht, bei allen Verfechtern eines Glaubens im Marxismus in der Einsicht, dass Kämpfen, Handeln und gar der Einsatz des Lebens nicht auf Grund wissenschaftlicher Einsicht, sondern auf der Grundlage einer inneren Überzeugung, die man auch Glauben nennen kann, erfolgt. Im 1. Kapitel hatte ich den bedeutenden Schriftsteller Ignazio Silone zitiert, der 1927 die Kommunistische Partei Italiens verlassen hatte, weil er den Zustand der Komintern nicht mehr hinzunehmen bereit war. Dennoch erklärte er 1950 rückblickend: "Mein Glaube an den Sozialismus aber ... ist in mir lebendiger denn je." Er ist "wieder das, was er war, als ich mich zum erstenmal gegen die alte Ordnung auflehnte: ... das Bedürfnis nach wirklicher Brüderlichkeit". "Mit gemeinsamen Theorien kann man vielleicht eine Schule gründen, nicht aber ... eine Kultur, eine Zivilisation, eine neue Form menschlichen Zusammenlebens." (vgl. Kap. 1, S. 14.) Max Adler warf Kautsky vor, dass ihm jedes Verständnis für die mit dem Christentum verbundene höhere Stufe des "Gedanken- und Gefühlslebens" der breiten Volksmassen fehle. 1913 stimmte er Otto Bauer in seiner Auseinandersetzung mit Kautsky zu "dass die Erkenntnis von der Notwendigkeit des Sozialismus den einzelnen nicht ebenso notwendig zum Kämpfer für ihn macht, hier müsse noch vielfach die sittliche Billigung dieser Notwendigkeit durch den einzelnen hinzutreten, und dies ist das Werk der ethischen Überzeugung." (vgl. Kap. 4, S. 168-170) Georg Lukács erklärte 1919, dass Ethik sich an den einzelnen wende, an sein Verantwortungsbewusstsein und sein Gewissen und dass die (marxistische) Gesellschaftsphilosophie ihn davon nicht entlasten könne (vgl. Kap. 5, S. 188). Ein weiteres Zeugnis legte der Marxist Wolfgang Abendroth 1982 in einer Festschrift für Martin Niemöller ab:[56] Die Mehrheit der Arbeiter sei nach 1933 politisch neutralisiert worden. "Wir ... lernten dadurch mehr als früher, welchen hohen Wert Charakterfestigkeit und Stetigkeit der Überzeugung hat ... und denen gegenüber die lediglich rational, durch die Vernunft gebotene Analyse zwar nicht ihre Bedeutung verliert, auf die man sich aber nicht, wie wir einst angenommen hatten, allein verlassen kann. Diese Wandlung in der Einschätzung unserer eigenen Arbeit half uns, den Widerstand von Christen gegen die Auflösung ihres Glaubens in der nationalsozialistischen Flut ... anders zu bewerten ... Die Verhaftung und dann der Prozess des Pastors Niemöller (und auch die Standfestigkeit vieler anderer Pfarrer) wurden uns zum Lehrstück dafür, dass Mut und charakterliche Treue nicht unser Privileg waren und dass der christliche Glaube dem Menschen Rückgrat verleihen kann." Der Zusammenhang von Überzeugung und Handeln ist vielfach benannt, er spiegelte sich bei Gramsci in seiner "Philosophie der Praxis" wider. Das Brecht’sche "eingreifende Denken" gehört ebenso hierher. Brecht charakterisiert es so: "Wenn du die Notwendigkeit einer Reihe von Tatsachen feststellst, so vergiss nicht, dass du selbst auch eine dieser Tatsachen bist, und bestimme die Notwendigkeit möglichst genau, sie braucht nämlich, um eine Notwendigkeit zu sein, ganz bestimmtes Handeln."[57] Oder noch entschiedener: "Zustände und Dinge, welche durch Denken nicht zu verändern sind (nicht von uns abhängen), können nicht gedacht werden."[58] Ähnliches meint Peter Weiss, wenn er schreibt, "ohne Wut und Hass auf ganz bestimmte Vorgänge kann man auch schwer an ganz entscheidenden Dingen teilnehmen und sich dafür engagieren. Der Zorn ist ein guter Motor." Durch das gute Gewissen im Geiste der Versöhnung werde dagegen nur die Entpolitisierung erreicht.[59] Politisch-ethisches Handeln gehört, wie Wolfgang Fritz Haug eine überlieferte Diskussion von Bert Brecht und Günther Anders zusammenfasst, zum menschlichen Sein. Ethik erscheint als elementare Dimension von Politik, die Entscheidungen können aber nach Ansicht beider nicht aus allgemeinsten Sätzen, von einer höheren Instanz abgeleitet werden.[60] Den Zusammenhang von emanzipatorischem Ziel und theoretischer Arbeit hat Ernest Mandel sehr überzeugend dargestellt: "Die Stärke des wissenschaftlichen Sozialismus liegt ohne Zweifel in der Tatsache, dass er ein emanzipatorisches Ziel – die Befreiung des Proletariats, der Arbeit und der gesamten Menschheit von allen menschenunwürdigen Bedingungen – als aus einer wirklichen Gesellschafts- und Geschichtsbewegung entspringend setzt", dass wirkliche Wissenschaft ständig bemüht sein müsse, "eine durch innere Kohärenz gekennzeichnete Erklärung relevanter Daten in ihrer Gesamtheit, u.a. durch das Aufdecken ihrer inneren Gesetzmäßigkeit, ihrer Entwicklungsgesetze, zu liefern". Der Marxismus vereinige deshalb als einziger Emanzipationsprojekt und Gesellschaftswissenschaft.