Die Angaben zu Autor*innen, Titel, Umfängen und Erscheinungsterminen sowie die Umschlagabbildungen sind bis zum Erscheinen vorläufig, auch Änderungen der Ladenpreise müssen wir uns vorbehalten. Alle Preise enthalten die gesetzliche MwSt. Hinzu kommen ggf. Versandkosten

Robert Brenner

Boom & Bubble

Die USA in der Weltwirtschaft
Aus dem Amerikanischen von F.O. Wolf

350 Seiten | 2003 | EUR 24.80 | sFr 33.70
ISBN 3-87975-886-7 1

Titel nicht lieferbar!

 

In einem lebendig geschriebenen Buch zeigt Robert Brenner, warum der US-Boom der 90er Jahre eine fragile Erscheinung blieb. Mit geradezu kriminalistischer Präzision klärt er die Ursachen für die aktuelle Stagnation der Weltwirtschaft auf.


Bereits 1997/98 befand sich die Weltwirtschaft am Rande einer Katastrophe. Doch die Party an der Wall Street ging weiter. Unter dem Eindruck des anhaltenden Wachstums der USA wollten Ökonomen von der Überwindung der Konjunkturzyklen wissen. Zwar hat die gegenwärtige Rezession die "new economy" auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, aber ihre Protagonisten nicht schlauer gemacht. Was trieb die Konjunktur an? Was machte ihre Zeitgenossen so euphorisch? Was brachte die Blase zum Platzen? Stagnation und schleichende Deflation wie in Japan, nun auch in den USA und der EU?

Brenner zerlegt den Mythos des allseits bestaunten "Wall Street Modells". Er klärt auf, warum der "lange Abschwung" der Weltwirtschaft seit den 70er Jahren letztlich nicht durchbrochen werden konnte.

Robert Brenner ist Professor für Geschichte und Direktor des Center for Social Theory and Comparative History an der University of California in Los Angeles.

Rezensionen

Pressestimmen und Kommentare

"Brenner behauptet, dass dieser Kampf um Exportmärkte zunehmend ein Nullsummenspiel ist, und er hat recht damit." (Larry Elliott, The Guardian, London) "Hier, zumindest, ... kommt etwas Gutes aus der Linken." (Wall Street Journal, New York) "Brenners eigenständiger Beitrag besteht darin, die spezifische Dynamik und die Folgen von Überproduktion und mangelnder Nachfrage in einem Zeitalter integrierter, globaler Produktionsmärkte herauszuarbeiten. Das Bild, das er zeichnet, ist keines von Unternehmen, die durch wirtschaftliche Integration nicht mehr nationalstaatlich rückgebunden wären, oder von Staaten, deren Macht zunehmend erodiert, wie dies in den meisten aktuellen Abhandlungen über die Globalisierung der Fall ist." (Walden Bello, Weltsozialforum und Focus on the Global South, Bangkok) "In Brenners Analyse waren der Boom und die Spekulationsblase des Wirtschafsaufschwungs der 1990er Jahre lediglich ein Ausflug aus der unterliegenden Krise, ein Triumph der Euphorie, die nur den Zwecken der ihn Bejubelnden diente." (Jack Beatty, Atlantic Monthly,) "Brenner räumt (...) mit einer anderen Legende auf: dass der Börsencrash der Jahre seit 2000 vor allem auf kriminelle Machenschaften zurückzuführen sei. Vielmehr erkennt er in den Bilanzmanipulationen amerikanischer Aktiengesellschaften den verzweifelten Versuch, die verheerenden Betriebsergebnisse zu vertuschen, an denen hätte deutlich gemacht werden können, dass von dem behaupteten Wirtschaftsboom gar nicht die Rede sein konnte." (Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung) Blase zerplatzt
Robert Brenners Analyse der weltwirtschaftlichen Turbulenzen endlich auch auf deutsch. Von Christoph Jünke Es ist schon erfrischend, wenn wir daran erinnert werden, daß der historisch einmalige Triumphzug des neoliberalen Kapitalismus in den 90er Jahren vor allem der Triumphzug einer bestimmten Klasse und ihrer Helfershelfer gewesen ist: "Während im Jahr 1992 die Spitzenmanager von Gesellschaftsunternehmen zwei Prozent aller von US-Unternehmen ausgegebenen Aktien besaßen, gehörten ihnen im Jahr 2002 12 Prozent. Das muß einfach einer der spektakulärsten Enteignungsakte in der gesamten Geschichte des Kapitalismus gewesen sein", so Robert Brenner in seinem soeben endlich auch auf deutsch erschienenen Buch "Boom und Bubble". Der in Deutschland leider noch immer viel zu unbekannte US-amerikanische Historiker und Ökonom, ein überzeugter Marxist und engagierter Linkssozialist, beläßt es jedoch nicht bei diesem so schlichten wie aussagekräftigen Befund. Sein Buch ist harte, aber verständliche politökonomische Schule und untersucht die Entwicklungen der Weltökonomie vor allem der letzten Dekade. Und seine Botschaft ist, daß die Ende der 60er Jahre ausgebrochene weltwirtschaftliche Strukturkrise noch immer nicht gelöst ist. Im Gegenteil stehen wir aktuell vor einer neuen Vertiefung dieser ökonomischen Krise, die tiefer und gefährlicher ist, als die meisten zur Zeit annehmen. Zwar sei es in den USA als der weltwirtschaftlichen Leitnation von der Mitte der 80er zur Mitte der 90er Jahre zu einer deutlichen Erholung der industriellen Profitrate und infolgedessen zu einem langen Boom der US-Wirtschaft gekommen. Doch diese Erholung, so Brenners These, vermochte nicht, die lange Periode des weltwirtschaftlichen Abschwungs strukturell zu beenden und einen neuen internationalen Wachstumspfad einzuschlagen. Sie war zutiefst parasitär, d.h. sie ging mit ihrer Politik einer rapiden Dollar-Abwertung in einer Art Nullsummenspiel zu Lasten fast der gesamten übrigen kapitalistisch entwickelten Welt, vor allem zu Lasten der Hauptkonkurrenten Japan und Deutschland, die nicht mehr konkurrenzfähig waren. Als diese zu Beginn der 90er Jahre in tiefe Krisenprozesse abrutschten, zog die US-Politik die Notbremse und drehte mit ihrer Zinspolitik den Spieß um - vom bis dahin ausgesprochen schwachen zum nun immer höher steigenden Dollar. Damit verhinderte die US-Politik zwar eine nachhaltige ökonomische Depression, unterhöhlte aber gleichzeitig ihre eigene, auf dem billigen Dollar ruhende Stärke. Durch die gezielten politischen Interventionen der US-Notenbank kam es ab Mitte der 90er Jahre zu jenem Abheben der Börsenkurse, das trotz realwirtschaftlicher Stagnation zur Bereitstellung neuer gigantischer Kreditgelder und damit zu einem erneuten Investitionsboom führte. Diese Form des "Kredit"- oder "Börsenkeynesianismus", wie ihn Brenner nennt, verschärfte die ohnehin seit langem bestehenden Überkapazitäten und führte zu einem erneuten rapiden Verfall der industriellen Profitrate. Dass dieser vor allem in der Informationsbranche sich niederschlagende Börsenboom nur eine Seifenblase war, zeigt sich für Brenner im Zusammenbruch der "New Economy". Seitdem drücken nicht nur die anhaltenden Ungleichgewichte und Überproduktionskapazitäten auf die weltwirtschaftliche Situation. Seitdem haben wir es auch mit einem Kollaps der Investitionstätigkeit und einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebten Kollaps der Profitrate zu tun, der noch weit über den Zusammenbruch des Börsenbooms hinaus geht. Ob diese klassische Abwärtsspirale in naher Zukunft aufzuhalten ist, das ist zu einem Gutteil Spekulation. Da der Ausweg der zweiten Hälfte der 90er Jahre, also der ungezügelte Höhenflug der Börsen, nun nicht mehr zur Verfügung steht, deuten alle Zeichen der Zeit auf Sturm. Was dies klassenpolitisch bedeutet, führt uns Brenner vor Augen, wenn er uns u.a. darauf hinweist, daß ausgerechnet in der neuen Leittechnologie, dem Telekommunikationssektor in den USA, 60 Unternehmen im Zeitraum von Ende 2000 bis Mitte 2002 Insolvenz angemeldet haben: "Die Telekommunikationsindustrie entließ mehr als 500.000 Beschäftigte, d.h. 50 Prozent mehr, als sie in ihrer spektakulären Expansionsphase zwischen 1996 und 2000 eingestellt hatte. Nur zum Vergleich: die Automobilindustrie hatte volle zwei Jahrzehnte gebraucht, um 732.000 Arbeitsplätze abzubauen." Robert Brenner ist ein kontroverser Autor. Bereits in den 70er Jahren hat er eine internationale Historikerdebatte über die treibenden Kräfte des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus ausgelöst, die als die "Brenner-Debatte" in die Annalen der Geschichtswissenschaft eingegangen ist und die alte, ebenso legendäre und von Maurice Dobb, Paul Sweezy und anderen geführte "Übergangs-Debatte" auf eine neue Stufe hob. "Boom und Bubble" setzt nun eine zweite umfangreiche "Brenner-Debatte" fort, die Brenner 1998 mit einem 250 Seiten umfassenden Beitrag in der New Left Review ausgelöst hat. Seine dort vorgelegte, empirisch gesättigte und theoretisch versierte Analyse des langen weltwirtschaftlichen Auf- und Abschwungs nach 1945 ist vor allem wegen ihrer eigenwilligen Interpretation der Marxschen Profitraten-Analyse zum Teil heftig angegriffen worden. Zu begrüßen ist deshalb, daß der deutschen Ausgabe ein Nachwort von Frieder Otto Wolf angefügt ist, das diese Debatte mindestens in groben Zügen nachzeichnet und historisch einordnet. Robert Brenner ist einer der weltweit bedeutendsten zeitgenössischen Marxisten. Die Frage der Analyse der weltwirtschaftlichen Turbulenzen ist eine der wichtigsten Fragen, die sich nicht nur den an Emanzipation interessierten Menschen stellt. Die Frage nach den Hintergründen des gegenwärtigen US-amerikanischen Kriegskurses ist schließlich auch die Frage nach den Bewegungsgesetzen der US-amerikanischen Ökonomie und ihrer Rolle in der Weltwirtschaft. Drei gute Gründe, Robert Brenners Arbeit aufmerksam zu studieren. Daß dies nun auch auf deutsch möglich ist, dafür ist dem kleinen VSA-Verlag zu danken. (junge Welt vom 20. März 2003)