[61] Einen ganz anderen Zugang zu unserer Problematik eröffnet ein Vortrag, den Volker Caysa 2001 auf einer Konferenz dreier Rosa-Luxemburg-Stiftungen in Leipzig hielt. Er sprach über "Rosa Luxemburg als Lebenskünstlerin". Dabei verstand er unter Lebenskunst eine philosophische Lebensform, "die durch die konkrete Identität von Leben und Denken, Existenzform und Denkform gekennzeichnet ist und in der es darum geht, sein Leben selbstbewusst nach einer Idee zu führen und zu gestalten".[62] Ihr philosophisches Hauptwerk sei das von "ihr geführte exemplarische Leben, das glücklicherweise von ihr selbst in ihren 'Briefen' dokumentiert und reflektiert wurde". Mit seiner Annahme werde ein Defizit des Marxismus aufgehoben (Caysa S. 12). Mensch sein heiße, zitiert er einen Brief Rosa Luxemburgs vom Dezember 1916 aus dem Gefängnis an Mathilde Wurm, "fest und klar und heiter sein, ja heiter trotz alledem und alledem ... sein ganzes Leben auf des Schicksals großer Waage freudig hinwerfen, wenn’s sein muss, sich zugleich aber an jedem hellen Tag und jeder schönen Wolke freuen." (ebd. 17) Das Wissen um die großen Gesetze der Geschichte gab ihr – wenn auch nicht immer – die notwendige Gelassenheit. Luise Kautskys Kopf sei offenbar voller Sorgen "um die schief gehende Weltgeschichte", schrieb sie der Freundin am 26. Januar 1917. "Ich kann mich grämen, wenn mir die Mili krank wird oder wenn Dir etwas fehlt. Aber wenn die gesamte Welt aus den Fugen geht, dann such ich nur zu begreifen, was und weshalb es passiert ist, und hab’ ich meine Pflicht getan, dann bin ich weiter ruhig und guter Dinge." (ebd. 28) Das schließt die Bereitschaft ein, ins Gefängnis zu gehen und auch in den Tod. Caysa zieht die Schlussfolgerung, "dass die historische Kraft des Marxismus ... immer darin [bestand], dass Menschen ihr Leben einsetzten, damit diese Lehre wahr wird. – Weil sie sie für ihr Handeln als verbindlich betrachteten, hatte die Marxsche Lehre Macht; Wahrheit und Wirklichkeit." (ebd. 31f.) Joachim Forsche hat in einer Enzyklopädie 1990 den rationalen vom irrationalen (religiösen) Glauben abgegrenzt. Der rationale Glaube sei "gegründet auf die eigene produktive Vernunft, auf eigene Einsicht im Sinne eigener Erfahrung und Werterkenntnis, auf eigenes Erleben, auf die Aktivität des Gefühls, letztlich auf selbstbestimmte Praxis". Der Glaube als Grund- oder Seinsvertrauen "ist Voraussetzung für jedes soziale Engagement – auch für die sozialistische Parteilichkeit".[63] Jan Rehmann wandte sich in dem von Wolfgang Fritz Haug herausgegeben Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus gegen die religiöse Besetzung des Glaubens.[64] Ihr seien auch Marx und Engels nicht entgangen. "Die Identifizierung von Religion und Glauben hat dazu beigetragen, dass der Marxismus des 20. Jahrhunderts über eine reduktionistische Religionskritik kaum hinausgekommen ist." (Rehmann S. 787f.) Marx und Engels ließen sich insgesamt "einen religiös besetzten Glaubensbegriff vorgeben, den sie im Zuge der Religionskritik verabschieden ... Es fehlt die Frage nach den überlebensnotwendigen Glaubens-Fähigkeiten der reziproken Zuverlässigkeit, denen die Religion eine spezifische Form verleiht". Die Religionskritik wird "weitgehend im Namen der Wissenschaft geübt und wird darauf verzichtet, das religiös Geformte aus dieser Form herauszulösen". Gramsci interessiere sich dagegen für die kohäsiven und mobilisierenden Dimensionen des Glaubens. Allerdings zeichne sich "in der Umleitung des 'Mythos' auf die Partei ... die Tendenz zu einer Überpolitisierung des Glaubens an" (ebd. 799f.). "Der Versuch, den Glauben unmittelbar an eine Parteipolitik anzuschließen, droht seine widerständigen Potenzen zu zerstören." (ebd. 802) Der Glauben reiche von einem "basic trust" (Erik H. Erikson) bis zum Glauben allein (Luther). Rehmann fasst zusammen: "Marxistische und befreiungstheologische Ansätze werden Glauben von den Praxisformen her verstehen, die seinen 'Sitz im Leben' ausmachen, und darauf orientieren, die in ihm enthaltenen Widerstandspotenziale und Kompetenzen der Selbstvergesellschaftung zu stärken. Auf die im Glauben ausgedrückten Fähigkeiten der Verlässlichkeit und Lebensbejahung ist jedes Projekt gesellschaftlicher Emanzipation angewiesen." (ebd. 806f.) In ähnlicher Weise haben sich zu dieser Frage auch Nichtmarxisten geäußert. Karl Jaspers verteidigte 1958 in "Der philosophische Glaube" notwendiges Philosophieren nicht mehr als Magd der Wissenschaften, aber auch nicht zurückkehrend zur Magdstellung gegenüber der Theologie.[65] Glauben sei unterschieden vom Wissen. "Giordano Bruno glaubte und Galilei wusste." Von beiden wurde Widerruf verlangt, den nur Bruno verweigerte. Was sei die Ursache für dieses unterschiedliche Verhalten, fragt Jaspers. Der Unterschied sei: "Wahrheit, die durch Widerruf leidet, und Wahrheit, deren Widerruf sie nicht antastet ... Wahrheit, aus der ich lebe, ist nur dadurch, dass ich mit ihr identisch werde; sie ist ... in ihrer objektiven Aussagbarkeit nicht allgemeingültig, aber sie ist unbedingt. Wahrheit, deren Richtigkeit ich beweisen kann, besteht ohne mich selber ... Es wäre ungemäß, für eine Richtigkeit, die beweisbar ist, sterben zu wollen." Dabei ist das Verhältnis von Wissen und Glauben keineswegs das Verhältnis von rational und irrational, wodurch ein "kommunikationsloses Hin- und Herreden von Meinungen" entstehe. Der philosophische Glaube, der Glaube des denkenden Menschen, hat jederzeit das Merkmal, "dass er nur im Bunde mit dem Wissen ist" (Jaspers S. 12f.). Er "wird nicht Dogma. ... Er bleibt das Wagnis radikaler Offenheit." (ebd. 16f.) Für Erich Fromm, Philosoph und Psychoanalytiker, steht in seiner Schrift "Haben oder Sein" das Haben für die Übel einer durch den Charakter des Privateigentums bestimmten Zivilisation, Sein für Unabhängigkeit, Freiheit und kritische Vernunft, für den produktiven Einsatz menschlicher Fähigkeiten. Der Mensch als Spezies sei in dem Augenblick aufgetreten, als zwei Tendenzen zusammentrafen, "die ständig abnehmende Determinierung des Verhaltens durch Instinkte" und das "Wachstum des Gehirns, speziell des Neokortex ... der dreimal so groß ist wie der unserer Primaten-Vorfahren".[66] Deshalb benötige diese Spezies "einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe, um überleben zu können". Es gebe keine Kultur ohne einen solche Orientierungsrahmen und ohne "ein Objekt totaler Hingabe, einen Brennpunkt für all unser Streben und zugleich eine Grundlage für unsere tatsächlichen – nicht nur die proklamierten – Werte". Religion sei damit "jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet", wobei von den Hochreligionen die religiöse Orientierung weitgehend pervertiert worden sei (ebd. 130-134). Die Veränderung der gesellschaftlichen Psyche im Sinne des "Seins" ist für Fromm ein notwendiger Bestandteil der Überwindung der gegenwärtigen Gesellschaft, in der das Privateigentum, wie Marx schreibe, "uns so dumm und einseitig gemacht [habe], dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben ... An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten." (MEW Bd. 40, Ergänzungsband 1. Teil, S. 540, zit. ebd. 150) Berührungspunkte gibt es auch mit Überlegungen von Martin Walser, wenn er Vokabular und Meinungen der Erfahrung gegenüberstellt. Die gebildeten Deutschen hätten im 19. und 20. Jahrhundert die Erbschaft, die Goethe, Schiller und Hölderlin gestiftet haben, verschlampt. "Erfahrung ist immer die eigene Erfahrung. Erfahrung ist immer meine Erfahrung. Vokabulare sind dazu da, dass man am Diskurs auch mit wenig Erfahrung teilnehmen kann." Am peinlichsten seien ihm immer noch seine Anleihen beim marxistischen Vokabular, als er die im Schwang befindlichen Formeln zur Verbesserung der Welt benützte. Karl Marx selbst räumt er allerdings Erfahrung ein. Er hätte aus Erfahrungen "geschrieben in einer Sprache, die es mit dem Geschriebensein nicht bewenden lassen konnte. Die Erfahrung, aus denen diese Sprache sich nährte, waren zu dringlich, zu krass. Diese Sprache drängte auf Praxis." Marxens Sprache sei "vehement durch Erfahrung und durch das durchaus religiöse Bedürfnis, dass diese Sprache Praxis verlange: Nachfolge." Dann aber setzte sich "das Vokabular durch, das Kirchentaugliche, das Zentralkomiteehafte. Das Monotheistische eben."