Leseprobe 1

Einführung zur deutschsprachigen Ausgabe

Die wirtschaftlichen Entwicklungen seit der Drucklegung dieses Buches im Sommer 2001 haben seine Analyse im Allgemeinen bestätigt. Meine Grundthese war und ist heute noch, dass es kaum empirische Belege dafür gibt, dass es der Weltwirtschaft oder den USA als ihrem Bestandteil gelungen wäre, den langen Abschwung wirklich hinter sich zu lassen, d.h. die lange Periode eines verlangsamten Wachstums, welche 1973 begonnen hat. Daraus folgt, dass es der Volkswirtschaft der USA und ganz allgemein der Weltwirtschaft ausgesprochen schwer gefallen ist und weiterhin schwer fallen wird, einer Rückkehr zu einer wirtschaftlichen Stagnation – oder zu Schlimmerem – zu entgehen. Der Grund, aus dem es dem globalen System nicht leicht fallen wird, wieder zu seiner Dynamik zurückzufinden, ist unmittelbar betrachtet ganz unkompliziert: Er liegt einfach darin, dass – obwohl die US-Volkswirtschaft in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre einen kräftigen Aufschwung erlebte – die Überkapazitäten im weltweiten Sektor des verarbeitenden Gewerbes, welche schon lange direkt oder indirekt dafür verantwortlich waren, dass das Wirtschaftswachstum sich verlangsamte, sich nicht nur weiter verschärft hatten, sondern gewissermaßen noch durch eine Ausbreitung und Vertiefung von Überkapazitäten in weiten Bereichen der gesamten Volkswirtschaft ergänzt wurden – besonders in den Hochtechnologiesektoren. Das Ergebnis davon war ein steiles Fallen der Profitabilität im Sektor der nicht-finanziellen Unternehmen insgesamt in den letzten Jahren des Jahrzehnts, aufgrund dessen die Rendite auf den Kapitalstock (nach jüngst revidierten amtlichen Zahlenangaben) zwischen 1997 und 2000 um phänomenale 20 Prozent zurückging. Weil die zu einer sinkenden Profitabilität führenden Überkapazitäten derartig schwerwiegend geworden waren – und dies bereits, während der Aufschwung erst noch an Schwungkraft zu gewinnen begann – war es so schwer gefallen, die anschließende Rezession zu überwinden und wieder wirtschaftliche Lebenskraft aufzubauen. Die gegenwärtig ablaufende Rezession hat sich allein dadurch von allen anderen der Nachkriegsepoche unterschieden, dass ihre unmittelbare Quellen in dem Platzen einer Spekulationsblase an den Börsen und in dem Wirksamwerden weit verbreiteter Überkapazitäten lagen, welche die Preise nach unten drückten – und nicht etwa in einer Wendung der Zentralbank der USA (Federal Reserve) zu einer Politik der makroökonomischen Einschnürung, durch die etwa eine Überhitzung der Volkswirtschaft und die sich daraus ergebende Inflation hätten gezügelt werden sollen. Eben deswegen hat sie sich als weit schwieriger zu behandeln erwiesen, als allgemein erwartet wurde. Die Mehrzahl der Wirtschaftsanalytiker erkannte nicht, in welchem Maße genau dieselben Mechanismen, durch welche die Börsen in ihrem Aufschwung auch die Volkswirtschaft nach oben getrieben hatten, alsdann die gesamte Volkswirtschaft nach unten drücken würden, sobald die Aktienkurse fielen. Ebenso wenig begriffen sie, wie der Aufbau von Überkapazitäten, der sich während des von den Börsen vorangetriebenen Konjunkturaufschwungs vollzog, die gesamte Volkswirtschaft nach unten drücken musste, wenn das Wachstum einmal endete. Schließlich entging ihnen auch noch der ganz allgemeine Punkt, wie weitgehend die Entfesselung der Märkte, welche während der beiden letzten Jahrzehnte stattgefunden hat, Muster der kapitalistischen Entwicklung wiederhergestellt hat, welche ganz an die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg erinnern. Selbstverständlich besteht die heutzutage alles beherrschende neoliberale Theorie darauf, dass die freien Märkte der US-Volkswirtschaft, speziell ihre unbeschränkten Finanzmärkte – und ganz besonders die Schlüsselrolle der US-Börsen bei der Allokation von Kapital – diese auf einzigartige Weise dazu befähigen, technologische Innovationen durchzuführen und dann wieder rasch wirtschaftlich zu wachsen. In der Tat hat die Börse – gemäß der offiziellen Story vom Aufschwung, wie sie in dem (Anfang 2001 veröffentlichten) "Wirtschaftsbericht des Präsidenten 2001" des amerikanischen Sachverständigenrates und in den von Alan Greenspan gehaltenen Reden bzw. seinen Aussagen vor dem US-Kongress zu finden ist – wie erwartet durch ihr "Vorausahnen" der Profite, welche durch die Technologien der New Economy zu erzielen seien, den Aufschwung geradezu gewaltsam hochgepäppelt, indem sie die Investitionsmittel zu den besten Unternehmen in dem meistversprechenden Sektor gelenkt hatten, d.h. in den Sektor der Technologie, der Medien und der Telekommunikation (TMT). Diese Firmen konnten deshalb so leicht eine beschleunigte Kapitalakkumulation finanzieren, bevor sie überhaupt Profite machten, weil ihre enorm aufgeblähten Aktienkurse angeblich ein hohes Potenzial künftiger Gewinne signalisierten. Sie konnten dies tun, indem sie entweder neue Aktien ausgaben oder Kredite aufnahmen, für die ihre hohe Marktbewertung als Sicherheit diente. Das Ergebnis war ein dynamischer Investitionsboom, der – so ging die Story – ein beschleunigtes Produktivitätswachstum hervorbrachte, welches wiederum zu höheren Profiten führte, und so weiter und so fort. Alan Greenspan bezeichnete dies als einen sich selbst verstärkenden und erhaltenden Kreislauf. In Wirklichkeit hat sich dieser Prozess aber mehr oder weniger in der umgekehrten Richtung vollzogen, als dies die Theoretiker der Börsen und der freien Märkte behauptet haben. Anstatt auf den Flügeln einer Produktivitätsrevolution nach oben zu steigen, sank die Profitabilität vielmehr nach 1997, als das Wirtschaftswachstum auf seinen Höhepunkt zuging. Wobei anfangs der sprunghafte Anstieg des Dollarkurses dieses Sinken bewirkte, vor dem Hintergrund von sich immer weiter verschärfenden Überkapazitäten im weltweiten Sektor des verarbeitenden Gewerbes. Trotz der Abwärtskurve der Profitabilität stiegen die Börsenkurse dennoch in beispielloser Weise weiter, während die Börse systematisch die Investitionen in Aktien in Richtung der Hochtechnologiefirmen fehlorientierte – ohne Rücksicht auf den immer weiter wachsenden Druck, der ihre Renditen nach unten trieb. Die Grundlage für dieses Verhalten der Börsen bestand in einer größeren und langfristigen Lockerung des Zugangs zu Krediten. Diese Lockerung rührte anfangs von demselben Zufluss ausländischen Geldes her, der seit 1995 den Dollarkurs nach oben getrieben hatte. Diese Kreditlockerung hielt aber die gesamte zweite Hälfte des Jahrzehntes hindurch an, weil sich die Fed weigerte, die Zinssätze zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund "leichten Geldes" haben dann die Fondsverwalter, die sich einmütig wie eine Hammelherde die New Economy-Mythologie zu eigen machten, untereinander darum gewetteifert, einander in ihrem Engagement für Technologie, Medien und Telekommunikation zu übertreffen. Das führte im Ergebnis zu einer Spekulationsblase, die in der gesamten Geschichte der USA ohne Parallele war. Eine große Zahl von neuen oder jungen Unternehmen waren jetzt in der Tat dazu in der Lage, sich mit sensationeller Leichtigkeit Geldmittel zu verschaffen, weil sich die Finanziers – in der Überzeugung, "dass die Börse es am besten weiß" – geradezu dabei überschlugen, ihnen Geld zu leihen oder die von ihnen ausgegebenen Aktien zu kaufen. Auf der Grundlage dieser praktisch kostenlosen Finanzierung nutzten diese Unternehmen dann die ebenso im Finanzsektor wie in der Industrie durchgesetzte Deregulierung, um die Hochtechnologielinien geradezu zu überfluten – ohne sich groß darum zu sorgen, woher die Nachfrage für ihre Produkte kommen oder auch wie sie ihre Profite erzielen wollten. Die Investitionen nahmen geradezu sprunghaft zu und das Wirtschaftswachstum legte in dem Maße zu, wie sich das Wachstum der Produktivität und (ganz besonders) das Wachstum des Konsums beschleunigten. Da aber dieser Aufschwung der Investitionen nicht etwa durch die Tatsache wirklich oder realistisch erwartbar steigender Profite ermöglicht wurde, sondern vielmehr dadurch, dass diesen Unternehmen eine praktisch kostenlose Finanzierung zugänglich war – was wiederum das Verdienst der von den Börsen bereit gestellten Fehlinformation war – konnte er nur zu überschüssigen Investitionen führen, welche das Ausmaß der Überkapazitäten noch weiter vergrößerte und das Fallen der Profitrate noch weit über das verarbeitende Gewerbe hinaus ausdehnte.[1] Die eben umrissene Dynamik entfaltete sich voll in den Wirtschaftszweigen, welche als die führenden Sektoren der New Economy der USA galten, d.h. allgemein in der Hochtechnologie und besonders in der Telekommunikation. Die Verabschiedung des Telekommunikationsgesetzes von 1996, das den Telekommunikationsmarkt deregulierte, öffnete den Markt für alle Interessenten und bereitete damit der Spekulationsblase im Telekommunikationssektor den Weg. Eine ganze Phalanx von Unternehmen vollzog eilends ihren Markteintritt. Sie hofften darauf, ihren Gewinn daraus zu ziehen, dass sich – wie sie annahmen – die Nachfrage nach den von ihnen gelieferten Ausrüstungen aufgrund des sich unendlich ausdehnenden Internets ohne Ende immer weiter wachsen würde. Darüber hinaus erwarteten sie – aufgrund ihrer technologischen Überlegenheit, von der sie fest überzeugt waren – auch solchen fest etablierten Behemoths[2] wie der Deutschen Telekom, NTT, AT&T und Verizon Marktanteile abnehmen zu können. Diese Unternehmen warben gezielt um die Zustimmung der von Wachstum und Größe faszinierten Wertpapiermärkte, indem sie durch Fusionen und Übernahmen mit größtmöglicher Geschwindigkeit expandierten, um so ihre Aktienkurse in die Höhe zu treiben und sich dadurch die Geldmittel zu sichern, um sich Vorteile aus Größenordnungseffekten und einem hohen Innovationstempo verschaffen zu können. Das war nur eines der vielen Ponzi-Spiele,[3] die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zum Anheizen des Wirtschaftswachstums beitrugen. Die sich derart herausbildenden Telekommunikationsunternehmen legten dann bald Dutzende von Millionen Kilometern an Glasfaserkabeln kreuz und quer durch die USA und in den Weltmeeren, wofür ihnen auch die unverzichtbare Unterstützung durch die führenden Investmentbanken von Wall Street und durch deren so genannte "Kommunikationsanalysten" zuteil wurde. Die ersteren kümmerten sich darum, die Anleihen dieser Unternehmen zu lancieren und ihre Aktienemissionen zu organisieren. Die letzteren ermutigten sie als Anlageberater zu Fusionen und Übernahmen, welche dann natürlich von den Investitionsbanken arrangiert wurden, für die sie selbst arbeiteten. Gleichzeitig stellten sie in ihrer Rolle als vorgeblich unabhängige "Börsenanalysten" sicher, dass der Kurs dieser Aktien in die Höhe ging, indem sie sie einem leichtgläubigen Publikum marktschreierisch anpriesen – und zwar nicht aufgrund ihrer Profite, sondern aufgrund ihrer wachsenden Größe und schließlich sogar aufgrund der Länge der von ihnen gelegten Telekommunikationskabel. Die dankbaren Unternehmen belohnten dann diese Banken dadurch, dass sie ihnen immer mehr Finanzgeschäfte verschafften. In diesem eben beschriebenen Prozess der Reklame übernahm Salomon Smith Barney, die Investmentbank der Unternehmensgruppe Citigroup, die Rolle der Vorhut, angeführt von ihrem Kommunikationsanalysten, der einen passenden Namen trug: Jack Grubman.[4] Nach der Verabschiedung des Telekommunikationsgesetzes half Salomon dann 81 Telekommunikationsfirmen dabei, durch Aktienerlöse und Kreditaufnahme etwa 190 Milliarden Dollar aufzubringen. Für diese Bemühungen kassierte Salomon Hunderte von Millionen an Abwicklungsgebühren und weitere Dutzend Millionen für die Beratung dieser Firmen bei Fusionen und Übernahmen. Das galt ganz besonders für die Firmen, die an der Spitze der von Salomon gebildeten In-group von aufsteigenden Sternen am Firmament der Telekommunikationsunternehmen standen – namentlich etwa die schon bald zu notorischer Berühmtheit gelangenden Firmen World.Com, Global Crossing und Qwest. Es ist aber zu betonen, dass Salomon und Grubman in diesem edlen Bemühen alles andere als allein standen. Fondsmanager, die sich etwa bewusst nicht an dieser großen Aktion beteiligt hätten, setzten sich dem Risiko aus, kurzfristig allzu geringe Erträge einzuspielen und daher ihren Arbeitsplatz zu verlieren – mit dem Ergebnis, dass institutionelle Investoren schließlich Telekommunikationsaktien aufkauften, als ob es gar keine Zukunft mehr gäbe, und so deren Kurse in eine beispiellose Höhe trieben. Zur gleichen Zeit legten die Geschäftsbanken das schafsmäßige Herdenverhalten an den Tag, für das sie mit vollem Recht bekannt sind. Sie überschütteten die Telekommunikationswirtschaft mit mehr Geldmitteln, als diese noch sinnvoll hätte investieren können, und unterwarfen so deren Investitionen einem Prozess der Zwangsernährung, der mit Sicherheit zu Überkapazitäten führen musste. Hier fand immer wieder der von Keynes analysierte "Schönheitswettbewerb" statt, der die Spekulation immer weiter vorantrieb: Die Finanziers hatten kaum eine andere Wahl, als eben das zu kaufen oder zu verkaufen, von dem sie annahmen, dass alle anderen es binnen kurzer Frist kaufen oder verkaufen würden – denn auf lange Sicht wären sie alle entlassen... Im Frühjahr 2000, also auf dem Höhepunkt des Börsenbooms, hatte die Marktkapitalisierung der Telekommunikationsgesellschaften [der USA, FOW] – d.h. der Kurswert der von ihnen ausgegebenen Aktien – den phantastischen Betrag von 2,7 Billionen Dollar erreicht. Er reichte damit nahe an 15 Prozent des Gesamtwerts aller nicht-finanziellen Unternehmen heran, obwohl die Telekoms nur weniger als 3 Prozent zum BIP des Landes beitrugen. Im Besitz derart außerordentlich großer scheinbarer "Sicherheiten" konnten die Telekommunikationsunternehmen praktisch unbegrenzt Kredite aufnehmen. Zwischen 1996 und 2000 nahmen sie 1,5 Billionen Dollar an Bankkrediten auf und gaben dazu noch Schuldverschreibungen in Höhe von 600 Milliarden Dollar aus. Auf dieser Grundlage konnten sie ihre Investitionen in dieser Periode in realen Größen (d.h. gemessen in Dollars von 1996) mit einer durchschnittlichen Jahresrate von mehr als 15 Prozent im Jahr steigern und die Zahl ihrer Beschäftigten um spektakuläre 331.000 vermehren. Das Problem dabei lag darin, dass genau dies – dank völlig unregulierter Produkt- und Finanzmärkte – einfach alle taten. Im Jahre 2000 bauten nicht weniger als sechs US-Gesellschaften neue landesweite Glasfasernetzwerke auf, die miteinander im Wettbewerb standen. Einige hundert weitere Unternehmen verlegten lokale Netzwerke, und mehrere zusätzliche Unternehmen verlegten Kabelverbindungen in den Weltmeeren. Wenn wir das alles zusammenrechnen, so gehen jetzt fast 63 Millionen Kilometer kreuz und quer um den Erdball, d.h. mehr als genug, um den Globus 1566 mal zu umrunden. Das unvermeidliche Nebenprodukt war ein Überangebot in Gebirgshöhe: eine Nutzungsquote für die Telekommunikationsnetzwerke, die heute bei phänomenal niedrigen 2,5 bis 3 Prozent verharrt, während die Nutzungsquote für Überseekabel auch bloß 13 Prozent beträgt. Es könnte kaum deutlichere Belege dafür geben, dass der Markt – und ganz besonders der Markt für Finanzierungen – es keineswegs "am besten weiß". Die Konsequenz war eine Anhäufung von "versunkenem" Fixkapital, die dann ganz unvermeidlich die Rendite für die vorhersehbare Zukunft nach unten drücken musste, ganz ähnlich wie bei dem von Spekulationsblasen angetriebenen Aufbau der Eisenbahnnetze während des 19. Jahrhunderts. Es wurde so praktisch unmöglich, noch wirklich Profite zu erwirtschaften. Selbst als die Kurse ihrer Wertpapiere noch in den Himmel stiegen und ihre Ankäufe neuer Anlagen, Ausrüstungen und Software immer schneller voranschritten, brachen die Profite der Telekommunikationsgesellschaften bereits zusammen. Nachdem sie im Jahre 1996, dem Jahr der Telekommunikationsderegulierung, den Spitzenwert von 35,2 Milliarden Dollar erreicht hatten, sanken die Profite (nach der Zahlung von Zinsen auf die Unternehmensschulden) im Kommunikationssektor auf 6,1 Milliarden Dollar im Jahre 1999 und bis auf minus 5,5 Milliarden Dollar im Jahre 2000 – und zwar vor allem, weil die Zinszahlungen auf die Schuldenberge dieses Wirtschaftszweiges geradezu explosionsartig stiegen. Ein Börsenkrach und eine Wirtschaftsrezession, wie sie bei den 'Dot.com'-Unternehmen begannen und sich von dort aus auf die Netzbetreiber ausbreiteten – und dann auf die Hersteller von Ausrüstungen für Netzbetreiber, auf die Produzenten von Bauteilen für diese Telekommunikationsausrüstungen – standen damit ganz unübersehbar auf der Tagesordnung. Es sollte dabei aber dennoch nicht übersehen werden, dass der riesige Anstieg der US-Nachfrage, wie er sich aus der Beschleunigung des Wirtschaftswachstums der USA in den letzten Jahren des Jahrzehnts ergab, erst einmal die Weltwirtschaft aus der internationalen Wirtschaftskrise von 1997-1998 gerettet und einen erneuten internationalen Aufschwung in den Jahren 1999 und 2000 in Gang gebracht hat – bevor der Abschwung dann endgültig zugeschlagen hat. Die Auswirkungen des sehr schnellen Wachstums der US-Importe waren in Ostasien am offensichtlichsten – insbesondere in Singapur, Südkorea und Taiwan, wo eine beispiellos hohe Nachfrage nach High-Tech-Bauteilen praktisch einhändig die Wirtschaft dieser "neu industrialisierten Länder" aus einer tiefen Rezession in ein schnelles Wachstum trieb. Das gilt in gewissem Maße auch für Japan. Aber diese Auswirkungen waren auch für Westeuropa unverzichtbar, wo die US-Nachfrage nach Autos, Werkzeugmaschinen und anderen Produkten ein schnelles Come-back der deutschen und der italienischen Volkswirtschaft ermöglicht hat, während der niedrige Euro-Kurs den Zugang der Produzenten aus der Eurozone zu den Märkten von Drittländern erleichterte. Auch Entwicklungsländern wie Brasilien wurde dadurch zumindest eine kurze Verschnaufpause gewährt. Einfach gesagt, wurde im globalen Maßstab das Wirtschaftswachstum von der Spekulationsblase an den US-Börsen vorwärts getrieben. Wie im vorliegenden Buch erläutert, hat der Zusammenbruch der Börsen, wie er im Frühjahr 2000 begann und sich bis heute fortgesetzt hat, einen scharfen Konjunkturabschwung ausgelöst. Dies geschah zunächst einmal, indem er den Vermögenseffekt der steigenden Wertpapierkurse umkehrte und dann, indem er die große Masse an Überkapazitäten erkennbar werden ließ, die das Wirtschaftswachstum der 1990er Jahre hinterlassen hatte. Aufgrund des deutlichen Rückgangs ihrer auf dem Papier stehenden Vermögenswerte stießen Firmen ebenso wie private Haushalte nicht nur bei der Kreditaufnahme auf größere Schwierigkeiten. Es wurde für sie auch weniger attraktiv, Kredite aufzunehmen. Denn sie sahen sich aufgrund wachsender Bedrohungen durch Insolvenz und Arbeitslosigkeit nun dazu veranlasst, sich vorrangig um die Bereinigung ihrer mit Schulden überlasteten Bilanzen zu kümmern. Dafür kürzten sie dann selbstverständlich ihre Aufwendungen für Kapital- oder Konsumgüter. Angesichts eines sinkenden Investitionswachstums ging dann aber tendenziell auch das Wachstum der Produktivität zurück, was weiterhin Druck in Richtung eines Rückganges der Profitabilität auslöste. Nachdem ihr der Auftrieb des Vermögenseffektes der Wertpapierhausse entzogen worden war, wurde die reale Wirtschaft durch den riesigen Überhang an Anlagen, Ausrüstungen und Software nach unten gezogen, der von dem von der Spekulationsblase vorangetriebenen Investitionsboom hervorgebracht worden war. Weil die Telekommunikation während der letzten Jahre dieses Wachstums einen derart großen Anteil an der Zunahme sowohl der Börsenkapitalisierung als auch der Kapitalakkumulation über die gesamte Breite der Volkswirtschaft hatte, waren die Auswirkungen des Zusammenbruchs dieses Sektors