[67] Kant hat Glauben und Wissen deutlich unterschieden, und ich bin ihm dabei gefolgt. Das bedeutet aber keineswegs, dass Glauben und Wissen im Marxismus unverbunden nebeneinander bestehen. Der Glauben hat dort seinen Platz, wo es kein sicheres Wissen gibt, gar nicht oder noch nicht. Er füllt gewissermaßen eine Lücke, die in vielen Fällen erst das Handeln ermöglicht. Den engen Zusammenhang beider, ihre wechselseitige Abhängigkeit hat Romain Rolland in einer von Gramsci für die sozialistische Anschauung vom revolutionären Prozess zitierten Losung zusammengefasst: "Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens."[68] Der Glauben bezieht sich immer auf ein Objekt, ergänzt das Wissen. So ist der Glauben an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer anderen Gesellschaftsordnung gebunden an unsere Kenntnisse von der heutigen Gesellschaftsordnung, aber auch an die Ursachen, die zur welthistorischen Niederlage des Sozialismus geführt haben. Gleiches gilt für die Forderung nach Gerechtigkeit. Hermann Klenner hielt abstrakten Forderungen entgegen, zuallererst sei es notwendig, "die Ursachen der reichhaltigen Erscheinungsformen von Unfreiheit und Ungleichheit zu erkennen, wozu auch gehört, das Verschleierungsvokabular real existierender Unterdrückungsvorgänge zu denunzieren, an denen es den Unterdrückern noch nie gemangelt hat ... Von Interessen und nicht von Werten" müsse die Rede sein, denn diese sind eben deren geistiger Reflex. Wenn vom Ziel der Gerechtigkeit geschrieben wird, und vom Kampf um Gerechtigkeit, "dann bleibt daran zu erinnern, dass 'Gerechtigkeit' in den Programmen aller Parteien auftaucht ... Ungerecht sind immer nur die anderen ... Für je allgemein akzeptabler 'Gerechtigkeit' gehalten wird, desto größer ist die Gefahr, dass sie dem Unrecht nur als Draperie dient."[69] Eine zentrale Frage ist die nach dem historischen Optimismus. In einer Debatte in den Weißenseer Blättern hat der Kommunist Manfred Sohn den Mitarbeiter der Zeitung UZ Manfred Idler zitiert, der ihm mit einem großartigen Satz wie ein Lichtstrahl alles klar gemacht habe, den Satz nämlich: "Der historische Optimismus ist ja sowieso das Glaubenselement im Marxismus-Leninismus", wobei er hinzufügte, dass es sich nicht um einen tagespolitischen Optimismus handele. "Er hat keine Jahre, keine Jahrzehnte, sondern Generationen und Jahrhunderte als kleinste Maßeinheit". Der Theologe Hanfried Müller sieht hier eine Analogie zum christlichen Glauben und zitiert Dietrich Bonhoeffer: "Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignieren, eine Kraft, den Kopf hoch zu halten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt." Von Glaubenselement allerdings wolle er wegen der Nähe zum "Prinzip Hoffnung" Ernst Blochs nicht sprechen.[70] Die Frage nach dem historischen Optimismus umfasst auch die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit der Veränderung der menschlichen Psyche, metaphorisch gesprochen eines neuen Menschen. Erich Fromm hatte das, wir lasen es gerade, nachdrücklich bejaht. Günter Gaus hat in vielen seiner stets sehr ernsthaften und von tiefer Menschlichkeit zeugenden Gespräche "Zur Person" an seine Gesprächspartner immer wieder die Frage gestellt, ob der schwache Mensch ein Recht zur Anpassung habe, und, damit eng verbunden, ob es eine solche Veränderung geben könne, oder ob der alte Adam, die alte Eva immer wieder zum Vorschein kämen. Gaus sprach sich für die Schonung des schwachen Menschen aus, wusste allerdings, wie er auch bekannte, nicht, warum er sich über das Scheitern der Idee vom "Neuen Menschen" freuen sollte. Ich weiß aus dem, was ich heute lese und erfahre, dass viele Menschen in Ostdeutschland im Ergebnis von Jahrzehnten DDR und 16 nachfolgenden Jahren BRD andere Haltungen haben als viele Westdeutsche. Der alte Adam ist nicht unabänderlich, heute allerdings beginnt immer mehr der Mensch des Habens das Feld total zu beherrschen, auch er ein Kind der Verhältnisse, der materiellen, wie der ideellen. Ich denke, im ersten Teil dieses Kapitels gezeigt zu haben, dass Aufklärer und Marxisten sich mit Recht gegen den Vorwurf wehren, dass ohne religiöse Moral "alles erlaubt ist", dass die religiösen Menschen die besseren Menschen sind (ich erinnere den Leser an die entsprechenden Beschuldigungen von Landesbischof Otto Dibelius, von 1949 bis 1961 zugleich Vorsitzender der EKD, vgl. Kap. 5, S. 225f.). Aber, und das ist die letzte Frage im Disput, bleiben nicht doch schwerwiegende Defizite gegenüber der Religion, geraten Fragen