gewaltig. Im Jahre 2001 fielen die Profite in der Kommunikationsindustrie (nach Zahlung der Zinsen) im Vergleich zum Vorjahr um 6 Prozent. Sie gingen dann im Jahr 2002 um weitere 11 Prozent zurück. Um die Jahresmitte von 2002 hatten die Telekommunikationsaktien 95 Prozent ihres Kurswertes verloren – mit dem Ergebnis, dass ein Betrag von etwa 2,5 Billionen Dollar an Börsenkapitalisierung einfach verheizt worden war. Die Auswirkungen des Zusammenbruchs der Wertpapierkurse und des praktischen Verschwindens der Profite waren selbstverständlich enorm. Im Jahre 2000 entfielen noch 12 Prozent der Aufwendungen der US-Volkswirtschaft für Ausrüstungen auf diesen Wirtschaftszweig – und sogar ein Viertel des Zuwachses dieser Art von Aufwendungen. In den Jahren 1999 und 2000 wuchsen die Investitionen im Telekommunikationssektor mit einer jährlichen Rate von etwa 10 Prozent. Aber im Jahr 2001 sind sie vermutlich um mehr als 20 Prozent gesunken. Die Schulden der Telekommunikationsindustrie standen inzwischen bei einem Betrag von 525 Milliarden Dollar – d.h. dem dreifachen Wert sowohl der in den 1980er Jahren ausgegebenen 'Ramsch-Aktien' (junk bonds) als auch der Kosten für die Rettungsaktion für die amerikanischen Spar- und Darlehenskassen (Savings- and Loans). In der kurzen Periode zwischen dem Ende des Jahres 2000 und der Mitte des Jahres 2002 mussten mehr als 60 Unternehmen Insolvenz anmelden. Die Telekommunikationsindustrie entließ mehr als 500 000 Beschäftigte, d.h. 50 Prozent mehr, als sie in ihrer spektakulären Expansionsphase zwischen 1996 und 2000 eingestellt hatte. Nur zum Vergleich: die Automobilindustrie hatte volle zwei Jahrzehnte gebraucht, um 732.000 Arbeitsplätze abzubauen. Telekommunikationsgesellschaften kaufen Netzwerkausrüstungen, um Internetverkehr zu bewerkstelligen, Server, um sich als Webhost anbieten zu können, Software, um damit Dienstleistungen an den Markt bringen zu können, und Glasfibergeräte, um Informationsbits zu transportieren. Der Rückgang der von ihnen ausgehenden Aufträge hat dem gemäß die Profitabilität ihrer Lieferanten wie ein Hammerschlag getroffen. Zu diesen Lieferanten gehören viele der führenden Stars des High-Tech-Aufschwungs, von denen daher die allermeisten mit katastrophalen Zusammenbrüchen ihrer Aktienkurse und ihrer Finanzierungsbedingungen klar kommen mussten. Hierzu gehörten etwa die einmal legendäre Firma Cisco Systems, aber auch etwa Lucent, Nortel und Motorola. Als die führenden Hersteller solcher Ausrüstungen durch den abrupten Rückgang der Nachfrage von Seiten der Netzbetreiber matt gesetzt wurden, haben sie unvermeidlicherweise ihrerseits den sie beliefernden Bauteileherstellern, einschließlich der Halbleiterproduzenten, einen schweren Schlag versetzt. Daraufhin mussten dann solche Börsenlieblinge wie JDS Uniphase und Sycamore ins Gras beißen. Die von dem abrupten Rückgang der Computerverkäufe und ebenso von dem Telekom-Crash schwer getroffene Halbleiterindustrie ging in ihren schlimmsten Abschwung seit den frühen 1980er Jahren über. Wenn wir alles zusammennehmen, dann waren die von dem Niedergang der Telekommunikationsindustrie ausgelösten Kettenreaktionen für größenordnungsmäßig ein Viertel des Rückganges des Wirtschaftswachstums verantwortlich, der zwischen der ersten Hälfte des Jahres 2000 und der ersten Jahreshälfte 2001 stattfand. Damit waren sie in einem geradezu riesenhaft überproportionalen Ausmaß dafür verantwortlich, dass die gesamte Volkswirtschaft 2001 in eine Rezession verfiel. Die Krise der Überproduktion und der Wertpapierkurse im Telekommunikationssektor und den damit eng zusammenhängenden Wirtschaftszweigen brach gleichsam im Tandem mit einer parallelen und sich teilweise überlappenden Krise im gesamten Hochtechnologiesektor aus, zu dem als prominente Beispiele die Computerhersteller und die Halbleiterproduzenten zählen. Die Tiefe dieser Krise wird von einer Analyse des Wall Street Journal enthüllt, in der es um 4200 Unternehmen auf dem NASDAQ Börsenindex geht, gleichsam der Heimatanschrift der New Economy. Für diese Unternehmen beliefen sich die Verluste in den zwölf Monaten zwischen dem 1. Juli 2000 und den 30. Juni 2001 auf einen Gesamtbetrag von nicht weniger als 148,3 Milliarden Dollar. Das war nur ganz wenig mehr als die 145,3 Milliarden Dollar an Profiten, welche dieselben Unternehmen während der gesamten Periode vom September 1995 bis Ende Juni 2000 gemeldet hatten! Wie ein Ökonom dies kurz und bündig ausgedrückt hat: "Das bedeutet, dass wir im Nachhinein betrachtet sagen können, dass die späten 1990er Jahre niemals stattgefunden haben." Die Krise in den Sektoren von Telekommunikation und Hochtechnologie entfaltete sich schließlich vor dem allgemeineren Hintergrund einer US-Volkswirtschaft, die auf breiterer Front bereits von den Überkapazitäten im weltweiten verarbeitenden Gewerbe niedergedrückt wurde. Anfang 2002 waren die absoluten Profite (ohne Zinszahlungen) im verarbeitenden Unternehmenssektor gegenüber ihrem Höhepunkt von 1997 um umwerfende 65 Prozent gefallen – und die Profitrate der verarbeitenden Unternehmen um mehr als 40 Prozent. Unter den Auswirkungen des umgekehrten Vermögenseffektes und angesichts des gigantischen Überschusses an Kapazitäten ging das Wachstum der Produktion und der Investitionen schneller zurück als in jeder vergleichbaren Periode seit dem II. Weltkrieg. Das Wachstum des BIP sank von 4,9 Prozent in dem Jahr, das Mitte 2000 zu Ende ging, bis auf 0 Prozent in dem Jahr, das Mitte 2001 sein Ende fand. Das Wachstum der Investitionen außerhalb der Wohnungswirtschaft (Vermietung und Verpachtung) fiel in derselben Zeit von 9 Prozent bis auf minus 4,0 Prozent. In dem Maße, wie die Unternehmen diese tiefgreifende Schrumpfung ihrer Märkte, wie sie in diesen Rückgängen des Wachstums von Produktion und Investitionen zum Ausdruck kam, voll zur Kenntnis nehmen mussten, reagierten sie mit ihren routinemäßigen Selbsterhaltungsmaßnahmen. Sie hackten einfach ganze Schichten ihrer Produktionskapazitäten weg – insbesondere ihre Belegschaften –, um auf diese Weise wieder wettbewerbsfähig zu werden. Dadurch setzten sie natürlich ihre Wettbewerber einem heftigen Druck aus, ihrerseits mit entsprechenden Maßnahmen zu reagieren. Der Gesamteffekt dieser Prozesse bestand einfach darin, eine machtvolle Abwärtsspirale in Gang zu setzen, durch die dann ein Sinken der Investitionen wie des Konsums zu einem Anstieg von Entlassungen, Insolvenzen und Nichtrückzahlung von Schulden führte. Diese sorgten dann ihrerseits für weitere scharfe Rückgänge der Nachfrage – und bauten auf diese Weise weiteren Druck in Richtung einer Vertiefung der Rezession auf. Als die USA in die Abschwungphase ihrer Konjunktur eintraten, folgte ihr der Rest der Welt gleichsam auf dem Fuß. Der letzte Aufwärtsschub der Börsen hatte nicht nur die USA, sondern auch die Weltwirtschaft insgesamt aus der internationalen Krise von 1997/1998 gerettet, die ihren Ausgang in Ostasien genommen hatte. Als jetzt aber die Wertpapierkurse und die Investitionen in den USA vor allem im Hochtechnologiesektor zusammenbrachen, lief gleichsam der gleiche Film rückwärts ab: Aufgrund der Auswirkungen der steil abstürzenden US-Importe verloren die Volkswirtschaften Japans, Europas und Ostasiens genau so schnell ihren Dampfdruck wie die der USA. Zugleich wurde ein großer Teil der Entwicklungsländer, besonders in Lateinamerika, nach einer kurzen Schönwetterphase wieder in die Krise zurückgeworfen. Damit war ein sich wechselseitig verstärkender internationaler Rezessionsprozess in Gang gesetzt. Diese krisenhafte Kettenreaktion gab dadurch um so mehr Anlass zur Besorgnis, weil nämlich der Rest der Welt angesichts einer stagnierenden Binnennachfrage im eigenen Land seine Volkswirtschaften während der zwei vorangehenden Jahrzehnte auf Exporte umorientiert hatte – und das hieß eben auf Exporte in einen sich ausweitenden US-Markt, der selbst von dem Anstieg der Börsenkurse abhing. Um von der Mitte des Jahres 2000 bis zum Herbst 2001 die furchterregende Talfahrt der Volkswirtschaft der USA und auch der Weltwirtschaft abzubremsen, hat die Federal Reserve die Zinssätze scharf und schnell gesenkt. Der dem zugrundeliegende Gedanke war, dadurch zum Geldausgeben zu ermutigen, dass die realen Kosten einer Kreditaufnahme auf das Äußerste verbilligt wurden. Aber, genau wie in diesem Buch vorhergesehen, hat die Fed durch ihre Politik billiger Kredite nur einen oberflächlichen Erfolg erzielen können. Denn ihre Bemühungen wurden von einem Konjunkturabschwung zunichte gemacht, der sich dadurch von allen vorhergehenden Abschwüngen während der Nachkriegsepoche unterschieden hat, dass seine Wurzeln in einer systemweiten Situation von Überkapazitäten lagen, die zu einer Verringerung der Preiserhöhungen führte, und nicht etwa in restriktiven Politiken zur Nachfrageverknappung, die von der Fed zur Behandlung von Überhitzung und Inflation eingesetzt worden wären. Und wie die Fed dann herausfinden musste, ist es sehr viel einfacher, eine Volkswirtschaft abzubremsen, welche von allzu viel Nachfrage angetrieben wird, als eine Volkswirtschaft wieder aufzupumpen und anzukurbeln, die von einem Überschuss an produktiven Kapazitäten niedergedrückt wird, der dann für allzu viel Angebot sorgt. Die historische Senkung der Zinssätze durch die Fed ist in Bezug auf ihr hauptsächliches kurzfristiges Ziel ganz erfolgreich gewesen – d.h. bei der Ankurbelung der Konsumnachfrage, die der Abwärtsspirale der Wirtschaft Einhalt gebieten und zumindest den Anschein von Stabilität wiederherstellen sollte. Die Verfügbarkeit superbilliger Kredite hat es möglich gemacht, dass die jährliche Kreditaufnahme der privaten Haushalte während dieser Rezession sogar noch schneller zunahm, als in dem von Schulden angetriebenen Aufschwung, der ihr vorausgegangen war. Das vollzog sich ganz besonders auf dem Weg über eine Refinanzierung von Hypotheken auf Eigenheime. Der wachsende Schuldenstand der privaten Haushalte hat es ermöglicht, dass die Konsumausgaben sowohl 2001 als auch 2002 um ganz anständige 2,7 Prozent jährlich gestiegen sind, auch angesichts einer stetig steigenden Arbeitslosigkeit. Als Reaktion auf diesen Zuwachs der Ausgaben seitens der KonsumentInnen haben die Unternehmen dann wieder damit aufgehört, ihre produktiven Bestände weiterhin so schnell abzubauen, wie sie damit angefangen hatten. Das führte zu einer entsprechenden Erhöhung des BIP-Wachstums. Eben diese Kausalkette – vom Wachstum der Kreditaufnahme der privaten Haushalte über das Wachstum der Konsumausgaben bis hin zur Stabilisierung der produktiven Bestände – war damit in erster Linie für das Wachstum des BIP verantwortlich. Allerdings blieben genau aus dem Grund, dass es der Fed gelungen war, lediglich die Konsumausgaben nach oben zu ziehen, die Grundlagen des Wirtschaftswachstums sehr wacklig. Da sie sich im Besitz ganzer Gebirge an Überkapazitäten befinden, hat es für die Unternehmen nur einen ganz geringen Anreiz dafür gegeben, ihrerseits Investitionen zu tätigen. Deswegen haben sie sich auch faktisch geweigert, zum Zwecke der Kapitalakkumulation Kredite aufzunehmen – und zwar ganz ohne Rücksicht darauf, wie billig eine Kreditaufnahme wurde. Nach Keynes’ bekannter Metapher hat die Fed eben versucht, "mit einem Bindfaden zu schieben". Das Investitionswachstum außerhalb der Wohnungswirtschaft (Vermietung und Verpachtung) – Schlüsselkennziffer für die Gesundheit der Wirtschaft – ist wie ein Stein herabgeplumpst: von einer durchschnittlichen Jahresrate von 12,5 Prozent in der ersten Hälfte des Jahres 2000 auf 0,1 Prozent in der zweiten Hälfte dieses Jahres – und dann auf minus 5,2 Prozent im Jahre 2001 und minus 3 Prozent in den ersten drei Quartalen des Jahres 2002. Es wurde so zur wichtigsten Ursache, die die Wirtschaft in die Depression trieb. Auch das Exportwachstum ist zusammengebrochen: von 11 Prozent in der ersten Jahreshälfte 2000 auf 3,3 Prozent in der zweiten Jahreshälfte – und dann auf minus 4,5 Prozent im Jahre 2001. Die politisch Verantwortlichen hoffen nun, dass es gelingt, die Wirtschaft so lange von den Konsumausgaben vorantreiben zu lassen, bis sich die Investitionen und die Exporte erholt haben. Dabei richten sich ihre Erwartungen ganz besonders darauf, dass sich die Investitionen aufgrund des von einer kontinuierlich steigenden Konsumnachfrage ausgehenden Anreizes erholen. Daneben bleibt aber die Sorge bestehen, der Überhang an überschüssigen Produktionsanlagen und -ausrüstungen, der bisher schon für den Niedergang der Profite verantwortlich war, werde auch weiterhin jeden neuen Investitionsschub verhindern. In der Tat sind die Investitionen außerhalb der Wohnungswirtschaft (Vermietung und Verpachtung) um weitere 3,3 Prozent (auf das Jahr umgerechnet) zurückgegangen. Von den Exporten kann zwar erwartet werden, dass sie in dem Maße ansteigen werden, wie eine Erholung in den USA in der gesamten übrigen Weltwirtschaft das Wachstum anregt. Es ist aber auch zu erwarten, dass diese Exporte weit hinter den Importen zurückbleiben – aufgrund der großen Konsumneigung der US-Volkswirtschaft. Daraus ergibt sich dann mit Sicherheit ein zunehmender Druck auf das Leistungsbilanzdefizit der USA, das sich bereits auf Rekordhöhe befindet. Vor diesem Hintergrund der Ungewissheit türmen sich die ganz außerordentlichen "Ungleichgewichte", die die Spekulationsblase als Erbe hinterlassen hat, weiterhin wie dunkle Wolken über dem Horizont, ganz wie dies im Schlussteil dieses Buches betont wird. 1) Der Rekordanstieg der Kreditaufnahme, nicht nur seitens der Privaten Haushalte, sondern auch ganz besonders seitens der Unternehmen, stand im Zentrum des Aufschwungs der 1990er Jahre. Aber in dem Maße, wie verschlechterte Zukunftsaussichten und Insolvenzen sich immer bedrohlicher am Horizont abzeichneten, haben die Unternehmen dann ihre Kreditaufnahme scharf zurückgefahren, um durch eine Verbesserung ihrer Bilanzwerte ihre Verletzbarkeit zu verringern. Sollte sich das weiterhin in großem Maßstab so vollziehen, dann würde damit eine große Stütze der Investitionen wegfallen. 2) Im Jahre 2001 standen die Defizite der Handels- und der Leistungsbilanzen der USA im dritten Jahr in Folge wieder auf bisher unerreichten Rekordhöhen. Was die Sache noch schlimmer machte, war der Umstand, dass in den ersten drei Quartalen des Jahres 2002 die Importe zweimal schneller zu nahmen als die Exporte. Bis vor kurzem waren die Investoren aus Übersee noch mehr als willig gewesen, derartig hohe Defizite zu finanzieren, indem sie große Direktinvestitionen in den USA tätigten und in ganz außerordentlichem Umfang Aktien und Anleihen von US-Unternehmen käuflich erwarben. Da aber die US-Volkswirtschaft in ihrer Rezession fortwährend die Erwartungen enttäuschte und die US-Börsen weiterhin flau blieben, scheint der Rest der Welt jetzt schließlich US-Vermögenswerte vergleichsweise weniger attraktiv zu finden. Im Jahre 2001 fielen die ausländischen Direktinvestitionen, die mit dem Ziel getätigt wurden, in den USA Betriebe zu erwerben oder aufzubauen, um riesenhafte 60,4 Prozent, während der Ankauf von US-Aktien seitens des Rests der Welt um mehr als 35 Prozent zurückging. In der ersten Hälfte des Jahres 2002 ging er, auf ganze Jahr umgerechnet, um weitere 50 Prozent zurück. Das Ergebnis dieser Enttäuschung gegenüber US-Vermögenswerten war ein wachsender Abwertungsdruck auf die US-Währung. Der Dollar ist beträchtlich gefallen, insbesondere im Verhältnis zum Euro. Wenn diese Trends sich fortsetzen sollten, dann würde die Fed vor einer ganz verzweifelten Wahl stehen. Sie kann entweder den Dollar fallen lassen und damit einen Totalausverkauf der US-Eigentumstitel in den Händen ausländischer Investoren auslösen, wodurch nicht nur auf den Wertpapiermärkten große Zerstörungen angerichtet werden könnten, sondern auch eine richtiggehende Flucht aus dem Dollar ausgelöst würde. Oder aber sie kann die Zinssätze erhöhen und das Risiko eingehen, die Wirtschaft damit in eine tiefere Rezession zu stürzen. 3) Ganz offensichtlich sind die Wertpapierkurse als Antwort auf die sich verschlechternden Geschäftsaussichten sehr beträchtlich gefallen. Aber paradoxerweise hat ihr Rückgang keineswegs dazu geführt, die Börsenkurse wieder der Entwicklung der Profite anzunähern, weil in vielen Fällen die Profite genau so tief gefallen sind. Am Ende des Jahres 2001 war der S&P 500 Index um mehr als ein Drittel gefallen. Aber das Kurs-Gewinn-Verhältnis der in ihm vertretenen Unternehmen war deswegen noch nicht niedriger, als es auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung zur Jahresmitte 2000 gewesen war. Dasselbe gilt auch für den NASDAQ. Die Aktien bleiben damit in hohem Maße überbewertet, so dass alles so aussieht, als ob die Börsen noch eine lange Fallstrecke vor sich hätten. Was alles aber nur noch viel schlimmer macht, ist der Umstand, dass eine phänomenale Serie von Buchhaltungsskandalen den Ruf einer wachsenden Anzahl der führenden Unternehmen des Landes ruiniert hat. Das wirft in der Tat einen zusätzlichen Schatten auf den Wert von Wertpapieren und die Wirtschaftsaussichten ganz allgemein, weil es nämlich Zweifel an der Fähigkeit der Unternehmen auslöst, überhaupt wieder ihre Profitabilität zurückzugewinnen. Für diese Betrugsfälle war es charakteristisch, dass Spitzenmanager systematisch die wirklichen Aufwendungen ihrer Firmen verdeckten und entsprechend die Profite aufpumpten sowie sich zugleich selber Vermögenswerte der Firmen privat aneigneten. Viele der betroffenen Firmen gehörten vor ganz kurzem noch zu den High-Tech-Spitzenstars der Börsen – nicht nur Enron, sondern auch Giganten der Telekommunikation wie Global Crossing, Qwest und World.com oder auch Großunternehmen wie AOL Time Warner, Bristol Meyers, Kmart, Lucent Technologies, Merck, Reliant Services, Rite Aid, Vivendi, und dazu noch die beiden führenden US-Banken, Citigroup und J.P. Morgan Chase, mit Merrill Lynch und vielen anderen in ihrem Gefolge. Im Kontext der hier vertretenen Analyse können diese Skandale als gewichtige Indizien nicht nur für den erstaunlichen Grad an individueller Korruption betrachtet werden, wie sie für den crony capitalism[5] amerikanischer Machart kennzeichnend ist. Sie verweisen uns vielmehr auf die ungelösten Systemprobleme, unter denen die reale Wirtschaft leidet. Der Grund für ihr Auftreten in dieser Gestalt ist also ganz einfach zu durchschauen: Sie sollen eine Wirklichkeit verdecken, in der sich das Bild der Unternehmensprofite zunehmend ganz verzweifelt darstellt. In dem Maße, wie die Profitabilität zurückging, wurden die Unternehmen immer verzweifelter davon abhängig, dass ihre Wertpapierkurse stiegen, um sich dadurch den Zugang zu Investitionsmitteln zu verschaffen. Aber steigende Wertpapierkurse hängen ihrerseits selber davon ab, dass die Profite steigen – und steigende Profite waren eben das Element des Bildes, das fehlte. Angesichts dieses offensichtlichen Versagens auf der Ebene ihrer "Fundamentaldaten" standen die Spitzenmanager unter wachsendem Druck, ihre Aktienkurse mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auf ihrer Flugbahn zu halten, um sich damit den erforderlichen Zugang zu billigen Finanzierungsquellen und so zu den Investitionsmitteln zu erhalten, um sich im Wettbewerb zu behaupten. Da außerdem ihre eigene Bezahlung so sehr von dem Wert ihrer Aktienoptionen abhängig geworden war, standen sie zudem auch vor einer anscheinend unwiderstehlichen Versuchung, genau dies zu tun. Als sich im Übergang in das neue Jahrtausend die Profitkrise weiter intensivierte und einen machtvollen Absenkungsdruck auf die Wertpapierkurse ausübten, frisierte dem gemäß ein großes Unternehmen nach dem anderen – vor allem in dem "New Economy"-Sektor der Technologie, Medien und Telekommunikation (TMT) – seine Buchhaltung, um dadurch seine kurzfristigen Erträge zu