wie persönliches Unglück und Tod, die Fragen nach dem Sinn des Lebens und Sterbens, überhaupt das Individuum im Marxismus aus dem Blickfeld? Ich bin eingangs dieses Kapitels auf ein Buch Helmut Gollwitzers von 1962 eingegangen. Er stellte die Frage, wieweit bei der Ablehnung der Religion "Beobachtung von Entartungserscheinungen mitwirkt". "Wo hätte der Schneidergeselle Weitling auf seinen Irrfahrten, wo der Drechslergeselle Bebel im damaligen Deutschland ein Pfarrhaus finden können, in dem ihm nicht Ergebung in sein Schicksal und demütige Anerkennung der gottgesetzten Ordnung als gottgewollte Haltung gepredigt worden wäre?" Das gelte auch für den Kalten Krieg. Deshalb müssten die Kirchen schonungslos mit ihrer eigenen Geschichte ins Gericht gehen. Das eigentliche Feld der Auseinandersetzung ist dann die "innerweltliche Eschatologie" (Lehre von den letzten Dingen) des Marxismus. Eine politische Weltanschauung sei, das ist dann Gollwitzers grundsätzliche Kritik am "Messianismus" des Marxismus, "zu umfassender Sinngebung und damit auch Disziplinierung (theologisch gesprochen: Heiligung) des Lebens nicht fähig". Der Marxismus sei nur zu einer begrenzten Sinngebung in der Lage, er sei eine Form des positiven Stoizismus: "Mehr an Sinn ist uns eben nicht beschieden, aber doch wenigstens so viel!" Den wirklichen Sinn des Lebens könne nur das Evangelium geben. Die innerweltlichen Antworten seien bei allem Bemühen immer unzulänglich, sogar mit der Gefahr des Totalitarismus und des Nihilismus als ehrlicher Konsequenz (S. 259f.). Gollwitzers Kritik am Marxismus war die eines Mitstreiters, der marxistische Positionen in vielen Punkten teilte und um so schärfer die innerweltliche Eschatologie angriff. Er war ein ebenso entschiedener marxistischer Sozialist wie evangelischer Christ im Geiste von Karl Barth. Ganz anders war die Position des 1929 geborenen, also 21 Jahre jüngeren liberalen Philosophen Jürgen Habermas. Er hatte 1973 eine Schrift "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus" vorgelegt, der drei Jahre später eine Sammlung "Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus" folgte. In seiner "Theorie des kommunikativen Handelns"[71] von 1981 wollte er eine Theorie des kommunikativen Handelns "als Alternative für die unhaltbar gewordene Geschichtsphilosophie bieten, der die ältere Kritische Theorie noch verhaftet war" (Habermas, Theorie S. 583). Moderne Wissenschaft und Moral unterlägen, schreibt er zu unserem Thema, "den Idealen einer durch uneingeschränkte Diskussion gesicherten Objektivität und Unparteilichkeit ... Soweit der sakrale Bereich für die Gesellschaft konstitutiv gewesen ist, treten freilich weder Wissenschaft noch Kunst das Erbe der Religion an; allein die zur Diskursethik entfaltete, kommunikativ verflüssigte Moral kann in dieser Hinsicht die Autorität des Heiligen substituieren." (ebd. 140) Mit Wissenschaft, Recht und Profanethiken sowie einer autonomen Kunst hätten sich "ohne Zutun der Philosophie drei Vernunftmomente herauskristallisiert ... Die Wissenschaften stoßen nach und nach die Elemente von Weltbildern ab und leisten Verzicht auf eine Interpretation von Natur und Geschichte im ganzen. Die kognitivistischen Ethiken scheiden die Probleme des guten Lebens aus ... so dass vom Guten nur das Gerechte übrigbleibt ... Diese großartigen Vergeistigungen, die die Signatur der Moderne ausmachen, bedürfen keiner Fundierung und keiner Rechtfertigung im Sinne transzendentaler Begründungen." (ebd. 584) Die Gesellschaft bedarf damit keiner Religion mehr, wohl aber der Profanethiken, also eines (oder mehrerer) Glauben. Am 14. Oktober 2001, in einer gänzlich veränderten Welt und unmittelbar nach der Erschütterung durch die Anschläge von 11. September vollzog Habermas eine Wendung. In seiner Friedenspreisrede des Deutschen Buchhandels "Glauben und Wissen"[72] begann er damit, dass "am 11. September ... die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion auf eine ganz andere Weise explodiert" sei. Verhärtete Orthodoxien gäbe es "im Westen ebenso wie im Nahen und im Ferneren Osten, unter Christen und Juden ebenso wie unter Moslems". Der angestrebte Brückenschlag zur Religion wird im Begriff der postsäkularen Gesellschaft angedeutet. Kant habe ein großes "Beispiel für eine säkularisierende und zugleich rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten gegeben". Wir verfügten noch nicht über einen "angemessenen Begriff für die semantische Differenz zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was zutiefst böse ist". Ein weiteres Defizit sei: "Die verlorene Hoffnung auf Auferstehung hinterlässt eine spürbare Leere." Die postsäkulare Gesellschaft müsse sich der Religion annehmen "aus dem Interesse, im eigenen Haus der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken". Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen "drückt eine Intuition aus, die ... auch dem religiös Unmusikalischen, zu denen ich mich rechne, etwas sagen kann." Im Jahre 2005 veröffentlichte Jürgen Habermas einen Aufsatzband "Zwischen Naturalismus und Religion",[73] in den er unter anderem auch seine Einleitung zu einer Diskussion mit Kardinal Ratzinger am 19.1.2004 aufnahm unter dem Titel "Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?" (Habermas, Religion S. 106-118). Habermas bezog sich noch einmal auf seine Position, dass eine "'konstituierte' (und nicht nur konstitutionell gezähmte) Staatsgewalt ... bis in ihren innersten Kern hinein verrechtlicht" sei. Als Methode "zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität" sei sie von "religiösen und metaphysischen Überlieferungen" unabhängig (ebd. 108f.). Dieses demokratische Band könne allerdings "durch eine entgleisende Modernisierung der Gesellschaft im Ganzen" mürbe gemacht werden. "Angesichts der Konflikte und der schreienden sozialen Ungerechtigkeiten einer in hohem Maße fragmentierten Weltgesellschaft wächst die Enttäuschung mit jedem weiteren Fehlschlag auf dem (nach 1945 zunächst eingeschlagenen Wege) einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts." (ebd. 112) Habermas sieht Gefahren sowohl in "der verzweifelten Hoffnung auf das historische Ereignis einer erlösenden Botschaft oder in Gestalt einer vorandrängenden Solidarität mit den Erniedrigten und Beleidigten, die das messianische Heil beschleunigen will". Hiermit sind offenbar radikale linke Kritiker des Systems gemeint. Sie seien leichte Beute der Theologie, aber immer noch sympathischer als der Nietzscheanismus. Die eigentlichen Verbündeten sind aber offenbar diejenigen Religionsgemeinschaften, "in deren Gemeindeleben ... sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang vermeiden, etwas intakt bleiben [kann], was andernorts verloren gegangen ist" (ebd. 114f.). Schlussfolgernd liegt es "im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speisen. Dieses konservativ gewordene Bewusstsein spiegelt sich in der Rede von der 'postsäkularen Gesellschaft'." (ebd. 116) Vom säkularen Bewusstsein werde die Einübung "in einen selbstreflexiven Umfang mit den Grenzen der Aufklärung erwartet". Für den religiös unmusikalischen Bürger bedeute dies, dass "religiösen Überzeugungen auch aus der Sicht des säkularen Wissens ein epistemischer Status zugestanden wird, der nicht schlechthin irrational ist". Er dürfe, und damit wird wiederum eine Grenze überschritten, "religiösen Weltbildern grundsätzlich [nicht] ein Wahrheitspotential absprechen" (ebd. 118). Der liberale Staat seinerseits dürfe, wie Habermas an anderer Stelle schreibt, "die Gläubigen und Religionsgemeinschaften nicht entmutigen, sich als solche auch politisch zu äußern, weil er nicht wissen kann, ob sich die säkulare Gesellschaft sonst von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneidet" (ebd. 137). In einem weiteren Aufsatz "Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie" sucht Habermas in Kant einen Vorläufer seines Brückenschlags. Kant habe sich "auch gegen den aufgeklärten Defätismus des Unglaubens [gewandt]. Gegen den Skeptizismus möchte er Glaubensinhalte und Verbindlichkeiten der Religion, die sich innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft rechtfertigen lassen, retten. Die Religionskritik verbindet sich mit dem Motiv der rettenden Aneignung." (ebd. 218) Der Begriff des höchsten Gutes lasse sich "erst durch die Gleichsetzung mit dem biblischen Begriff vom 'Reich' Gottes mit eschatologischen Gehalten aufladen" (ebd. 224). Kant sehe gleichzeitig die Religion "als Quelle einer Moral, die den Maßstäben der Vernunft genügt, andererseits als finsteren Hort, der von Obskurantismus und Schwärmereien philosophisch gereinigt werden muss". Aber, so wird Kant gescholten, die Vernunft "kann den Kuchen der Religion nicht gleichzeitig verzehren und behalten wollen". Also