übertreiben und so den Kurswert seiner Aktien zu stabilisieren. Bei diesem fröhlichen Treiben erhielten sie eine entschlossene Hilfe von Seiten der größten Banken des Landes, die man schon als heldenhaft qualifizieren kann. Seitens dieser Finanzierungssupermärkte kann man alles "aus einer Hand" (one stop) bekommen, weil sie Investmentgeschäfte mit den Tätigkeiten von Geschäftsbanken und Versicherungen verbinden. Diese Banken konnten daher erwarten, enorme Gebühren daran zu verdienen, indem sie die Ausgabe von Aktien organisieren, Anleihen lancieren oder auch Fusionen und Übernahmen managen. Sie waren geradezu glücklich darüber, nicht nur ihren Kunden die von ihnen angeforderten Anleihen zu verschaffen, sondern darüber hinaus noch die allerneuesten Innovationen einer "strukturierten Finanztechnik" dazu nutzen, das Erscheinungsbild der Unternehmensbilanzen ihrer Kunden aufzupolieren, um so deren Nachfrage nach Finanzdienstleistungen immer weiter anzuheizen. Genau dieselben Banken waren auch mehr als froh, den nach außen als unabhängig auftretenden "Börsenanalysten", welche sie beschäftigten, Ratschläge zu erteilen, wie sie die Aktien ihrer Kunden zu bewerten hätten – für den ganz unwahrscheinlichen Fall, dass diese Analysten etwa vom Faktum der unzureichenden Renditen in den Bann gezogen würden, und trotz des offensichtlichen Interessenkonfliktes, der sich daraus ergab. Auch waren sie sich nicht zu schade, ihre Unternehmenskunden ganz einfach zu bestechen, indem sie deren Spitzenmanagern Aktien im Wert von Millionen Dollar zuspielten – oft durch "brandheiße" Neuemissionen (Initial Public Offerings),[6] um sich deren Finanzdienstleistungsaufträge zu sichern – vor allem, da es ja nicht illegal ist, so etwas zu tun –, außer es kann bewiesen werden, dass das Zuschieben der Bestechungssumme ganz ausdrücklich die Bedingung für den Vertragsabschluss über die Dienstleistung war. In der Zwischenzeit hatten die größten und ältesten Buchhaltungs- und Wirtschaftsprüfungsfirmen des Landes – die während der letzten beiden Jahrzehnte zunehmend dazu übergegangen waren, zugleich auch noch für dieselben Unternehmen, deren Bücher sie prüfen sollten, als Anlageberater zu fungieren – das ganze Spiel am Laufen gehalten, indem sie angesichts der finanziellen Schummeleien ihrer Kunden beide Augen zudrückten. Eine jüngst von SmartstockInvestor vorgelegte Studie hat für die drei ersten Quartale des Jahres 2001 die Profite, wie sie von den Firmen auf der Liste der NASDAQ 100 vierteljährlich gegenüber Aktienbesitzern und Medien angekündigt wurden, mit denjenigen verglichen, die später der Börsenaufsicht (Security Exchange Commission) gemeldet worden sind. Die ersteren waren, wie das immer der Fall ist, auf einer so genannten Proforma-Basis berechnet, die den Firmen ausgesprochen freie Hand lassen –, während die letzteren, wie dies gesetzlich vorgeschrieben ist, auf der Grundlage strenger Allgemein Akzeptierter Buchhaltungsprinzipien (Generally Accepted Accounting Principles – GAAP) berechnet waren. Diese 100 Unternehmen berichteten der Öffentlichkeit über Erträge in der Höhe von 19 Milliarden Dollar. Sie konnten es aber doch nicht vermeiden, später der Börsenaufsicht für die gleiche Periode Verluste in Höhe von 82,3 Milliarden Dollar mitzuteilen – immerhin eine Differenz von 101 Millarden Dollar! In der schieren Größe und in ihrem weitgespannten Umfang hat der Vetternwirtschafts-Kapitalismus der USA ganz eindeutig unter den entwickelten Volkswirtschaften nicht seinesgleichen. Wie die Financial Times jüngst nachgewiesen hat, sind die Spitzenmanager und Direktoren der 25 größten Gesellschaftsunternehmen, die seit Januar 2001 Bankrott gemacht hatten – also diejenigen, welche die FT als die 'Bankrottbarone' bezeichnet –, aus den Schiffbrüchen ihrer Unternehmen selber mit nicht weniger als 3,3 Milliarden Dollar herausgekommen. Diese Feststellung kratzt aber allenfalls an der Oberfläche der titanischen Umverteilung von Reichtum, wie sie die US-Unternehmensführer etwa im letzten Jahrzehnt zustande gebracht haben. Zwischen 1997 und 2001 haben Insider in der Telekommunikationsindustrie etwa 18 Milliarden Dollar eingesteckt, wobei sie mehr als die Hälfte dieser Summe im Jahre 2000 an sich brachten, als die Kurse für Telekom-Aktien ihre Spitzenwerte erreichten. Zwischen 1995 und 1999 hat sich der Wert der Aktienoptionen, die US-Spitzenmanagern eingeräumt wurden, mehr als vervierfacht: von 26,2 Milliarden auf 110 Milliarden Dollar, also auf einen Wert, der einem Fünftel der Profite aller nicht-finanziellen Unternehmen (ohne Zinsen) entsprach. Während im Jahr 1992 die Spitzenmanager von Gesellschaftsunternehmen 2 Prozent aller von US-Unternehmen ausgegebenen Aktien besaßen, gehörten ihnen im Jahre 2002 12 Prozent. Das muss einfach einer der spektakulärsten Enteignungsakte in der gesamten Geschichte des Kapitalismus gewesen sein. Das tieferliegende Problem ist ganz offensichtlich nicht das unmoralische Verhalten von individuellen Spitzenmanagern und Direktoren, so tadelnswert es auch sein mag. Es liegt darin, dass in dieser Betrugsepidemie nicht bloß die subjektive, vorbedachte Böswilligkeit von Unternehmensführern zum Ausdruck kommt, sondern auch die objektiv schlechte Gesundheit der Unternehmen als solcher – wie sie in ihrer Profitabilitätskrise in Erscheinung tritt – die das Investitionsklima und die Börsen so schwer getroffen hat. Sollten die Investoren, als Antwort auf eine um sich greifende Überzeugung, dass sich das wirkliche Bild der Profite noch schlimmer darstellt, als dies jetzt der Fall zu sein scheint, weiterhin die Börsenkurse nach unten treiben, so würde das eine äußerst depressive Wirkung auf das Geschäftsvertrauen und ganz allgemein auf die Wirtschaft haben – und die Möglichkeit eröffnen, dass es zu einer sich selbst verstärkenden Abwärtsspirale kommt, in der sich die Wertpapierkurse und der Dollarkurs wechselseitig nach unten treiben. Das Ergebnis ist immer wieder, dass die Profitrate – die letztlich den Schlüssel für jede mögliche Erholung bildet – weiterhin sehr tief nach unten gedrückt bleibt. Im Jahre 2001ist die Profitrate der nicht-finanziellen Unternehmen um 33 Prozent unter ihren Spitzenwert von 1997 gefallen und erreichte damit – mit Ausnahme der Jahre 1980 und 1982 – ihren niedrigsten Stand der Nachkriegsperiode. Dennoch bleibt der Dollarkurs relativ hoch, hält dadurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit der US-Produzenten niedrig und macht jede Erholung der Profitrate im verarbeitenden Gewerbe der USA dadurch nur um so schwieriger. Und natürlich pumpt inzwischen der Vermögenseffekt des Börsenbooms nicht länger die Investitionen oder die Konsumnachfrage auf. Selbst als sich das Wirtschaftswachstum spät im Jahre 2001 und im Jahre 2002 etwas beschleunigte, hat die Fed keineswegs ihre Zinssätze erhöht – ein Anzeichen dafür, dass sie keineswegs darauf vertraut, dass sich die Volkswirtschaft bereits im Übergang zu einem Aufschwung befindet und dass die Erholung gesichert ist. Dass sich die Fed jüngst sogar dazu veranlasst sah, ihre Zinssätze noch weiter zu senken, zeigt nur, wie große Sorgen sie sich wirklich macht. Inzwischen sind die Börsen weiterhin angeschlagen und fielen im Herbst 2002 in die Nähe ihrer im Kielwasser des 11.9.2001 deprimierten Kursstände, auch wenn sie seitdem wieder ein wenig Boden gut gemacht haben. Die US-Unternehmen hegen eindeutigen Zweifel, dass ein von der Konsumnachfrage getragener Aufschwung im Kommen ist. Alan Greenspan hat erklärt, die Rezession sei jetzt vorbei. Aber die Wirtschaft hat noch lange nicht aus dem dunklen Wald herausgefunden. Robert Brenner
Dezember 2002 [1] Die Darstellung der TMT-Krise in den folgenden Absätzen aktualisiert die entsprechende Analyse im 10. Kapitel des vorliegenden Buches. (AdÜ)
[2] Biblisches Meeresungeheuer, das Thomas Hobbes als Gegenspieler des Leviathan popularisiert hat, in der US-amerikanischen Kultur aber immer noch als Metapher für etwas Großes, Mächtiges und Gefährliches funktioniert. (AdÜ)
[3] "Ponzi" ist ein Begriff aus der Theorie des US-Ökonomen Hyman Minsky (1919 – 1996) zur Krisenhaftigkeit der Finanzsysteme und Finanzmärkte. Minsky hat die ökonomische Theorie von John Maynard Keynes um eine Analyse der Rolle des Finanzsektors in Wirtschaftsprozessen erweitert. Demnach sind wirtschaftliche Schwankungen die Folge eines ineffizient funktionierenden Finanzsektors. Minsky unterscheidet drei Zustände des Unternehmensverhaltens mit Folgen für die Stabilität des Finanzsektors: "hedge" (der erwartete cash flow der Unternehmen ist größer als die erwarteten Ausgaben; d.h. das Finanzsystem ist robust); "spekulativ" (die Unternehmen sind zunehmend von äußerer Finanzierung abhängig; d.h. das Finanzsystem wird verletzlicher) und "ponzi" (die Unternehmen müssen laufend ihre Verschuldung ausweiten, um überhaupt im Geschäft bleiben zu können; das Finanzsystem wird hochgradig instabil). Je mehr Unternehmen in den "Ponzi" -Zustand übergehen, um so eher reißen wie in einem Schneeballeffekt die Kreditketten, nehmen die Bankrotte zu und sinken Investitionen und Nachfrage – die Rezession wird unausweichlich. (AdÜ)
[4] "To grub" bedeutet u.a. "wühlen, stöbern, kramen", durchaus auch in unredlicher Absicht. (AdÜ)
[5] Der von den US-Eliten geprägte Begriff "crony capitalism" (Kapitalismus der Vetternwirtschaft/des Nepotismus) diente vor dem Enron-Debakel stets als allumfassende Anklage an ein "asiatisches Entwicklungsmodell" (Japan, Taiwan, Südkorea, Malaysia, Singapur etc.), das in der Nachkriegszeit ein phänomenales Wirtschaftswachstum erzeugt hatte. (AdÜ)
[6] IPO oder Initial Public Offering: das "erste öffentliche Angebot" (Neuemission) bedeutet, dass die Aktien eines Unternehmens im Zuge einer Kapitalerhöhung oder Umplatzierung zum ersten Mal am Aktienmarkt angeboten werden. Damit hängen die allgemeine Börsenzulassung und die Börsennotierung zusammen. (AdÜ)

Leseprobe 2

Frieder Otto Wolf
Zur zweiten "Brenner-Debatte"
Nachwort und bibliographische Angaben Seit dem Erscheinen der ersten Publikation von Robert Brenners Untersuchungen der "langen Stagnation" der US-Volkswirtschaft und der Weltwirtschaft seit den 1970er Jahren (Brenner 1998) ist weltweit eine Debatte in Gang gekommen, in der Brenners Analysen und Thesen zur theoretischen, empirischen und historischen Neubearbeitung eines ganzen Themenfeldes führen. Hierbei geht es insbesondere um die Thematik der Umbrüche und der gegenwärtig noch wirksamen Konstellationen der USA im "Weltkapitalismus" seit dem Ende ihrer Nachkriegskonstellation. Nicht anders als in der ersten "Brenner-Debatte",[1] in der es um die historischen Ursprünge und Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise ging (vgl. inzwischen zuspitzend Wood 1999/2002), erweist sich die von Brenner vorgelegte theoretisch komplex angelegte und empirisch-historisch gehaltvolle Untersuchung als Grundlage einer Neufassung der zu diskutierenden Problematik. An die Stelle einer geschichtsphilosophischen Konstruktion von "Übergängen zwischen Produktionsweisen" trat die konkrete, begrifflich angeleitete Untersuchung von einzelnen historischen Prozessen (und Kämpfen), als deren Resultat sich – so Brenners damalige zentrale These – im englischen Agrarkapitalismus zum ersten Mal ein reproduktionsfähiges Produktionsverhältnis ergab, das auf der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital beruhte. Für die zweite weit mehr noch als für die erste Brenner-Debatte erweist sich daher eine historischen Analogie als hilfreich: Ganz wie sich im Hellenismus in der frühen "neuen Medizin" im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung eine Vielzahl konkurrierender, spezifisch medizinischer Theorien entfaltet hatten, denen gegenüber dann der medizinische "Empirismus" den Vorwurf eines überschwänglichen Vernunftgebrauchs erhob, hat die weltweite Erneuerung eigenständiger marxistischer Untersuchungen seit den 1960er Jahren eine derartige Vielfalt streitender marxistischer theoretischer Positionen hervorgebracht, dass ein Rückgang auf die Empirie sich unausweichlich aufdrängt, um dadurch die bloß ausgedachte "Spreu" vom realitätstüchtigen "Weizen" zu trennen.[2] In der Vielfalt der in der zweiten Brenner-Debatte bezogenen Positionen ist ein "Anzeichen für die Vitalität der marxistischen Ökonomie" gesehen worden (Editorial, NLR 229, 1998, vgl. a. Katz 2000/01). Es wäre jedoch nicht weniger berechtigt, darin ein Symptom für die babylonische Sprachverwirrung zu sehen, von welcher dieses Unternehmen befallen ist (vgl. Laibman 1999), über dessen epistemologischen Status, theoretische Grundlagen und empirische Überprüfungskriterien eine derart tief sitzende und offensichtlich nur ganz unzureichend bearbeitete Unsicherheit herrscht. In dieser Nachbemerkung kann es nicht etwa darum gehen, einen derartigen Kritikprozess gleichsam im Schnellgang vorwegzunehmen. Ich möchte nur den deutschsprachigen LeserInnen die Übersicht über die international, nicht nur im englischen Sprachraum geführte Debatte erleichtern. Es wäre m.E. nicht sinnvoll, dabei die Aspekte einer "Debatte innerhalb des angelsächsischen Trotzkismus" zu betonen, die sich aus einigen zentralen Themen der Diskussion ergeben, sowie aus der aktiven Beteiligung aller Publikationsorgane aus dieser Tradition. Bereits seit den 1960er Jahren hatte sich diese ausdrücklich antistalinistische Traditionslinie zum Hauptstrom eines "Neomarxismus" ausgeweitet (vgl. Dräger 2001, 178f.), der neben entsprechenden Ansätzen in Osteuropa (vor allem unter den Prager Reformern, in der jugoslawischen Praxis-Gruppe oder in der "Budapester Schule" um Agnes Heller und György Markus[3]) und im französischsprachigen Raum (vor allem Henri Lefèbvre, Lucien Goldmann und Lucien Sebag) entscheidende Beiträge zur Wiederbelebung der marxistischen Diskussion in den 1960er Jahren geleistet hat.[4] Brenners substanzielle empirisch-historische Untersuchung hat darüber hinaus auch die Dimension einer tatsächlich internationalen marxistischen Debatte erreicht, wie sie vor allem in der Konfrontation mit der Regulationsschule sowie mit den verwandten "Annäherungen"[5] der Schule der "Social Structure of Accumulation" (Bowles/Gordon/Weisskopf 1983, 1984 u. 1990), der Weltsystem-Theorien (Wallerstein 1980, Arrighi 1994, Arrighi/Silver 1999), der neueren materialistischen Wirtschaftsgeographie (Harvey 1982), der althusserianischen Überdeterminationstheoretiker (Resnick/Wolff 1987, Gibson-Graham/Resnick/Wolff 2001) oder der neo-gramscianischen "Internationalen Politischen Ökonomie" (vgl. Cox 1995 u. Cox 191996) Gestalt angenommen hat.[6] Dies gilt aber auch in ihrer impliziten Bezugnahme auf die "new interpretation" der Marxschen Werttheorie (vgl. Duménil 1980, Foley 1982 u. 2000),[7] oder auf neuere Untersuchungen der sich verändernden Strategien des kapitalistischen Managements (Froud u.a. 2000 a u. b, Lazonick/Sullivan 2000).[8] Sofern wir das allgemeine Verhältnis von marxistischer Theorie und Geschichtsschreibung (vgl. Harman 1998) oder die Debatte über den theoretischen Stellenwert des "Kapitals im Allgemeinen" (vgl. Bischoff 1993, Heinrich 1999) nicht dazu zählen, reicht das Spektrum der von ihr relevant berührten Debattenlinien:
  von den allgemeineren Fragen nach einer adäquaten marxistischen Krisentheorie (Mandel 1978, Bader u.a. 1974, Bischoff/Herkommer 1988, Altvater 1976), über die Marxschen Thesen über den "tendenziellen Fall der Profitrate" und der Periodisierung der kapitalistischen Entwicklung (Albritton u.a. 2001),   über die spezifischeren Fragen der historischen Charakterisierung des Fordismus (vgl. immer noch klassisch Aglietta 1976 oder etwa Glyn u.a. 1990 u. kritisch zusammenfassend Boyer 1986 bzw. in weiterführender Perspektive Lipietz 1999) oder des "Spätkapitalismus" (vgl. Baran/Sweezy 1968, Mandel 1972 u. 1978, Armstrong/Glyn/Harrison 1991, Rigby Weber 1996)   bzw. über die Frage, ob es inzwischen ein neues Entwicklungsmodell des "Postfordismus" gibt (vgl. Aglietta 1998a u. b, Boyer 2000, Bischoff 1997) und was das bedeuten kann (vgl. Röttger 1997, Duménil/Lévy 2000)   bis hin zu einzelnen Theoremen aus der neueren, mehr oder minder "neomarxistischen" politischen Ökonomie. In Bezug auf letztere wären etwa zu nennen:
  das Theorem von der 'Profitklemme' (Glyn/Sutcliffe 1972) und dem 'Lohndruck' (Corden 1982),   den Zusammenhängen zwischen Finanziarisierung der Wirtschaft und Massenerwerbslosigkeit(vgl. Grahl 2000), dem Verhältnis von "Realwirtschaft" und Finanzwirtschaft (Germaine 1997, Marterbauer 2000, Aglietta 2002a) bzw. der Eigenständigkeit und Spezifik der Problematik einer Regulierung der letzteren (Aglietta/Orléans 1982, 1998 u. 2002; Wade 2002),   der Bestimmung von Profitrate und Profitabilität (Moseley/Wolff 1992),   der Erklärung des anhaltenden Entwicklungsabstandes zwischen "Norden" und "Süden" (Arrighi/Silver/Brewer 2001),   sowie mit grundlegenden methodischen Fragen der Operationalisierung und Messung zentraler Größen der wirtschaftlichen Entwicklung bzw. eines erhellenden kritischen Umgangs mit der amtlichen bzw. offiziellen Statistik (vgl. Shaik/Tonak 1994, Smith/Ingham 2000).[9] Auch Fragen einer Verknüpfung zwischen diesen Linien einer neomarxistischen politischen Ökonomie und anderen Linien der politischen Ökonomie des 20. Jahrhunderts werden berührt – von der Theorie der technologischen Innovation (Tralli 1987, Beckenbach 2001) bis zur Theorie der "langen Wellen" (Mandel 1983). Indem er immer wieder derartige Problematiken in empirisch zu klärende Fragestellungen übersetzt, entfaltet Brenner ein ebenso weit gespanntes, wie belastbares und doch flexibles Analyseraster (vgl. Dräger 2001, 198ff.) –, auf dessen empirisch reichhaltigen "breiten Schultern" nicht nur theoretische Kontroversen produktiv ausgetragen werden können.[10] Jedenfalls ist es ihm gelungen, die älteren "neomarxistischen" Analysen des "Spätkapitalismus" von ihren geschichtsdeterministischen und ökonomistischen Tendenzen zu befreien, ohne darüber die Gedanken einer komplex aufgebauten langfristig wirksamen und nicht im Handumdrehen auflösbaren spezifischen Krisenproblematik oder die Einsicht in das große Gewicht ökonomischer Prozesse in der "modernen bürgerlichen Gesellschaft" preiszugeben. Zugleich hat er eine exemplarische Analyse der Verschränkung der inneren ökonomischen Entwicklung führender Nationalstaaten wie der USA, Japans und Deutschlands mit weltwirtschaftlichen Konstellationen und Entwicklungen sowie der spezifischen Funktionsweise und Schranken strategischer politischer Eingriffe in diese Prozesse vorgelegt. Kurzum: Es handelt sich um eine Analyse, die in ähnlicher Weise Epoche zu machen verspricht, wie dies einst die von Aglietta vorgelegte empirisch-historische Analyse der langfristigen Entwicklung der US-Volkswirtschaft getan hat. Brenners empirisch-historische Analyse des US-Kapitalismus in der Weltwirtschaft hat inzwischen auch schon eine Reihe von gewichtigen konkurrierenden empirischen Analysen provoziert, welche in der Tat erkennen lassen, dass hier eine durchaus vitale wissenschaftliche Entwicklung in Gang gekommen ist (Duménil/Lévy 1999 a, b u. c, Bonefeld 1999 sowie Shaik 1999, oder Moseley 1999, Zacharias 1999 und Gindin 2001). Als erster Einstieg bietet sich an, das Vorgängerbuch[11] zu der hier vorgelegten Untersuchung, d.h. das unter dem Titel "The Economics of Global Turbulence" erschienene Heft Nr. 229 der New Left Review von 1998 in Erinnerung zu rufen, auf den sich der größte Teil dieser Debatte bezieht.[12] Brenners zentrale These ist es, dass ein anhaltendes, auch durch konjunkturelle Abschwünge nicht bereinigtes Problem von Überkapazitäten und Überproduktion im verarbeitenden Gewerbe den bestimmenden Faktor für die in den 1970er Jahren beginnende Phase der "langen Stagnation" der US-Volkswirtschaft und der Weltwirtschaft bildet, in deren Zentrum sie steht. Und dass auch der US-Aufschwung der 1990er Jahre nicht auf einer umfassenden Bereinigung dieses Problems beruhte und daher – entgegen den optimistischen Prognosen der Propheten der New Economy – zu keinem tragfähigen Wachstum führen konnte. Dieses musste vielmehr schon bald durch die Spekulationsblase an den Börsen stimuliert werden – mit folgenreichen Auswirkungen auf die reale Wirtschaft, vor allem in Gestalt beträchtlicher zusätzlicher Investitionen, durch welche sich schlussendlich dieses Problem der Überakkumulation nur noch weiter verschärft hat. Im zweiten Kapitel dieser Darstellung erhalten wir auch einen Einblick in die wichtigsten thematischen Linien der internationalen Debatte, in die Brenners Untersuchung explizit einzugreifen versucht. Brenner legt den illusionären Charakter der im Mainstream der ökonomischen Debatte verbreiteten Thesen einer beispiellosen Prosperität der USA in den 1990er Jahren sowie der daran anschließenden Mythisierung der "New Economy" als einer Art von ökonomischem "perpetuum mobile" mit breitem Belegmaterial dar. Er kritisiert zugleich aber auch die "fundamentalistische" Diskussionslinie in der marxistischen Tradition, welche den tendenziellen Fall der Profitrate (und damit letztlich auch dessen revolutionäre Überwindung) im Wesen des Kapitalismus selbst verankert sah. Er kritisiert ferner die "Profitklemmen-" bzw. "Lohndruck-Theorie" von Glyn und Sutcliffe, die beide den Fall der Profitrate für ein unabwendbares Entwicklungsgesetz halten. Er kritisiert aber auch die Regulationsschule, die aus der Übergangssituation nach der "Erschöpfung" des fordistischen Entwicklungsmodells "reformistische" Strategien begründete wie etwa Alain Lipietz. Ihre Vorstellung, in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren habe sich das Potenzial der Produktivitätsentwicklung erschöpft, entspreche nicht der historischen Wirklichkeit. Demgegenüber macht er – im Interesse einer sowohl revolutionären, als auch empirisch flexiblen Position – das Argument stark, die neue internationale Konstellation einer verschärften Konkurrenz zwischen führenden kapitalistischen Nationalstaaten sei das zentrale Erklärungsmoment für die zwischen 1965 und 1973 eingetretene Wendung zu einer langen Stagnation, die auf tatsächlich gesunkenen Profitraten beruhte. Gleichzeitig habe die weit fortgeschrittene Kartellierung und Monopolisierung im Weltmaßstab eine Bereinigung im Zuge des Krisenzyklus verhindert, sodass sich die Situation der Überakkumulation überzyklisch immer mehr verschärfte. Im vorliegenden Buch wird diese Analyse vertieft und um die Nachzeichnung der fehlgeschlagenen Krisenlösung in den 1990er Jahren ergänzt. Diese führte dann in die "Blasenwirtschaft", welche keine bloße Propaganda war, aber auch keine wirkliche Lösung der Probleme erbrachte.[13] Angesichts der großen Entfernungen, welche immer noch zwischen den unterschiedlichen großen Linien des neueren marxistischen Denkens liegen (vgl. Wolf 2003), wäre es bereits optimistisch, in der zweiten Brenner-Debatte bereits so etwas wie eine "Neubaustelle" zu erblicken. Ihre breite empirisch-historische Grundlage verspricht aber zumindest weitere produktive Auseinandersetzungen, die sowohl Fortschritte in der Erkenntnis der realen Lage, als auch im Verständnis der theoretischen bzw. der politisch-philosophischen Differenzen bringen werden. [1] Als Einstieg in den Nachvollzug der ersten Brenner-Debatte über die Rolle der englischen Agrarpächter des 14. und 15. Jahrhunderts im historischen Konstitutionsprozess der kapitalistischen Produktionsweise bietet sich der von Ashton/Philpin herausgegebene Sammelband (1985) an.
[2] Das scheint mir die Hauptstoßrichtung des Brennerschen Unternehmens zu sein, also die Lösung des "Wissenschaftlichkeitsproblems" der älteren marxistischen Tradition. Erst über den Gedanken der "Konstruktion von Erfahrung" – in Alltagspraxen, in politischen Kämpfen, aber auch in vielfältigen politisch-administrativen "Apparaten" – wird dies m.E. mit den v.a. in diskursanalytischen Zusammenhängen vorangetriebenen Arbeit an einer Überwindung der 'weltanschaulichen Überfrachtung' der traditionellen Marxismen vermittelbar, der gegenüber Brenner sich zumindest indifferent verhält.
[3] Die polnischen Reformintellektuellen haben sich nach der Generation von Adam Schaff gänzlich aus den Auseinandersetzungen innerhalb des Marxismus zurückgezogen (vgl. exemplarisch Kolakowski 1967). Ähnliches gilt auch für die Entwicklung in Russland, wo erst in den Tagen der Perestrojka eine marxistisch argumentierende Reformintelligentsia auftritt (vgl. Afanassjew 1988).
[4] Das ist in Frankreich z.T. durch die theoretischen Interventionen Louis Althussers oder Michel Foucaults verdeckt worden, während in Deutschland, nach einer ersten Phase, in der die Rezeption dieses Neomarxismus’ für die theoretische Entwicklung bestimmend war (vgl. etwa Dutschke 2000), die scharfen Abgrenzungen von den theoretischen Unschärfen dieser Tradition zur Herausbildung eines westdeutschen und westberliner Marxismus gedient hat.
[5] In der Bezugnahme auf derartige unterschiedlichen Theoriezusammenhänge sollte vermieden werden, sie zu "Schulen" zu verdinglichen, zwischen denen keine sachlichen Auseinandersetzungen mehr möglich sind.
[6] Welche ihrerseits an die ältere polemische Auseinandersetzung anknüpft, welche E.P. Thompson als Vertreter der britischen marxistischen Historikerschule mit den strukturalistischen "Theoretizisten" Barry Hindess und Paul Hirst geführt hat, indem er Louis Althusser attackierte (Anderson 1980).
[7] Diese Bezugnahme stellt auch den weiteren Zusammenhang zu den Fragestellungen des "analytischen Marxismus" her – insoweit dieser darauf besteht, in allen Fragen der epistemologischen Reflektion und Analyse radikal zeitgenössisch zu sein (vgl. Römer 1986).
[8] Eine konkretere Auffächerung der vielfältigen inhaltlichen Anknüpfungspunkte dieser zweiten Brenner-Debatte leistet Dräger 2001.
[9] Dabei ist davon auszugehen, dass in den vielfältigen Erfassungs- und Steuerungsmechanismen, welche sich mit den Instrumentarien einer ‚kapitalistisch bestimmten’ Wirtschaftspolitik herausgebildet haben, durchaus reale Prozesse getroffen werden – wenn auch kritisch zu untersuchen bleibt, welche Selektivitäten, welche Verkehrungen von Wirkungszusammenhängen und welche blinden Flecken dabei auftreten. Jedenfalls kann seit der beträchtlichen Entwicklung, welche diese amtliche Wirtschaftsstatistik seit der Praktizierung einer strategischen Wirtschaftspolitik seit den 1930er Jahren genommen hat, nicht mehr schlicht unterstellt werden, in ihren Messgrößen kämen nur "Illusionen der kapitalistischen Oberfläche" zum Ausdruck.
[10] Ein Beispiel für eine produktive Anknüpfung an die Befunde Brenners bietet etwa – mit einem starken Akzent auf den verfolgten politischen Absichten der US-Regierungen – Gowan 1999.
[11] Das seinerseits durch entsprechende Artikel vorbereitet worden ist: Brenner 1995 (vgl. Malloy 1995)
[12] Zu diesem Zwecke ist die im Web unter www.rosalux.de/Einzel/empire/index.htm) zu findende sorgfältige Zusammenfassung hilfreich. – Auf Seiten Brenners wurde die Publikation des hier vorgelegten Buches durch zwei weitere Artikel vorbereitet: Brenner 2000 u. 2001. Einige Diskussionsbeiträge beziehen sich inzwischen auch schon auf dieses Buch. Sie sind in der Bibliographie durch "rez. Boom" gekennzeichnet.
[13] Eine zweite Übersicht verschaffen die Einleitungsartikel zu entsprechenden "Symposien" (publiziert in Against the Current, in Challenge, in Historical Materialism, in South Asia) sowie die Repliken, die Brenner zu einzelnen Kritiken bzw. zu derartigen Symposien verfasst hat. Michael Hardt (1999) etwa erinnert an die Auseinandersetzung zwischen Regulationisten, Weltsystemtheoretikern und der Tradition Brenners darüber, was eigentlich wirklich in dem unbestritten wichtigen Übergang von den 1960er in die 1970er Jahre geschehen ist: ein Übergang aus dem Fordismus heraus zu einem anderen Entwicklungsmodell, eine Auflösungskrise der US-Hegemonie, eine Krise der etablierten Formen kapitalistischer Profitproduktion – bzw. wie ist das Verhältnis dieser Dimensionen zu denken? Dabei betont Hardt die diesen Diagnosen zugrundeliegenden unterschiedlichen disziplinären Perspektiven aus Wirtschaftswissenschaften und politischen Wissenschaften und schlägt eine korrigierende Ergänzung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vor, wodurch er zugleich eine Brücke andeutet zu der um "Empire" geführten Debatte. – Einen durchaus anregenden Zugang eröffnen auch die inzwischen vorliegenden ersten Berichtsartikel über diese zweite Brenner-Debatte, die charakteristischerweise an der Peripherie verfasst wurden: Cheng 2000, Katz 2000/01, Dräger 2001.