behalten wir den Kuchen. Immerhin interessiert Habermas Kant, "wenn wir wissen möchten, was wir ... von der Artikulationskraft der Weltreligionen für den Gebrauch der praktischen Vernunft lernen können" (ebd. 236). Ich halte es demgegenüber für notwendig, die konkrete historische Position von Kant nicht zu ignorieren, weder das Lob Heinrich Heines, noch die Kritik, die er von Lenin erfuhr. Dann wird die Umkehr der Debatte deutlich (vgl. Kap. 3 S. 112, 118f.). Damals kämpfte Kant für seine als atheistisch verfolgte Position, machte Zugeständnisse. Heute erscheinen diese Zugeständnisse als das Eigentliche, weil sie den heutigen Weg Habermas zu flankieren geeignet sind. Gollwitzer hatte die Überlegenheit der Sinnstiftung des Christentums gegenüber derjenigen des Marxismus betont, Habermas sie jedenfalls als Ergänzung willkommen geheißen. Gregor Gysi hat jetzt beide zu meinem Erstaunen noch übertroffen. Er erklärte auf einer Tagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing: "Auch als 'Nichtgläubiger' fürchte ich eine gottlose Gesellschaft." "Da die politische Linke im letzten Jahrhundert mit ihren Gesellschaftsentwürfen gescheitert sei, könnten heute nur die Kirchen verbindliche Moralregeln vermitteln. Die Kirchen nutzten jedoch diese Möglichkeit erstaunlich wenig."[74] Der in meinen Augen wichtigste Beitrag zum Thema Marxismus und Glauben, insbesondere zum Sinn des Lebens und zu Platz und Rolle des Individuums in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde von Adam Schaff geleistet. Adam Schaff, 1913 geboren, stamme aus einer Juristenfamilie und studierte Jura bzw. Politikwissenschaft in Lwów und Paris. 1941 erwarb er den Doktor der Philosophie in Moskau und habilitierte sich dort 1945. Seit 1948 hatte er einen Lehrstuhl in Lódz. 1957 wurde er Direktor des Instituts für Philosophie und Soziologie der Akademie der Wissenschaften, 1955 Mitglied des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. Seit 1972 lebt er in Wien und war Mitglied des Exekutivkomitees des Club of Rome, der er heute noch angehört. 1984 wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Adam Schaff setzte sich 1965 mit Sartre auseinander und charakterisierte die Ehe von Marxismus und Existentialismus als unglücklich, ihre Frucht sei eine Missgeburt, da hier Idealismus und Materialismus vereinigt werden sollen.[75] Es gebe zwei verschiedene Auffassungen zur Philosophie. Die einen behaupteten, "die Philosophie sei die Wissenschaft von den allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten, die die ganze Wirklichkeit regieren, andere dagegen [sähen] in ihr einen spezifischen Zweig von Betrachtungen über das Thema des menschlichen Lebens ... im Sinne des richtigen Verhaltens des menschlichen Individuums gegenüber sich selbst und anderen" (Schaff, Sartre S. 10). Zu ihnen zählte sich offenbar Schaff selbst. In der Diskussion mit Sartre geht er auf das Thema "Sinn des Lebens" ein, also auch des "'Wozu?'; das sich dem von Widerwärtigkeiten und Misserfolgen des Lebens müden Menschen stellt". Es sei schwer, "sich des überwältigenden Gefühls zu erwehren, dass der Tod sinnlos ist". Der Kreislauf der Natur sei da wenig hilfreich. "Vom Gesichtspunkt der gegebenen Person ist der Tod eine absolute Sinnlosigkeit, die alles, was wir tun, zweifelhaft macht." (ebd. 32f.) In einem weit umfassenderen zweiten Teil seines Büchleins stellt er dann eine marxistische Philosophie des Menschen vor. Der Mensch "sei Ausgangspunkt, Endziel und Realisator der Idee des Sozialismus". Eben dies sei sozialistischer Humanismus (ebd. 126). Folgerichtig widmet er einen ganzen Abschnitt der "Freiheit des Einzelmenschen" (ebd. 140-160). Auch hier geht er auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ein, die natürlich nicht nach den Methoden der Naturwissenschaft beantwortet werden könne, aber doch Verallgemeinerung von Tatsachen der Erfahrung erfordere (ebd. 63). Hier werde kein Gelehrter, wohl aber ein Weiser benötigt. "Ist man ein gläubiger Mensch, so ist die Lösung einfach: das Leben hat immer Sinn (das heißt, es lohnt sich unter allen Bedingungen zu leben), weil sogar Leiden, Schmerz und Tod mit dem Plan eines höheren Wesens übereinstimmen." Diese Auffassung sei bequem, werde aber mit dem Verlust der wissenschaftlichen Einstellung bezahlt. Man könne dem Menschen höchstens sagen: "An deiner Stelle würde ich eine solche Wahl treffen." (ebd. 