Leseprobe 3



Inhalt:

Liste der Tabellen und Schaubilder
Anmerkung des Autors
Anmerkungen des Übersetzers
Vorwort
Einführung zur deutschsprachigen Ausgabe (Leseprobe)
Einführung: Gestern noch...
Kapitel 1
Die anhaltende Stagnation von 1973 bis 1993
Kapitel 2
Die wirtschaftliche Wiederbelebung der USA
Kapitel 3
Japan und Deutschland von 1980 bis 1995
Kapitel 4
"Das umgekehrte Plaza-Abkommen" als Wendepunkt
Kapitel 5
Die Spekulationsblase beginnt zu wachsen
Kapitel 6
Die Krise als Kettenreaktion
Kapitel 7
Die Fed eilt zur Rettung
Kapitel 8
Der Vermögenseffekt und seine Grenzen
Kapitel 9
Umriss und Grundzüge des US-Aufschwungs
Kapitel 10
Vom Ende der Spekulationsblase zum Ende des Aufschwungs
Kapitel 11
Die Aussichten – "Bei uns kann das doch nicht passieren!"
Anhang I:
Profitraten und Produktivitätswachstum: Definitionen und Quellen
Anhang II:
Hauptquellen der Daten
Literatur
Frieder Otto Wolf (Leseprobe)
Zur zweiten "Brenner-Debatte"
Nachwort und bibliographische Angaben

Zurück