65-67) Auch zum Zweck des Lebens habe der religiös Gläubige dieselbe "bequeme" Antwort. Der sozialistische Humanismus gehe von der Überzeugung aus, "dass man persönliches Glück nur durch das Glück der Gesellschaft erzielen kann, weil nur eine Ausdehnung der Sphäre der Entwicklung der Persönlichkeit und der Möglichkeit der Befriedigung der mannigfaltigen Bestrebungen der Menschen im gesellschaftlichen Maßstab eine bleibende Grundlage für die Erfüllung der persönlichen Bestrebungen schafft", was natürlich Kampf bedeute, Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse erfordere (ebd. 68-71). In einem weiteren, umfangreichen Buch[76] hat Schaff 1965, gestützt auf die ausführliche Wiedergabe der Arbeiten von Marx und Engels, die marxistische Konzeption des Einzelmenschen weiter ausgearbeitet. Der Staat sei eine entfremdete Kraft, die Periode des Personenkults sei die Geschichte einer ungeheuren Entfremdung gewesen (Schaff, Marxismus S. 170f.). Aus der Abschaffung der Institution des Privateigentums folge "nicht automatisch die Abschaffung der Entfremdung ... nicht einmal die der ökonomischen Entfremdung" (ebd. 255). Zum Sinn des Lebens wiederholt er im Wesentlichen die Ausführungen des vorangegangen Büchleins (ebd. 311-324). Er verschärft seine Kritik, wenn er betont, dass das Glücksgefühl notwendig individuell sei, alle Absichten, durch Dekrete festzulegen, wann und unter welchen Bedingungen Menschen glücklich sein sollen, zum Scheitern verurteilt seien, Ursache wirklichen Unglücks sein können (ebd. 234). Er verweist auf das antikommunistische Buch "Wir" (1924) von Jewgeni Iwanowitsch Samjatin, das uns helfen könne, die Gefahren eines Postulats der Verschmelzung des Individuums mit der Gesellschaft besser zu erkennen (ebd. 234f.). Schaffs Buch, das in der DDR nicht veröffentlicht worden war, wurde von dem polnischen Politbüromitglied Zenon Kliszko scharf kritisiert. "Wenn sie nicht mit den Anstrengungen der Partei verbunden sind", erwiesen sich die Anstrengungen der Gesellschaftswissenschaftler als fruchtlos. Die theoretischen Erkenntnisse der Partei seien viel wichtiger als die Erklärungen antikommunistischer "Marxkenner".[77] Im Jahr 2000 veröffentlichte Schaff einen Lebensbericht in Form eines Briefwechsels mit sich selbst.[78] Er bekannte, ein ungläubiger Mensch zu sein, der nicht wisse, ob es einen Gott gebe, also ein Agnostiker, "das heißt, ich behaupte nicht, dass es Gott nicht gibt, sondern nur, dass ich nicht weiß, ob es ihn gibt" (Schaff, Jahrhundert S. 122). Er müsse deshalb sein "Wertsystem und den darauf gestützten moralischen Kodex ... von der menschlichen Welt ableiten und nicht vom Gebot Gottes. Damit ist ein gewisses Unbehagen verbunden, denn eine solche Einstellung zwingt mich zum zusätzlichen Denken ... während der Gläubige mit seinem heteronomen Humanismus ... sich in einer leichteren Lage befindet – es ist einfach Gottes Gebot." Die Religion sei "nicht einfach das 'Opium des Volkes', heute ist sie oft ein Kampfruf im Ringen um den Fortschritt". Was die Kirche betrifft, so stehe "der wahre Glaube ... im umgekehrten Verhältnis zum äußeren Prunk der Liturgie, einer Verpackung für die Geistesarmen" (ebd. 123-125). In Polen speziell spiele die katholische Kirche eine reaktionäre Rolle (ebd. 127). Schaff gab seinem Lebensbericht den Untertitel "Glaubensbekenntnisse eines Marxisten" und formulierte: "Die Neue Linke sollte den ökumenischen Humanismus zum Bestandteil ihrer Ideologie machen, das heißt jenen Humanismus, der Gläubige und Ungläubige durch die Gemeinsamkeit eines gewissen Teils ihrer Wertsysteme verbindet und zwar jenes

Leseprobe 3



Inhalt:

Kapitel 1
Marxismus und Glauben – die Problemstellung (Leseprobe)
Kapitel 2
Der religiöse Glaube
Judentum
Christentum
Reformation
Islam
Kapitel 3
Religionskritik der Aufklärung
Französische Materialisten: Voltaire, Diderot, Alembert, Helvétius, Holbach
Deutscher Idealismus: Kant, Fichte, Hegel
Kapitel 4
Religionskritik von Marx und Engels – ihre Vorgänger und ersten Schüler
Marx/Engels
Karl Kautsky
Max Weber
Kapitel 5
Religionskritik im Sozialismus
Lenin
Sowjetstaat und Kirche
Gramsci – Lukács – Bloch
Staat und Kirche in der DDR
Kapitel 6
Ausblick: Glauben im 21. Jahrhundert
Die Offenbarungsreligionen heute
Judentum
Christentum
Islam
Glauben im Marxismus (Leseprobe)
Personenregister

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